Alan Moore,
Eddie Campbell:
From Hell
Mördermythen
“Es beginnt gerade.
Zum Bessern oder Schlechtern,
das Zwanzigste Jahrhundert.
Ich habe es entbunden.“
(Dr. William Gull)
Dass die Geschichte um die Morde Jack the Rippers bis heute eine ungeklärte ist, ist wohlbekannt. Keine Identität, keine Motivationen, keine allumfassenden Beweise, nur der Korpus einer Erzählung: wenigstens fünf ermordete Prostituierte aus dem Londoner Stadtteil Whitechapel, denen nach vollbrachter Tat mit chirurgischer Präzision innere Organe entfernt wurden, zeugen von einem systematischen Plan. Mehr ist da zunächst nicht. Der Rattenschwanz an literarischen, filmischen und journalistischen Arbeiten, die den Stoff ins kulturelle Gedächtnis retteten, wiederum evoziert die Dringlichkeit, mit Inhalten gefüllt zu werden: Spannend ist ein Mythos dann, wenn er unabgeschlossen bleibt. So kann er durch seine Medialisierung wachsen und tatsächlich erzeugten die Ripper-Morde weit über die Landesgrenzen hinaus ein Boulevardecho, das zugleich vom weiteren Mythos hinter dem fortgesetzten kündet: von Gesellschaften, die ins Zeitalter der Vernunft eingetreten sind.
Dutzende Bekennerbriefe aus unterschiedlicher Hand zollten den Taten auf der faktischen Ebene hohe Anerkennung, auf der fiktionalen, die uns Szenarist Alan Moore und Zeichner Eddie Campbell offerieren und sich dabei vornehmlich auf die als ziemlich gesichert geltende Abhandlung Jack the Ripper: The Final Solution des englischen Journalisten Stephen Knight beziehen, gesellen sich dazu zahlreiche weitere Motive, vor allem aber ein politisches: In From Hell ist es Queen Victoria, die den königlichen Leibarzt Dr. William Gull mit der Aufgabe betraut, als Stütze der öffentlichen Ordnung zu fungieren, indem er das Wissen um die sexuellen Ausschweifungen des arglosen Prinzen Eddie ausradiert. Denn die führten zu der Zeugung eines unehelichen Kindes mit einem Ladenmädchen. Also wird die Mutter durch eine forcierte Operation unschädlich gemacht und vegetiert fortan in der Psychatrie, und bevor die Prostituierten aus dieser Kenntnis Kapital schlagen können, werden sie von Gull und seinem Komplizen Netley der Reihe nach getötet. Den Akt selbst zelebriert Gull als ritualisierte, antizivilisatorische Individuation in der anbrechenden Moderne: Regungslos seziert er sein Menschenmaterial, hält stürmische Reden vor einem imaginierten Publikum und spätestens während der Visionen, die ihn dabei heimsuchen, wird die materialistische Erzählmethode Moores und Campbells deutlich. Dann blickt er auf gegenwärtige Wolkenkratzer, beobachtet das stoische Treiben der telefonierenden Büroangestellten in ihnen und deklamiert: „Ihr seid die Summe all eurer Vorgänger, und scheint doch gleichgültig gegen euch selbst. Eine Kultur, die ihr Interesse sogar an den eigenen tiefen Wunden verlor. Wie erscheine ich euch wohl? Als antiquierter Teufel oder Groschenheftschrecken? IHR schreckt auch MICH! Ihr habt keine Seele. Bei euch bin ich allein.“
Antiquierter Teufel oder Groschenheftschrecken? Bei Moore jedenfalls fungiert Gull weder als das eine, noch als das andere. Die Frage nach Jacks Identität ist in diesem 600 Seiten umfassenden Ziegelstein bereits früh geklärt. Spannungsgenese sieht anders aus. Auch die ausufernde multiperspektivische Erzählhaltung, die gut zehn unterschiedliche Figuren umfasst, richtet das Augenmerk auf eine vergangene Epoche, die der Gegenwart ihr finsteres Antlitz verliehen hat. From Hell ist fast der künstlerische Versuch einer soziologischen Studie und das Prinzip der Erzählung Methode und Methodologie in einem (inklusive der dazu nötigen Transparenz: Im gut 50-seitigen Appendix erläutert Moore ausführlich, wann welche Quellen zum Einsatz kamen und wann und wieso die Dramaturgie gegenüber der Faktenlage Vorrang genoss). Auf der einen Seite der akkurate Versuch, das viktorianische England detailgenau im Umbruch zur Industrialisierung, zur kapitalistischen Verelendung und die dazugehörige Entfesselung der Ideologien zu skizzieren – der irrationalistische Kern der neuen Rationalität. Gull ist Angehöriger der Freimaurer, und nicht zufällig wird dem immer wieder aufflammenden Antisemitismus in der Bevölkerung mit der Geburt Adolf Hitlers sein eliminatorisches Gesicht verliehen. Überhaupt scheint ständig die Ambivalenz dieser Umbruchsphase durch. Das Proletariat werkelt an seiner eigenen Zerfleischung, und der Adel benötigt die Dienste eines psychopathischen wie gebildeten Serienmörders, um seine Position behaupten zu können. Auf der anderen Seite ist es dieser Killer, in dessen Figur sich jene Prozesse verdichten. Sein Werdegang beschreibt den Klassendünkel jener Zeit, seine Taten dessen grausames Echo: Denn in den gefälschten Bekennerbriefen, die täglich bei der Polizei eingehen, dringt dieselbe sadistische Ader hervor. Ja eigentlich besitzt sie fast jede der tragenden Figuren, weswegen auch die psychoanalytische Deutung von Gulls Charakter genauso genommen eine doppelte ist, ganz im Sinne seiner Chiffrierung und der angesprochenen Rationalität der Moderne. Seine Gewalt ist dann unchiffrierter Ausdruck dessen, was er in seiner Ansprache beim modernen Büromenschen an Wissen vermisst: dass nämlich dessen Konkurrenzverhältnis eine ähnliche Gewalt ausdrückt, allerdings derart abstrahiert, dass sie genauso wenig registriert wird, wie die historischen blutigen Prozesse, aus denen dieses Verhältnis entwachsen ist.
Graphisch und stilistisch stehen alle Mittel im Dienste dieser These. Moores Hang zur Symmetrie suggeriert die Geschlossenheit des multiperspektivischen Ansatzes. Das Seitenschema umfasst in der Regel neun Panels in drei Reihen. Kühle Ordnung für eine Zeit, in der die Irrationalität der neuen Ordnung von selbiger ins verborgene gedrängt wird. Die skizzenartig anmutenden schwarzweißen Zeichnungen, stets gerahmt von einem präzisen Strich, wirken abweisend wie das Sujet, prozessual wie der von ihnen abgebildete Zeitkolorit und zugleich dokumentarisch – weil sie nicht ikonisch sein wollen und sich daher der Abstraktion des Stoffes und der These adäquat annähern.
Was bleibt zu sagen? Cross Cult hat mit dieser Neu-Edition eines der Schlüsselwerke der Comicgeschichte wieder verfügbar gemacht. Ein Telefonbuch im Hardcoverformat, das im Bücherregal direkt zwischen die Dialektik der Aufklärung und Über den Prozess der Zivilisation einsortiert gehört.
Alan Moore, Eddie Campbell: From Hell
Cross Cult 2008, 604 Seiten, 49, 80 Euro
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