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7. Mai 2010
Felix Giesa
für satt.org

  Hisashi Sakaguchi: Ikkyu
Hisashi Sakaguchi: Ikkyu
Aus dem Japanischen von Jürgen Seebeck
Mit einem Nachwort von Stephan Schumacher
Lettering von Janet Riedel
Carlsen 2009
4 Bände, zusammen 1.200 Seiten
pro Band 12,90 €
» Carlsen
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Hisashi Sakaguchi: Ikkyu

Nachdem mit „Dragonball“ vor mehr als zehn Jahren der große Manga-Boom in Deutschland einsetzte, konnte man den Eindruck gewinnen, dass es im Manga-Bereich lediglich klischeehafte Massenware gebe. Eben der bekannte Mix aus Fantasy, Science Fiction, Erotik und Boys Love ließ die Regale in den Comicläden überquellen. So wichtige Serien wie „Akira“, „Crying Freeman“ oder „Mother Sarah“ waren da schon lange abgeschlossen und das anspruchsvolle Manga-Segment schien brach zu liegen. Natürlich gab und gibt es actionlastige Serien wie „Lone Wolf & Cub“, die vergangenes Jahr sogar wirklich abgeschlossen werden konnte, oder „Vagabound“, aber im Prinzip war es das. – Bis auch hierzulande mit Jiro Taniguchi der große Entschleuniger des Manga entdeckt wurde. Seither erscheinen jedes Jahr gleich mehrere Bände von ihm. Das mag auch den Verlagen langsam etwas eintönig sein, denn anscheinend ist nun die Zeit reif, auf dem deutschsprachigen Markt auch avanciertere Mangas zu platzieren. So wird derzeit Osamu Tezuka „neu“ entdeckt (in Bälde auf satt.org eine Besprechung zu „Kirihito“ durch Christopher Pramstaller), und man muss den Verlagen dankbar sein, dass sich endlich dem umfangreichen Werk des Manga-Ahnherren angenommen wird.

Es fällt jedoch auf, dass gerade Tezuka und Taniguchi jeweils auf der Welle der Graphic Novelisation mitschwimmen und davon profitieren. Daher erscheinen diese Titel auch im Format etwas vergrößert und teilweise auf eine westliche Lesart gespiegelt. Das sie dadurch mehr Aufmerksamkeit erhalten, ist wünschenswert, dass aber direkt alle anderen Mangas im herkömmlichen Taschenbuchformat kaum wahrgenommen werden, ist hingegen ein Trauerspiel. „Ikkyu“ von Hisashi Sakaguchi wäre zu wünschen, dass es großen Erfolg hat. Die vierbändige und seit kurzem komplett auf Deutsch vorliegende Serie ist ein Meisterwerk des biographisch-historischen Erzählens.

Die verbürgte Figur des Ikkyū Sōjun war ein japanischer Zen-Meister im 15. Jahrhundert. Er gilt als einer der größten Dichter seiner Zeit und wird besonders wegen seiner rebellischen Haltung gegenüber dem etablierten System des Buddhismus mit seinen unterschiedlichen Tempelrängen, Riten und Bräuchen verehrt. Besonders in seiner Lyrik offenbart er sich als großer Mystiker, der die Erleuchtung im Alltagsleben, in der Natur oder in Bordellen auf der Spur ist.

In neuerer Zeit erstmals populär wurde die Figur 1975 durch die fast 300 Folgen umfassende Serie „Ikkyū-san“, eine der beliebtesten Anime-Serien aller Zeiten. Verantwortlich für die Idee zeichnet ebenfalls Hisashi Sakaguchi, der zu Beginn seiner Karriere im Animationsstudio von Osamu Tezuka arbeitete, womit sich ein Kreis dieser Rezension schonmal schließt. War diese ihrem äußeren Erscheinungsbild nach sehr dem Stil ihrer Zeit geschuldet kindlich-naiv, so verfolgte Hisashi Sakaguchi zwanzig Jahre später einen sehr viel realistischeren Anspruch.

Akribisch ist das Wissen über das mittelalterliche Tempelsystem Japans in die Handlung eingearbeitet, wenn der junge Ikkyu seine Laufbahn als Mönch beschreitet. Fällt so in den ersten Bänden ein kritisches Licht auf das teils verlogene und dekadente dortige Leben, wird zum Ende hin besonders das alltägliche Leben der damaligen Zeit in den Fokus genommen. Ikkyu entscheidet sich gegen eine Karriere im Tempel und lebt fortan unter Bauern, Bettlern und Ausgestoßenen. In solchen Episoden erinnern die Bilder immer wieder an „Lone Wolf & Cub“, wenn Vater und Sohn gemeinsam bei ebensolchen Menschen unterkommen; wie auch sie scheint Ikkyu einen Zwischenweg zu beschreiten. Im Gegensatz zu japanischen Filmen der 1950er und -60er Jahre, wie etwa Kurosawas „Shichinin no samurai“ (dt. „Die sieben Samurai“) oder „Yōjimbō“, aber auch „Ugetsu monogatari“ (dt. „Ugetsu – Erzählungen unter dem Regenmond“) von Kenji Mizoguchi wird hier ebenfalls eine ärmliche (Land-)Bevölkerung abgebildet. Das Erscheinen könnte jedoch nicht unterschiedlicher sein. Sind die Filmsets regelrecht aufgeräumt und sauber’, wird das Leid der Menschen durch Hisashis streckenweise rauen, karikaturenhaften Zeichnungen regelrecht auf der Seite greif- und dadurch erfahrbar.

Eine Metapher für Ikkyus Bedeutung für die japanische Kultur und seine Verankerung im Kulturprozess seiner eigenen Epoche findet Hisashi neben der Verwendung von Gedichten in der Gleichführung der Handlung mit dem Schicksal des großen Meisters des Nō-Theaters, die beide, aus unterschiedlichen Gründen, Opfer des Shogunats wurden.

So vielschichtige und doch klar erzählte Comics wie „Ikkyu“ sind selten, Mangas dieser Art gibt es sicherlich noch viele zu entdecken.