Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




7. Dezember 2008
Kirsten Reimers
für satt.org

Mordsmäßig14

01 | 02 | 03 | 04 | 05 | 06 | 07 | 08 | 09 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15
16 | 17 | 18 | 19 | 20 | 21 | 22 | 23 | 24 | 25 | 26 | 27 | 28 | 29 | 30 | 31 | 32 | 33 | 34
35 | 36 | 37 | 38 | 39 | 40 | 41 | 42 | 43 | 44 | 45 | 46 | 47 | 48 | 49 | 50 | 51 | 52 | 53 | 54 | 55 | 56 | 57
58 | 59 | 60 | 61 | 62 | 63 | 64 | 65 | 66 | 67 | 68 | 69 | 70 | 71 | 72 | 73 | 74 | 75 | 76

Alpenidylle mit blutiger Axt

Anfang der siebziger Jahre: In einem abgelegenen österreichischen Bergdorf wird die Leiche von Franz Kreuziger gefunden. Der Sohn des ehemaligen Bürgermeisters wurde mit einer Axt niedergestreckt – im Wald. Und der Wald, so der ermittelnde Kriminalbeamte, der Wald macht alles verworrener.

Peter Oberdorfer: Kreuzigers Tod
„Der archaische Charakter der Tat schien auf großen Hass hinzudeuten, der immer schon bestanden hatte und plötzlich, weil die Möglichkeit sich auftat, seinen Weg nach draußen fand, in die Wirklichkeit. Wenn dieser Mord nicht im Wald geschehen wäre! Überall, nur nicht im Wald! Der Wald war ein rätselhaftes Element, in dem alles geschehen konnte. Viele trieben sich dort herum und keiner hatte dort ein Geschäft. Der Wald war Niemandsland. Dort war alles unklar.“

Das Opfer war ein scheuer, zurückgezogen lebender Mann. Dennoch scheinen gleich mehrere Personen als Täter in Frage zu kommen: zum Beispiel die alte Mühlbacherin. Sie hatte einst ein Kind, geboren am selben Tag wie Franz. Doch weil es behindert war, wurde es – damals, als Österreich heim ins Reich geholt worden war – auf Anordnung des damaligen Bürgermeisters Kreuziger „weggeschafft“. Der Mord an dessen Sohn als eine späte Rache? Aber auch der Maler Mannlechner, nicht unbekannt in der Welt außerhalb des Dorfes, benimmt sich sonderbar, ebenso der Pfarrer, der lieber dem Alkohol zuspricht und an Gott leidet, als sich um seine Gemeindeschäfchen zu kümmern. Und dann ist da noch der dominante Vater des Opfers, seine Ehefrau sowie der verhaltensauffällige Halbstarke des Dorfes. Allesamt verschrobene, sehr, sehr eigene Charaktere.

Für den namenlosen Ermittler, den Ich-Erzähler, ist alles ein undurchsichtiges Gewirr, das ihm niemand öffnet, denn er ist ein Zugezogener. Unerheblich, dass er schon seit Jahren, Jahrzehnten im Dorf lebt. Aber auch der Ermittler ist eine opake Gestalt. Einst einer „der besten Absolventen der Polizeischule, die es je gegeben hat“, wurde er schon in seinem ersten Fall zum stellvertretenden Dorfpolizisten degradiert. Weil er mächtigen Menschen auf die Füße getreten ist. Damals sollte er das Verschwinden seines Vorgängers aufklären, der eines Tages einfach nicht mehr da war. Ermordet, lautet die offizielle Version, geflüchtet (und später unter absonderlichen Umständen – Haarballen! – gestorben), das unliebsame Ermittlungsergebnis des namenlosen Wachmanns. Inzwischen hat er sich nahezu aufgegeben, lebt mit Einsamkeit, Kräuterschnaps und dem Foto einer ihm unerreichbaren Frau. Von der Aufklärung des Mordes erhofft er sich Rehabilitation, vielleicht gar eine Karrierechance.

Aber die Ermittlungen gestalten sich obskur. Wie überhaupt alles obskur ist. Engel, der Assistent des Wachmanns, entwickelt sich im Laufe des Buches vom depperten Hilfspolizisten, „der mit seinen fast vierzig Jahren fast noch ein Kind“ ist, zum prügelnden „bad cop“ und schließlich zum aalglatten Karrieristen mit geschliffner neoliberaler Diktion. Der Teenager Hans Peter Kollani – der als der wildeste Junge im ganzen Dorf gilt und schon vor dem Gericht stand, weil er in der Stadt ein Auto geknackt hat – reflektiert, nachdem er unter Verdacht geraten ist und seine beiden jüngeren Brüder in einer vollkommen aus dem Ruder gelaufenen Polizeiaktion getötet worden sind, über seine Motivation und stellt sie in einen gesellschaftlichen Kontext. Situationen verlängern sich ins Albtraumhaft-Surreale. Zeit und Raum verlieren sich. Das erinnert an den magischen Realismus. Gleichzeitig herrscht ein sehr schwarzer, morbider, untergründiger Humor.

Das ergibt eine wunderbar absonderliche, naturalistisch-surreale Atmosphäre, undurchsichtig und rätselhaft, in der die Bigotterie und die Enge innerhalb des Dorfes ohne anklagenden Zeigefinger spürbar werden. Und auch die Krimihandlung kommt nicht zu kurz, man muss nur einsehen, dass es notwendige Neben- und Abwege gibt, und den Figuren folgen, wenn sie ihre Eigenarten aus- und überreizen und sich selbst in Frage stellen. Ein sehr gelungenes Debüt.



Peter Oberdorfer: Kreuzigers Tod
dtv 2008, 272 Seiten, 8,95 Euro
» dtv
» amazon