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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen





21. Januar 2010
Felix Giesa
für satt.org

Gebt den Erwachsenen ihre Comics zurück

Es ist seit jeher ein vielgehörtes Klischee, dass Comics nur etwas für Kinder seien, und stillschweigend wird gleich mit behauptet, dies wäre auch immer schon so gewesen. Allerdings entspricht das natürlich nur der halben Wahrheit, denn Comics richteten sich bei ihrem Auftauchen, als Zeitungsbestandteil, an eine erwachsene Leserschaft. Soziokulturelle und tagespolitische Begebenheiten fanden sich in den ersten Comicstrips und offenbaren somit eine historische Nähe zur Karikatur. Erst im Laufe der folgenden Jahre entstanden Strips, deren Sujets sich nun auch gezielt an Kinder richteten. Das überraschende an dieser Aneignung durch die Kinder ist, dass sie der Entstehung einer eigenständigen Kinder- und Jugendliteratur gleicht. Hatte die Kinderliteratur in ihren Anfängen lediglich eine Erbauungs- und Lehrfunktion inne, selbstverlorenes Lesen wurde schließlich als etwas Schädliches erachtet, so mussten junge Leser auf Erwachsenenliteratur zurückgreifen, wenn sie etwas anderes lesen wollten. Ein frühes Beispiel, wie hierauf vermittels Bearbeitung für die Jugend reagiert wurde, ist Daniel Defoes „Robinson Crusoe“. Dieser erschien bald nach seiner Veröffentlichung in zahlreichen Umarbeitungen und Kürzungen und wurde in der Folge zu einem Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur.

Ende des Jahres 2009 erschienen hierzulande zwei Comics aus dem französischen Sprachraum, in denen sich kinderliterarische Topoi wiederfinden. Die Comics selber richten sich jedoch keineswegs mehr an eine kindliche Leserschaft. Es überrascht kaum, dass eine Robinsonade darunter ist.

  Kerascoët und Fabien Vehlmann: Jenseits
Kerascoët und
Fabien Vehlmann:
Jenseits

Aus dem Französischen
von Kai Wilksen.
Lettering von Dirk Rehm.
Reprodukt 2009
96 Seiten, 18 Euro
» Reprodukt
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Robinsonne in der schönen Dunkelheit

Mit „Jenseits“ verlegt Reprodukt einen der ganz heißen Favoriten auf den diesjährigen Preis für das beste Album in Angoulême. Gezeichnet wurde der Comic von Zeichner-Duo Kerascoët (Marie Pommepuy und Sébastien Cosset), das Szenario stammt von Pommepuy und Fabien Vehlmann. Was auf den ersten anderthalb Seiten wie eine betuliche Teeparty unter niedlichen Cartoonfiguren beginnt, entpuppt sich im weiteren Verlauf als eine böse Geschichte von Moral, Doppelmoral und schonungsloser Bloßstellung der menschlichen Psyche. „Jenseits“ greift die Vorstellung kleiner Kinder auf, ihre Körper seien von kleinen Menschlein bevölkert (ein bisschen so, wie man es von „Es war einmal ... das Leben“ kennt). Was nun passiert, wenn der Mensch stirbt, führt der Comic vor Augen: der Lebensraum und Transporter ist zerstört, die kleinen Menschlein sind gestrandet. Es folgt, was man zur Genüge aus den Gruppenrobinsonaden der Jugendlektüre von Ballantynes „Coral Island“ bis zur modernen Supense Version der Fernsehserie „Lost“ kennt: Notbehausungen müssen geschaffen werden, Nahrung muss gesucht werden. Dort wie hier finden sich natürlich sofort Alphawesen, welche die Koordination und Leitung übernehmen. Im Comic ist das die kleine und reichlich naive Aurora, welche sich mit der Geduld und Hingabe einer Mutter Theresa um die kleinen Cartoonwesen kümmert und es sogar schafft, sich mit den „Nachbarn“, den Tieren des Waldes, anzufreunden (das es jedoch wie bei „Coral Island“ mit den Kannibalen der Insel zu einem Eklat kommen muss, ist schnell klar). Ähnlich wie Robinson, der Gerätschaften aus dem gesunkenen Schiff bergen kann und den Überlebenden des Flugzeugsabsturzes bei „Lost“, welche Teile der Maschine nutzen, so nutzt auch Robinsonne Utensilien ihres gestrandeten Vehikels. Nur dass es sich hierbei eben um ein Mädchen handelt.

Doch wie bereits angedeutet, ist dieses zu Beginn der Handlung verstorben. Kerascoët finden für ihre Bilder einen sehr expressionistisch-naturalistischen Stil, welcher eine starke Naturverbundenheit offenbart. Weiche Wasserfarben geben dem Band einen jahreszeitlichen Rahmen, beginnend mit satten Frühlingsfarben, sommerlich-grellem Leuchten, herbstlichem Glühen und kaltem Winter. Auf der direkten Bildebene zeigt sich dies, wenn immer wieder in Anschnitten das tote Mädchen gezeigt wird und dabei der voranschreitende Verwesungsprozess zu erkennen ist. Das sich hierbei beim Leser einstellende mulmige Gefühl wird durch ein Gewusel von Maden, und später Fliegen, noch erheblich verstärkt. Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass der kinderliterarische Einfluss überschritten wurde. Zu dem Grauen über das tote Mädchen gesellt sich noch die Ungewissheit über dessen Todesursache. Immer wieder taucht ein Riese in der Szenerie auf; eines der Wesen hat einen Fiebertraum von einem Mädchen, welches der Leiche gleicht, das im frühlingshaften Wald eingenickt ist. Ob es einen Zusammenhang gibt, erfährt der Leser nicht. Vermutungen werden schnell obsolet, denn immer mehr wird klar, dass herkömmliche Moralvorstellungen von den Überlebenden sukzessive abgelegt werden.

So das mit fortschreitender Handlung der Einfluss eines der wichtigsten Romane des 20. Jahrhunderts durchscheint, William Goldings „Lord of the Flies“. Die kulturpessimistische Gesellschaftskritik liest sich als Gegenentwurf zur calvinistischen Sendungsgeschichte „Coral Island“, in welcher die gestrandeten Jungen jegliche erstrebenswerten Tugenden der viktorianischen Epoche erlangen. Nicht so bei Golding, der, vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, den Menschen aufgrund seines Handelns zum Scheitern verurteilt sieht. Im Roman wird diese Auffassung durch Jacks Gruppe veranschaulicht, deren atavistisches Treiben sämtliche Überlebenden beinahe in den Tod treibt. In „Jenseits“ ist es nun nicht mehr das kriegerische Handeln einer Männerclique, sondern Auroras Heilsbegehren wird durch die narzisstische Stella unterwandert. Dieser gelingt es mit ihren hohlen Phrasen, die an das süßliche Geschwafel von Castingshows erinnern, nach und nach alle Überlebenden auf ihre Seite zu ziehen; das Stella dabei selber nur wie ein dummes Kind wirkt, welcher den Heidi Klums dieser Welt nacheifern will, wirft einen düsteren Blick auf die Mediengesellschaft.

  Winshluss: Pinocchio
Winshluss: Pinocchio
Aus dem Französischen
von Kai Wilksen.
Lettering von Céline Merrien.
avant 2009
192 Seiten, 29,95 Euro
» avant
» amazon


Pinocchio Boy

Was „Jenseits“ für dieses Jahr zu wünschen ist, gelang Winshluss‘ Adaption von Carlo Collodis „Pinocchio“ bereits im vergangenen Jahr: es wurde als bestes Album in Angoulême ausgezeichnet. Wie auch „Jenseits“ ist Winshluss Comic keineswegs mehr kindertauglich, dient der Stoff Vincent Paronnaud, so Winshluss bürgerlicher Name, doch viel eher einer visuellen Dekonstruktion der allgemein bekannten Bilder Pinocchios, die sich in einem überbordenden apokalyptisch-subversiven Bilderstrudel offenbart.

War „Pinocchio“ ursprünglich als Fortsetzungsroman entstanden, legte Collodi nach Abschluss bald eine Buchfassung vor. In Italien avancierte der Roman umgehend zum Klassiker, was natürlich eine Vielzahl Nachahmer nach sich zog. Bei den Übersetzungen wurde oftmals eine Freiheit bis hin zur Nachdichtung an den Tag gelegt, so dass kaum der Urstoff ausgemacht werden konnte. Bis schließlich 1940 Walt Disney mit seinem zweiten abendfüllenden Trickfilm „Pinocchio, das hölzerne Bengele“ inhaltlich und vor allem visuell den Stoff vereinheitlichte. Es kann sicherlich gesagt werden, dass vor allem diese Fassung für viele den Referenzrahmen für die Figur des Pinocchio darstellt. Verschleppt wurden dabei besonders die häufig düsteren Themen der Urfassung. In seiner Version des Pinocchio-Stoffes räumt Winshluss vollständig mit der disney‘schen Verniedlichung auf, bedient sich dabei aber geschickter Weise dessen Figureninventar.

Hier nun entsteht Pinocchio nicht als Holzpuppe aus einem sprechenden Stück Holz, sondern Geppetto designt ihn als infernalische Kriegsmaschine, mit welcher er sich beim Militär anzubiedern gedenkt – um endlich das große Geld zu machen. Doch während der Erfinder in der Kaserne vorstellig wird, erfährt Pinocchio eine Initiation durch Geppettos Frau, welche schnell klar macht, in welch‘ dunklen Abgründe Winshluss seine Figur zu schicken gedenkt. Das Pinocchios Nase dabei zwar eine entscheidende Rolle spielt, aber nicht mehr wächst, macht schnell den Unterschied zu übrigen Fassungen klar: nicht mehr Pinocchio ist verlogen, die ganze Welt ist es. Als gefühlsloser Roboter, hat er kein Gewissen und kann so auch gar nicht lügen. Damit ist der Comic wieder näher an Collodis Roman, wo eine Grille der Holzpuppe zuredet und dafür getötet wird. War die Grille in dieser Version ein Bild für das schlechte Gewissen des hölzernen Jungen, machte Disney eine Hauptfigur aus ihr, indem er mit Jiminy Grille ein personifiziertes Gewissen schuf. Bei Winshluss ist Jiminy eine Wanze und ein versoffener, erfolgloser Schriftsteller, der sich im Kopf des Roboters einnistet. Es ist gerade dieser Moment, aus dem „Pinocchio“ seinen abgründigen Mehrwert zieht: in einer verkommenen Welt hilft nur ein reines Gewissen, um nicht zum Sünder zu werden. Bei Winshluss ist dieser Gedanke utopisch, und wir alle verkommen zu elendigen Sündern.

Für diese zutiefst menschliche Geschichte findet der Zeichner eine Bildsprache, die ihresgleichen sucht. So mögen die Figuren teilweise zwar denen des Trickfilms ähneln, in den düster schraffierten Zeichnungen wandeln sie sich jedoch zu Schuften unterschiedlichster Couleur. Das ursprüngliche Fortsetzungsformat der Geschichte imitierend erzählt Winshluss episodenhaft, bedient sich unterschiedlicher Zeichenstile und rekurriert dabei immer wieder auf die Bildtraditionen des Comic und seiner Genres: Splashpages leiten neue Abschnitt ein, bedeutende oder schockierende Momente werden vergrößert herausgestellt. Die „Abenteuer von Jiminy Wanze“ hingegen sind in ziselierten Tuschezeichnungen gehalten und schaffen so ein Gegengewicht zur ausschweifenden Farbenpracht. Dass hierbei ebenfalls ein umfangreiches Spiel mit Zitaten entsteht, versteht sich fast von selbst, allein ihnen nachzuspüren wird die Fangemeinde wohl einige Zeit beschäftigen. Die graphische Formenvielfalt findet ihren haptischen Niederschlag in einer prächtigen Aufmachung des gesamten Bandes als Hardcover mit Glanzelementen, gedruckt auf dickem, leicht antiquiert anmutendem Papier.

Für das vermeintliche Happy End gelingt dem Autor ein weiterer Rückgriff auf einen der größten Momente der Kunstform, wenn Pinocchio, dem Baron Münchhausen gleich, auf einem Geschoß, im Garten eines freundlichen, aber kinderlosen Farmerpärchens landet ...

Comics, das wird hier schnell klar, sind nun wirklich kein reiner Kinderkram.