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7. September 2009
Anja Johanning
für satt.org

  Nadia Budde: Such dir was aus, aber beeil dich. Kindsein in zehn Kapiteln
Nadia Budde:
Such dir was aus,
aber beeil dich.
Kindsein in
zehn Kapiteln

Fischer Schatzinsel,
Frankfurt/Main 2009
HC im Schuber
192 S., € 19,95
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Nadia Budde: Such dir was aus, aber beeil dich. Kindsein in zehn Kapiteln
Nadia Budde: Such dir was aus, aber beeil dich. Kindsein in zehn Kapiteln


Zonenkindheit

Wem geht es nicht so? Man steht am Anfang seines Lebens und hört die Erwachsenen ständig sagen „Wenn du groß bist, dann darfst, machst, kannst auch du ...“ – und so kommt sie einem endlos lang vor, die Kindheit. Man wartet und wartet darauf, endlich ‚groß’ zu werden – und dann, auf einmal, scheint die Kindheit an einem vorbeigerast zu sein. Ohne dass man es bemerkt, ist sie plötzlich und wie im Flug vergangen. Und alles, was bleibt, sind eine Reihe ganz persönlicher Details, Bruchstücke und Episoden: „Kindheit war: hinfallen, im Tunnel schreien, ins Badewasser pinkeln, Läuse haben, nicht auf Gehwegplatten mit Sprung treten, Brille kriegen, schaukeln und kotzen, nicht den Boden berühren!, Brottasche schleudern, Muttervaterkind spielen, Scherben sammeln, Schlüssel verlieren, aus der Zahnlücke Blut saugen ...“.

Nadia Budde kramt in ihrem autobiographisch eingefärbten Buch „Such dir was aus, aber beeil dich!“ diese Erinnerungen wieder hervor und lässt mit Hilfe ihrer Bilder und ihrer Sprache eine schlaglichtartige Rückschau auf ihre DDR-Kindheit zwischen Land- und Stadtleben noch einmal aus den Augen eines Kindes entstehen. Sie erzählt dabei vom DDR-Alltag, von seltsamen Widersprüchen, kindlichen Wahrnehmungen, von Fragen und selbstentworfenen Erklärungen dazu, von Träumen und Gedanken, Gerüchen und lang vergangenen Gefühlen.

Einen wichtigen Teil spielen die Momente, die sie bei ihren geliebten Großeltern in einem kleinen brandenburgischen Dorf verbracht hat. Hier wächst ein kleines Mädchen mit großem Phantasie- und Ideenreichtum auf, umgeben von lauter Kittelschürzen und Kopftüchern, Schirmmützen und Arbeitsjacken. Denn so scheinen im überdurchschnittlich von alten Menschen besiedelten „Großeltern-Land“ wohl alle Leute herumzulaufen. Hier erlebt sie allerhand, wie zum Beispiel den traditionellen Frauentag, zu dem ihre Großmutter Ansteckblumen verkauft, die dann bei oftmals leicht bizarren Abnehmerinnen ein neues ‚Zuhause’ finden. So zum Beispiel bei der „Konsum“-Verkäuferin ohne Hals, die so stark nach Kartoffeln riecht, weil eben auch der gesamte „Konsum“ nach Kartoffeln riecht. Es geht um jede Menge toter und lebendiger Tiere und den Grund, warum jede neue Katze „Mautz“ heißt. Aber auch Feste mit braunen Erdbeeren in Bowle, Feste, bei denen die Frauen plötzlich mit ungewohnt roten Lippen, blauem Lidschatten und Zigaretten auf Männerschößen sitzen, finden in detaillierten Schilderungen ihren Platz. Es gibt so mancherlei Beobachtungen und Erklärungen, die den Leser zum Schmunzeln bringen.

Im Kontrast zum Landleben berichtet ein weiterer Teil vom Leben in der Stadt: Er zeigt, wie es war in den labyrinthischen Plattenbausiedlungen in Ostberlin. Dem Leser wird eine Welt mit spannenden Fahrstuhlfahrten, geheimnisvollen Müllschluckern und nervenden gesetzestreuen Hausmeistern, bei denen jeder Westbesuch angemeldet werden muss, eröffnet. Und dann sind da noch diese mysteriösen ‚Staatssicherheitsmänner’, weswegen man nicht einmal frei am Telefon über „Starsky und Hutch“ sprechen kann ...

Die Berliner Kinderbuchkünstlerin Nadia Budde wurde vom „Strapazin“, einem schweizerischen Comicmagazin, zum Thema ‚Kinderbuch und Comic’ um einen Beitrag gebeten, der im Juni 2007 erschienen ist. Die Arbeit an dieser Kurzgeschichte motivierte sie nun zu einem ganzen Buch, in dem sie eine präzise DDR-Kindheit schildert, angesiedelt in den achtziger Jahren und eingefangen in der Kind-Perspektive.

Das Bilderbuch mit Comicelementen ist, wie der Untertitel bereits verrät, in zehn Kapitel aufgeteilt. Mit Überschriften wie „Alpenveilchen und Achselhaare“, „Stadttod und Landtod“ oder „Nasenbluten“ wird die Neugierde des Lesers geweckt. Beim Durchblättern werden ihm Doppelseiten mit comicartigen Zeichnungen unterbreitet. Entgegen der sonst oftmals starren Struktur mit Panels und Sprechblasen, wie es bei traditionellen Comics der Fall ist, variieren die Text- und Bildanteile hier je nach Inhalt und in ganz unterschiedlichen Zusammensetzungen. Jedes Kapitel beginnt mit einem Deckblatt, das die Überschrift durch kleine, für das Kapitel relevante und einschneidende Zeichnungen sowie durch einen jeweils andersfarbigen Hintergrund in Szene setzt.

Mit dicken schwarzen Umrissen und wenigen Strichen erscheint die Geschichte nur so dahingekritzelt und gekrakelt zu sein. Unkonventionelle und linienbetonte, ab und an unförmige Zeichnungen verleihen jeder einzelnen Seite einen sehr eigenwilligen, oftmals auch sperrigen Charakter. Dieser Eindruck wird durch eine Mischung aus handgeschriebenen kritzeligen Druckbuchstaben und Schreibschrift, die teils schief und uneinheitlich angeordnet wirkt, noch vertieft. Aus dem Blickwinkel kindlicher Logik entsteht eine ganz eigenwillige Komik, die das Buch zu einem besonderen macht. Prägnant erscheinen die Bilder vor oftmals leerem Hintergrund. Dort, wo ein Farbhintergrund eingesetzt wird, fallen dem Betrachter immer wiederkehrende gedeckte Farben, teilweise auch nur die Schrift unterlegend, ins Auge. Die treffend pointierten und zugleich verspielten Bilder ergänzen und kommentieren die knappen umgangssprachlichen, aber präzise formulierten Texte. Gekonnt spielt Budde dabei mit der Sprache.

Für alle, die ein feinfühliges, schönes, hübsch illustriertes Übergangsbuch erwarten, wird dieses Buch eine große Enttäuschung sein. Denn ekeln darf man sich hier nicht: Detaillierten Vorstellungen, wie sich „Rotze“ je nach Kopflage von der einen zur anderen Seite bewegt, oder Schilderungen von ausblutenden Schweinen, die einmal im Jahr im Hof hängen und sich anschließend in Einmachgläsern im Keller wiederfinden lassen, muss man in diesem Buch schon standhaft gegenübertreten. Wer jedoch mit einem ungewöhnlichen, manchmal auch sarkastischen und vielleicht sogar ab und an zynischen Buch umzugehen vermag, in dem ironisiert wird und eine sehr subjektive Sichtweise aus den Augen eines Kindes vorherrscht, der wird durch ein komisches Werk überrascht, das nicht nur zum Lachen, sondern auch zum Nachdenken einlädt. Denn nicht alles erschließt sich dem Leser gleich auf den ersten Blick. Ein skurriles, wildes und witziges, aber zugleich auch tiefsinniges Buch, das einen zweiten Blick verdient hat!


Dieser Beitrag erschien zuerst in der Les(e)bar.