So viele Jahre
liebe ich dich
(R: Philippe Claudel)
Originaltitel: Il y a longtemps que je t'aime, Frankreich / Deutschland 2008, Buch: Philippe Claudel, Kamera: Jérôme Alméras, Schnitt: Virginie Bruant, Musik: Jean-Louis Aubert, mit Kristin Scott Thomas (Juliette), Elsa Zylberstein (Léa), Serge Hazanavicius (Luc), Laurent Grévill (Michel), Frédéric Pierrot (Captain Fauré), Lise Ségur (P’tit Lys), Jean-Claude Arnaud (Papy Paul), Mouss Zouheyri (Samir), Souad Mouchrik (Kaisha), Catherine Hosmalin (Frau Balboukian, Bewährungshelferin), Claire Johnston (Mutter von Juliette und Léa), Olivier Cruvellier (Gérard), Lily-Rose (Emélia), Kinostart: 13. November 2008
Phillippe Claudel, Jahrgang 1962, engagierte sich lange Zeit sozial und unterrichtete u. a. behinderte Kinder und Gefängnisinsassen. Davon berichtet auch sein erstes Buch Das Geräusch der Schlüsselbunde. Auch in seinem wohl bekanntesten Roman Die grauen Seelen (2003) geht es unter anderem um Lehrer und Kinder. Zufällig habe ich diesen Roman sogar gelesen, und weiß, wie irreführend diese Inhaltsangabe ist, aber im Zusammenhang mit seinem Regiedebüt (nachdem er bei einigen Verfilmungen seiner Bücher sowohl als Drehbuchautor als auch bei Dreharbeiten “reinschnuppern” durfte) passt diese Verkürzung des Inhalts sehr gut. Mittlerweile arbeitet Claudel auch als Dozent für Kulturanthropologie und Literatur in Nancy, und es ist auffällig, wie sich viele der hier angesprochenen Themen in dem bei der Berlinale mit dem Publikumspreis der Berliner Zeitung ausgezeichneten Film wiederfinden.
Wie es heutzutage vor allem über Ellipsen sehr häufig passiert, erzählt auch Il y a longtemps que je t’aime eine Geschichte, die sich für den Zuschauer erst langsam eröffnet. Zunächst sieht man Kristin Scott Thomas (die seit einiger Zeit in Frankreich wohnt, aber dennoch eher im Zusammenhang mit Filmen wie The English Patient oder The Horse Whisperer eingeordnet wird) als Juliette, eine verhärmte, kettenrauchende Frau mit schweren Schatten unter den Augen, wie sie von ihrer jüngeren Schwester Léa (Elsa Zylberstein) abgeholt wird. Um jetzt nicht zuviel zu verraten, nur die Eckpunkte, die wahrscheinlich in jeder noch so kurzen Beschäftigung mit dem Film erwähnt werden dürften: Juliette saß 15 Jahre in Haft, und wie an einer Stelle jemand bei einem Bewerbungsgespräch mal clever kombiniert, muss sie für so eine hohe Strafe wohl etwas sehr Schlimmes getan haben. Léa, die als Literaturdozentin arbeitet, verheiratet ist, und zwei vietnamesische Mädchen adoptiert hat, nimmt die Schwester, deren Abwesenheit ein großes Loch in ihr Leben gerissen hat, vorerst bei sich auf, auch wenn ihr Gatte Luc der Sache (und Juliette) sehr skeptisch gegenüber steht, und in ihr eine Gefahr für das Wohl der Familie vermutet. Wie auch der Zuschauer ...
Die allmähliche Annäherung der Schwestern, die Wiedereingliederung in die Gesellschaft und natürlich das Geheimnis hinter Juliettes Straftat sind der Kern des Films. Hierbei lernen wir diese Frau, die sich der Welt nicht öffnen will, gaaanz langsam kennen. Wir erfahren davon, dass die Eltern Juliettes nach der Urteilsverkündung nichts mehr mit dieser Tochter zu tun haben wollten, und verboten auch der seinerzeit halbwüchsigen Léa den Umgang mit ihrer Schwester. Léa wird sogar wie ein Einzelkind aufgezogen, was Juliette über die Grausamkeit von Eltern sinnieren lässt, und wir als Zuschauer fragen uns, was das soll, wo Juliette doch offensichtlich noch etwas viel grausameres verübt haben muss.
Am Film ist eigentlich nicht viel auszusetzen. Die Darsteller sind hervorragend, die Geschichte ist mitreißend, man fühlt mit dem Schicksal der Schwestern mit, bleibt aber immer auf der Hut ob des Geheimnisses. Und hier kommt der Punkt, wo einerseits der Film zu clever um seiner selbst konstruiert ist, und er andererseits aber auch Fehler macht, um die Spannung aufrecht zu erhalten. Ähnlich wie in meiner etwas frisierten Kurzbiographie des Autors dreht sich im Film alles um Juliette und ihr Problem. Überall tauchen Zäune auf, sogar innerhalb eines Schwimmbads gibt es ein seltsames Gefängnis, Leute sind in ihren Körpern gefangen, Gemälde in Rahmen, Léa gerät beim Kolloquium in Rage darüber, dass Dostojewski doch eigentlich gar keine Ahnung von Mord hat, während ihr Kollege Michel erwähnt, dass ihre akademische Karriere darunter leidet, dass sie keine Ellenbogenmentalität hat, sie einfach “kein Killer” ist. Während mir in einem Film wie Atom Egoyans The Sweet Hereafter das Wiederholen der Filmthemen über die Geschichte vom Rattenfänger von Hameln wie ein Geniestreich erscheint, wirkt hier zu vieles konstruiert. Die Adoptivtochter, die mit ihrer Tante das Klavierspiel übt wie einst die Mutter, Lucs Vater, der nach einem Schlaganfall nicht mehr spricht, aber weiterhin liest, die Krankheit der Mutter von Juliette und Léa (auch, wenn das eine ziemlich großartige Szene ist), die Verbindung des Familiennamen Fontaine zur Sehnsucht eines Polizeibetreuers nach dem mysteriösen Fluss Orinoco, Michels Vergangenheit als Lehrer im Gefängnis und sein darauf aufbauendes Verständnis von Juliette (ein paar zuviele autobiographische Züge), und auch die kleinen Details am Rande wie die Küchenhilfe Marie-Paule, die immer alles kaputt macht (damit Juliette wie eine arbeitssame Geschirrspülerin und bessere Lösung aufgebaut werden kann) oder der aufdringliche Student Bakamale, der einerseits den Arbeitshintergrund fassbar machen soll, andererseits aber auch wie eine unterschwellige Bedrohung wirkt, die von anderen Details ablenken soll. Selbst Léas Vorliebe für Lubitsch und ein Gespräch über Eric Rohmer und Literatur, oder so ein kleines Detail wie Léas Spitzname als Mädchen, alles wirkt zu clever, und wirkt deshalb (zumindest bei mir) nicht so gut, als wenn die Geschichte ein paar mehr Ecken und Kanten gehabt hätte. Und die einzige wirkliche Kante, wenn Juliette ihre “Adoptivnichte” unnötig anschreit, wirkt rückwärtig betrachtet wie ein plumper narrativer Fehler (mehr kann ich an dieser Stelle leider nicht dazu sagen, ohne die Gefahr einzugehen, Details zu verraten). Und deshalb ist dieser Film, der wirklich großartig hätte sein können, aus meiner Sicht nur sehenswert. Als Schriftsteller weiß Claudel seine Fährten weitaus besser zu verbergen. Aber vielleicht ist ihm ja dennoch eine große Karriere als Regisseur beschieden. Das Potential ist jedenfalls gegeben.