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Dezember 2004
Benjamin Happel
für satt.org

En garde
D 2004

Filmplakat

Buch
und Regie:
Ayse Polat

Kamera:
Patrick Orth

Schnitt:
Gergana Voigt

Darsteller:
Maria Kwiatkowsky (Alice), Pinar Erincin (Berivan), Luk Piyes (Ilir), Antje Westermann (Alices Mutter), Geno Lechner (Schwester Clara), Julia Mahnecke (Martha), Jytte-Merle Böhrnsen (Josefine)

94 Min.

Kinostart:
9. Dezember 2004

En garde


Filmszene
Filmszene
Filmszene
Filmszene
Filmszene

Schon der Beginn schafft es, den Spannungsbogen zu eröffnen: Alice (Maria Kwiatkowsky) sitzt an einem Tisch und spricht mit ihrem Gegenüber. "Ich wollte nicht, dass sie stirbt", sagt sie, und von da an sind all die Rückblenden, in denen die Geschichte von Alice erzählt wird, überschattet vom Wissen um den Tod, der noch kommen wird. Das Coming-of-age ist eigentlich ein Genre, das von der Entdeckung des Lebens erzählt - und das frühe Wissen um den Tod, der am Ende von En garde stehen wird, schafft es, dem Genre eine angenehm dunkle Seite zu verleihen. Ähnlich hat das Peter Jackson gemacht mit Heavenly Creatures, auch dort war das Erwachsenwerden zweier Mädchen mehr als nur symbolisch mit Blut behaftet. Diese dunkle Seite des Genres, sie hat einen positiven Nebeneffekt: Jene Elemente in En garde, die leicht hätten zum Klischee gerinnen können – die Schutzgelderpressung unter den Mädchen im Heim, die Drogen, die Liebe – sie bleiben im Hintergrund und werden angenehm unaufgeregt, fast beiläufig erzählt. Dass En garde immer ein kleines Stück neben den Erwartungen bleibt, die man an ihn stellt, ist ein großes Verdienst. Haneke, Kubrick und Lynch nennt Polat im Interview als Vorbilder. Und an einigen Stellen, da blitzt er auch durch, der groteske Humor eines David Lynch. Wenn etwa Alice ihre Mutter besuchen soll – oft sehen sie sich nicht – um ein Erbstück abzuholen, dann liegt dort ein riesiger Hirschkopf auf dem Tisch, samt Geweih. Wenn Alice mit diesem ererbten Ungetüm durch die Straßen zurück ins Mädchenheim läuft, dann führt das groteske Nebeneinander von eigentlich konventioneller Erzählung und jenem Hirschkopf, der sich in das Filmgewebe eingeschlichen hat wie ein Parasit, zu einem Bruch, der wie der zu Beginn angekündigte Tod den Film unterwandert und einen all die Momente vergessen lässt, an denen man einen Sturz ins allzu Didaktische befürchten könnte.

Der Eintritt in die Welt der Erwachsenen ist für Alice eng verbunden mit dem Entdecken ihrer Sinne: "Alles hat mit meinen Ohren angefangen", erzählt sie ihrem Gegenüber und dem Zuschauer. Ihre Ohren hören nicht zu wenig, sondern zu viel: Das leise Pfeifen aus der Lunge eines Erkälteten schon hindert sie am Einschlafen, eine Baustelle auf dem Schulweg wird zur unerträglichen Tortour und zum Fechten, jenem Sport, der dem Film seinen Titel gibt, zum Fechten geht sie nur wegen Berivan (Pinar Erincin). Berivan wartet auf die Genehmigung ihres Asylantrages, die Freundschaft zu ihr befindet sich so in einem Zustand der ständigen Schwebe – vielleicht muss sie schon am nächsten Tag das Land verlassen. Alices Augen sind noch nicht so weit wie ihre Ohren, deren überentwickelte Sinnlichkeit ihr zur Last wird – sie sieht wenig, zu dominant ihr einer Sinn, zu wuchtig der Eindruck der Geräusche. Sie sieht nicht die Freundschaft, wenn sie ihr angetragen wird und sieht nicht die Gefahr, in die sie jene Freundschaft bringt. Patrick Orth, der schon in Yüksel Yavuz' Kleine Freiheit für wundervolle Bilder gesorgt hat und zuletzt für Ulrich Köhlers Bungalow hinter der Kamera stand, findet die passende visuelle Umsetzung für Alices Entdeckung ihrer Sinne: Eine Einstellung aus der Sicht der Hauptfigur ist da völlig überzogen von einem schwarzen Netz, erst nach einer Weile realisiert man, dass es sich um jene Maske handelt, die sie beim Fechten trägt. Das Sehen muss sie noch lernen, die Maske erst abnehmen.

Jene Instanzen, die beim Finden des Weges ins Leben helfen sollten, versagen kläglich: Das katholische Mädchenheim, in dem Alice lebt, ist ebenso überfordert wie Alices leibliche Mutter, selbst noch ein Kind als sie schwanger wurde. Eines der wenigen Treffen der beiden symbolisiert dann all das Unverständnis, das die Mutter ihrer Tochter entgegen bringt. In einem Maniküre-Salon arbeitet sie, und Alice verlässt die wenig erfreuliche Zusammenkunft ohne freundliche Worte gehört zu haben, dafür mit glänzenden künstlichen Nägeln – inklusive falscher Diamanten. Ihre Mutter bringt ihr nicht bei, die Welt zu sehen, sondern das, was andere sehen sollen, zu fälschen. Die Diamantennägel sind grotesk fehl am Platz an Alices Mädchenhänden.

Ihre Ersatzfamilie findet Alice dann – gezwungenermaßen – in ihrer Freundschaft zu Berivan. Schwierig wird natürlich auch diese Beziehung, denn als Berivan beginnt, einen Freund zu treffen, droht Alice ein neuerlicher Verlust. Am Ende dann wird Alice eines gelernt haben von ihrer Freundin: Eine Postkarte hat diese ihr geschenkt mit einem Baum darauf. Ob es jedoch ein heiliger Baum ist, erzählt sie Alice, kann man erst sagen, wenn man ihn aufsucht. Wenn ein See neben ihm ist, dann erfüllt der Baum Wünsche. Die Wahrheit über die Dinge, scheint der Film zu erzählen, sie liegt nicht im Abbild, sondern daneben, im Off. Was Alice in ihrem Gehörsinn bereits symbolisch vollzogen hat – das Hören all jener Dinge, die im Off geschehen, das hat sie mit Berivans Hilfe so am Ende von En garde auch über das Sehen gelernt.