Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen


 

März 2003
Thomas Vorwerk
für satt.org

All or Nothing
GB/F 2002

All or Nothing (R: Mike Leigh)

Buch
und Regie:
Mike Leigh

Kamera:
Dick Pope

Schnitt:
Lesley Walker

Musik:
Andrew Dickson

Darsteller:
Timothy Spall (Phil), Lesley Manville (Penny), Alison Garland (Rachel), James Corden (Rory), Ruth Sheen (Maureen), Marion Bailey (Carol), Paul Jesson (Ron), Sam Kelly (Sid), Helen Cooker (Donna), Sally Hawkins (Samantha)

All or Nothing


All or Nothing (R: Mike Leigh)Man kennt und schätzt Mike Leigh für seine Schilderungen des Alltagslebens von Personen, die man sicher nicht in der U-Bahn ansprechen würde. Mal wird daraus schonungsloser Realismus wie in "Naked", doch in letzter Zeit ist er etwas lebensbejahender in der Aussage seiner Filme geworden, manche Kritiker warfen "Secrets and Lies" sogar vor, daß Happy End sei an den Haaren herbeigezogen …

In welche Richtung das Ende von "All or Nothing" in dieser Beziehung zielt, werde ich hier nicht verraten, aber zur Beruhigung: Die Protagonisten werden weder mit nichts abgespeist noch mit "allem" belohnt. All or Nothing (R: Mike Leigh)

In der englischen Version von Berlin-Hohenschönhausen (besonders überzeugend: die kränklichen Grünflächen) schlagen sich drei Familien mehr schlecht als recht durch. Die Jobs liegen zwischen Supermarktkassiererin, Taxifahrer und Putzfrau in einem Altersheim, die Probleme zwischen Alkoholismus, ungewollter Schwangerschaft, Fettleibigkeit und Einsamkeit, die Lebenseinstellungen zwischen Agression, Resignation und Lethargie. Timothy Spall, der in "Secrets and Lies" noch einen immerhin erfolgreichen Portraitfotographen spielte, ist hier Phil, ein dicklicher unrasierter Taxifahrer, der erst aufsteht, wenn die besten Touren schon gelaufen sind. Doch dieser Job ist immer noch besser als mit seiner Familie gemeinsam Mittag zu essen. Die verstockte Tochter und besonders der auf dem Sofa lümmelnde, Unflätigkeiten von sich stoßende Sohn bringen seine Frau an den Rand der Verzweiflung, Phil hat längst nicht mehr die Kraft, daran etwas zu ändern, doch schließlich wird er zur Aktion gezwungen … All or Nothing (R: Mike Leigh)

Trotz der üblichen Themen, die sich gegen Ende dramatisch zuspitzen, ist der neue Film von Leigh über lange Strecken vor allem wahnsinnig witzig. Wie sich die Charaktere gegenseitig das Leben zur Hölle machen, ist für den unbeteiligten Beobachter durchaus amüsant anzusehen. Man ahnt zwar, daß einem das Lachen früher oder später im Halse stecken bleiben wird, aber einige Episoden wie die mit der französischen Passagierin sind einfach urkomisch. Ob man den Film wegen dieses Widerspruchs als Tragikomödie sehen sollte, wage ich zu bezweifeln, denn Leigh, der sich in der urbritischen Tradition von Geoffrey Chaucer sieht, nutzt den Humor, um uns auf die Seite seiner Protagonisten zu ziehen, wodurch wir ihre Probleme umso besser nachvollziehen können. Und die Missgeschicke, die seine Figuren ereilen, sind nicht so sehr tragisch, sondern vor allem allzu natürlich. Aber bei diesem Film unterscheidet sich die Auffassung über solche Fragen wohl bei jedem einzelnen Betrachter.

Doch jene Zuschauer, die über das Leben (auch das eigene) eher lachen können, als daran zu verzweifeln, werden den Film relativ beschwingt verlassen …