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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




29. März 2017
Thomas Vorwerk
für satt.org


Cinemania-Logo 165:
American Dreams



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  Regeln spielen keine Rolle (Warren Beatty)

Regeln spielen keine Rolle
(Warren Beatty)

Originaltitel: Rules don't apply, USA 2016, Buch: Warren Beatty, Kamera: Caleb Deschanel, Schnitt: Robin Gonsalves, Leslie Jones, F. Brian Scofield, Billy Weber, Kostüme: Albert Wolsky, Production Design: Jeannine Oppewall, Set Decoration: Nancy Haigh, mit Alden Ehrenreich (Frank Forbes), Lily Collins (Marla Mabrey), Warren Beatty (Howard Hughes), Annette Bening (Lucy Mabrey), Matthew Broderick (Levar Mathis), Martin Sheen (Noah Dietrich), Haley Bennett (Mamie Murphy), Paul Schneider (Richard Miskin), Taissa Farmiga (Sarah Bransford), Ed Harris (Mr. Bransford), Amy Madigan (Mrs. Bransford), Alec Baldwin (Bob Maheu), Oliver Platt (Brian Forester), Steve Coogan (Colonel Nigel Briggs), Evan O'Toole (Matt Mabry), Candice Bergen (Nadine Henly), Paul Sorvino (Vernon Scott), Patrick Fischler (Director), Dabney Coleman (Raymond Holliday), Caitlin Carver (Marla Lookalike), Evan Londo (Ice Cream Kid), Steve Mnuchin (Merrill Lynch Executive), 127 Min., Kinostart: 4. Mai 2017

Hollywood 1964. Eine hungrige Pressemeute bereitet sich darauf vor, ein Interview mit dem außerhalb der Öffentlichkeit residierenden schwerreichen Howard Hughes zu bekommen. Einer von Hughes nahestehendsten Assistenten, Frank Forbes (Alden Ehrenreich, der nächste »Han Solo«), erinnert sich zurück an das Jahr 1958.

Damals hat Hughes unter anderem diverse junge Frauen für Castingaufnahmen handverlesen, darunter die aus einer Kleinstadt in Virginia (nomen est omen!) stammende Schönheitskönigin und Möchtegern-Sängerin Marla Mabrey (Lily Collins), begleitet von ihrer skeptischen Mutter Lucy (Annette Bening). Frank, auch erst neu in der Stadt und voller Träume, wird den beiden zugeteilt als Fahrer. Nicht, weil Marla besonders wichtig ist, sondern weil Hughes jedem dieser Mädchen (Stücker 26!) u.a. einen Fahrer, ein luxuriöses Haus und einen riesigen Geschenkkorb zur Verfügung stellt. Da Hughes dafür bekannt ist, oft junge Frauen an seiner Seite zu haben, verdächtigt natürlich nicht nur Marlas Mutter, dass dies alles ein abgekartetes Spiel ist, um die jungen Schönheit zu beeindrucken, auf dass sie bei »persönlichen Treffen« den nicht geringen Altersunterschied schneller vergessen, doch Hughes lebt auch zu diesen Zeiten bereits so abgeschottet und verliert zunehmend den Überblick über seine zahlreichen Machenschaften, dass man dieses Detail langsam aus den Augen verliert.

Zwischen der frommen und jungfräulichen Baptistin Marla und dem ebenfalls religiösen Frank entwickelt sich nebenbei etwas, ungeachtet des Details, dass Frank bereits verlobt ist mit seiner »Sandkastenliebe« aus der siebten Klasse.

Mit spielerischem Blick auf unwichtig erscheinende Details entwickelt Autor und Regisseur Warren Beatty, der selbst einst im Jahr 1958 in Hollywood anreiste, ein nostalgisches Potpourri um den legendären Hughes (Beatty ließ es sich natürlich nicht nehmen, diese Figur selbst zu spielen, aber wie Frank und Marla wartet auch der Zuschauer lang auf Hughes' ersten Auftritt), und es geht im Film thematisch vor allem um den gesellschaftlichen Wechsel von den hochgeschlossenen 1950ern zu den weitaus offeneren 1960ern, nicht zuletzt am Beispiel unseres eigentümlichen - irgendwie verhinderten - Liebespaares.

Während Frank durchaus an einem Sexualleben interessiert hat, aber auch bei seiner Verlobten (Taissa Farmiga) mit strikten Grundsätzen konfrontiert wird, wird das Thema »erwachende« Sexualität vor allem anhand Marlas seziert. Erst muss sie sich noch von ihren Schauspielkolleginnen erklären lassen, was »hide the salami« bedeutet, dann wird ihr Kenntnisstand mit einem Scherz repräsentiert: »Do you know why baptists think fucking is bad? Cause it may lead to dancing...«. Sogar bei einem Gottesdienst geht es um vorehelichen Sex - und irgendwann kommt sie dann mit Frank in eine hochnotpeinliche, aber auch witzige erotische Situation, bei der ihr Satz »I just don't know how this stands with the church...« für mich zu den absoluten Höhepunkten des Films gehört.

Wie das Filmplakat schon andeutet, ist die Lovestory aber eher altmodisch und entspricht jenem Hooray for Hollywood, das als Soundtrack-Bestandteil eher satirisch eingesetzt wird, aber, was die Inszenierung (mit cleverer Einbindung vielen Archivmaterials) angeht, durchaus zutreffend ist. Das geht sogar so weit, dass eine zentrale Bedeutung im Film der vermeintlich von Marla selbstgeschriebene Song The Rules don't apply spielt - der dann aber auch wieder großartig das Hauptthema des Films vertritt.

Die Handlung wirkt zwar gerade im Schlussteil etwas altbacken und zu sehr um die Figur Hughes herumdrapiert, aber weil Beatty schon zu Beginn mit dem Hughes-Zitat »Never check an interesting fact« klarmacht, dass es ihm nicht um ein akribisches Biopic, sondern um einen unterhaltsamen Film geht, kann man sich ganz auf die verschwenderisch besetzte Komödie konzentrieren, in der selbst bekannte Schauspieler wie Steve Coogan, Oliver Platt oder Ed Harris für winzige Rollen verpulvert werden und es unter anderem ein Wiedersehen mit Martin Sheen, Alec Baldwin und Candice Bergen (als Sekretärin Nadine) gibt. Man möchte am liebsten die Filmographie von Beatty durchgehen und recherchieren, wann er mit welchem der Darsteller schon mal zusammengearbeitet hat (oder auch, mit welchen Produzenten er gut genug steht, dass sie ein solches Projekt unterstützen - aber manchmal macht es auch einfach die schiere Anzahl von Geldgebern).

Die tollste und durchaus dankbare (und gar nicht mal so kleine) Nebenrolle bekleidet aber Matthew Broderick als Hughes-Assistent, der für Frank quasi das Vorbild liefert.

Um noch mal zu Marla zurückzukommen: Ihr erstes Treffen mit Howard Hughes kommt überhaupt nur zustande, weil ein Assistent die falsche Frau mit den Initialen »MM« anschleppte. Und wenn sie ihn dann nach dem »sexual encounter« mit Frank (ich mag die genaue Art und Weise dieses Treffens einfach nicht spoilern) abermals beim Billionär landet, ist es übrigens sehr interessant, auf ihre deutliche Körpersprache zu achten. Nach einem lange verzögerten Schnellkurs und ein wenig Schaumwein ist die junge Frau kaum mehr wiederzuerkennen.

Auf die hollywoodmäßige Auflösung des Films hätte ich wie gesagt gerne verzichten könne, aber nach dem Film fragt man sich schon, warum so viel Zeit seit Bulworth vergehen musste, bis Warren Beatty sich wieder als Regisseur ausprobiert. Ich habe Reds als einzige seiner Regiearbeiten bisher noch nicht gesehen, aber es erscheint mir nicht abwegig, dass Rules don't apply Beattys bester Film als Regisseur sein könnte.

Nachtrag: Die Story des Films stammt übrigens von Beatty und Bo Goldman. Der Name kam mir gleich bekannt vor, aber aus einer anderen Zeit. Mit seinem ersten Kinodrehbuch gewann dieser 1932 (also fünf Jahre vor Beatty) geborene Herr gleich einen Oscar (f√ºr One flew over the cuckoo's nest). Später gab es noch einen zweiten, für Jonathan Demmes Melvin and Howard, der sich bekanntlich auch um Howard Hughes dreht.


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  A United Kingdom (Amma Asante)

A United Kingdom
(Amma Asante)

UK / Tschechien 2016, Buch: Guy Hibbert, Kamera: Sam McCurdy, Schnitt: Jonathan Amos, Jon Gregory, Musik: Patrick Doyle, mit David Oyelowo (Seretse Khama), Rosamunde Pike (Ruth Williams), Jack Davenport (Sir Alastair Canning), Tom Felton (Rufus Lancaster), Laura Carmichael (Muriel Williams), Terry Pheto (Naledi Khama), Jessica Oyelowo (Lady Lilly Canning), Arnold Oceng (Charles), Anton Lesser (Premierminister Attlee), Anastasia Hille (Dot Williams), Jack Lowdon (Tony Benn), Nicholas Lyndhurst (George Williams), Vusi Kunene (Tshekedi Khama), Theo Landey (Nash), Abena Ayivor (Ella Khama), Charlotte Hope (Olivia Lancaster), Donald Molosi (Kabelo), 111 Min., Kinostart: 30. März 2017

Nur wenige Wochen vor der Pressevorführung dieses Films hatte ich mir - vor allem wegen Sarah Gadon in einer eher kleinen Rolle - Belle, das Debüt der Regisseurin Amma Asante, angeschaut - und dieser Film hat mich wirklich positiv überrascht und ich wollte ihr trotz eher mittelmäßiger Bewertungen bei ihrem neuen Film, der abermals Themen behandelt, die einer schwarzen Frau besonders am Herzen liegen könnte, auf jeden Fall eine Chance geben. Auch, wenn ich die Erwartungen schon ziemlich runtergeschraubt hatte.

Man muss sagen, dass die »based on a true story«-Geschichte schon sehr märchenhaft daher kommt, aber da ich mir in einer gewissen Arroganz eingebildet hatte, vage zu wissen, worum es in dem Film geht, nur um dann mit der zentralen Zweideutigkeit des Titels komplett überrascht zu werden. Denn was hier wie eine standard-mäßige Romeo & Juliet im »United Kingdom«, also England, beginnt, dreht sich nicht nur um die Liebe eines schwarzen Afrikaners zu einer Weißen (im Jahr 1947), sondern, und das dreht einige gängige Film- und Märchenhandlungen quasi auf den Kopf, um einen König (von Bechuanaland, dem heutigen Botswana), der sich in eine normalsterbliche Büroangestellte verliebt.

Und schon hat man quasi Romeo & Juliet zum Quadrat (oder hoch drei), denn nicht nur die jeweiligen Familien sind gegen diese Verbindung, sondern auch die Regierungen mehrerer Länder, und das Ganze gestaltet sich wie ein längerer Spießrutenlauf, bei dem man trotz einer zu erwartenden humanistischen Botschaft nicht unbedingt weiß, wie es ausgehen wird, Märchenhaftigkeit hin oder her.

Man könnte dem Film vorwerfen, dass aus der sehr emotionalen Lovestory ein allzu hübsch fotografiertes Kostümdrama wird, bei dem insbesondere die Liebesgeschichte exakt so erzählt wird, wie man 1947 (abgesehen von dem Hauptfarbenunterschied und der deutlich ins Spiel gebrachten Hochzeitsnacht) so etwas erzählt hätte. Beiderseitige tiefe Liebe nahezu auf den ersten Blick und ein Heiratsangebot noch vor dem ersten Kuss.

Naja, immerhin geht es hier ja auch um gekrönte Häupter und gerade in England geht man an solch eine Liebe bevorzugt unter Ausschluss sämtlicher körperlicher Aspekte heran.

Auch die politischen Verwirrungen, einige aufrüttelnde Reden vor einem allzu leicht sich umstimmen lassenden Publikum und ähnliche Aspekte schreien nach Hollywood-Konventionen, die mich persönlich schon zu Zeiten von Dead Poets Society (da hatte ich gerade mein Abi hinter mir) immer mehr nervten.

Aber, und auch dies muss möglich sein: A United Kingdom hat mich trotzdem als Film überzeugt, weil die Geschichte spannend genug bleibt, die Darsteller die gewünschten Emotionen erzeugen und man trotz der manchmal etwas zu schnell überwundenen Konflikte trotz des gelegentlichen Naserümpfens und Augenrollens »mitfühlt«. Oder es teilweise auch zu schätzen weiß, wie die seinerzeit sicher komplizierten Umstände für ein Spielfilmdrehbuch vereinfacht und dramatisiert wurden, weil die Geschichte den Film stützt und die möglichen Ambivalenzen insbesondere in einer Handlung, die nicht zum Allgemeinwissen gehört, nicht unbedingt zur Qualität des Films beigetragen hätten.

So gibt es bei A United Kingdom zwar alle Nase lang Kleinigkeiten, über die ich mich bei anderen Filmen vielleicht aufgeregt hätte (die vage angerissene Figur des amerikanischen Journalisten, das Type-Casting von Tom »Draco Malfoy« Felton), aber der Film als Ganzes kann vor mir bestehen, und die Geschichte, die er erzählt, erscheint mir erzählenswert.

Ich betone all diese Punkte, für die ich selbst nicht unbedingt eine Erklärung finde, weil der vorletzte Film, den ich bei Abfassen dieser Kritik im Kino sah, Nate Parkers The Birth of a Nation war, der im Grunde sehr ähnliche Probleme hat - mich aber im Gegensatz zu A United Kingdom sehr erzürnte. Und weil ich selbst nicht so genau benennen könnte, woran ich die Unterscheidung zwischen eingeschränktem Gelingen und völliger Verärgerung festmachen könnte, will ich auf diese auch für mich überraschende Erkenntnis zumindest hinweisen - ich befürchte, selbst ein detaillierter Vergleich würde meine Gründe nicht allgemein verständlich erscheinen lassen. Aber ich stehe dazu, denn man muss als Kritiker auch auf das Bauchgefühl hören.


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  Free Fire (Ben Wheatley)

Free Fire
(Ben Wheatley)

Frankreich / UK 2016, Buch, Schnitt: Ben Wheatley, Amy Jump, Kamera: Laurie Rose, Musik: Geoff Barrow, Ben Salisbury, Production Design: Paki Smith, mit Brie Larson (Justine), Cillian Murphy (Christopher), Armie Hammer (Ord), Sam Riley (Stevo), Sharlto Copley (Vernon), Jack Reynor (Harry), Babou Ceesay (Martin), Enzo Cilenti (Bernie), Michael Smiley (Frank), Noah Taylor (Gordon), Tom Davis (Leary), Patrick Bergin (Howie), 90 Min., Kinostart: 6. April 2017

»That guy sure messed you up!« - »If I see him again, he's dead!«

Auch ohne ein frühes Gespräch, das Bernie (Enzo Cilenti) und Stevo (Sam Riley, Control) in einem Winnebago-Wohnmobil führen, ist es in diesem Film recht schnell klar, dass ein geplanter Waffendeal ganz sicher nicht reibungslos über den Tisch gehen wird.

Ben Wheatley, seit jeher bekannt für Filme mit hohem body count (The Kill List, Sightseers) übernimmt hier eine Situation, die an Reservoir Dogs erinnert (die Lagerhalle ist nur ca. zehnmal so groß), und macht daraus eine Art langgezogenen Mexican Shootout, der nur nicht wie bei Tarantino in Inglourious Basterds in gefühlt acht Sekunden vorbei ist, sondern vor allem Figuren in einen direkten Widerstreit setzt, die in einem Film mit Tom Cruise oder Bruce Willis immer wieder die Luft um die Helden herum zu einem hohen Bleigehalt verholfen hätten: Nicht jeder ist ein ausgebildeter Scharfschütze und nicht jede Schussverletzung führt zu einem sofortigen Tod.

Damit ist eigentlich schon der ganze Film ausgeplaudert. Aber anschauen kann man ihn sich trotzdem, wenn man auf den Humor à la Wheatley steht und miterleben will, wie größtenteils unsympathische Gangstertypen, die statt Togal auf Crack schwören, wenn sie Kopfschmerzen haben, sich gegenseitig das Leben zur Hölle machen.

Der Film ist auch erstaunlich gut besetzt. Da hat man als Sympathieträger Brie Larson und Cillian Murphy, ferner Jack Reynor aus What Richard did (da lohnt sich die Import-DVD!), als bewährten Over-the-top-Halbirren Sharlto »Hardcore Henry« Copley (»Did it hurt?« - »No, I'm from Africa. Africa is not for sissies!«) und als echte Überraschung Armie Hammer. Der aus The Lone Ranger und The Man from U.N.C.L.E. bekannte Schönling spielte letztes Jahr noch den langweiligen Gatten von Amy Adams in Nocturnal Animals und hat in seiner Rolle in Final Portrait ein ähnliches Profil (auch, wenn man hier schon merkt, zu welchen Leistungen er fähig ist). In The Birth of a Nation zeigt er schon eine gewisse Wandlungsfähigkeit, aber hier, in Free Fire, hätte ich ihn nicht wiedererkannt, obwohl er eigentlich am besten aussieht und gekleidet ist - wie üblich. Aber er spielt diesmal eine komplett andere Figur.

Neben der Beweisführung, dass Ben Wheatley und seine Partnerin Amy Jump (man teilt sich erneut Drehbuch und Schnitt) sich in Rauminszenierung, Zeitlupen- und Toneinsatz sehr gut verstehen, ist der Film vor allem ein schwarzhumoriges Erziehungsprogramm über die Gefahren von Schusswaffen und eine statistische Untersuchung über das Verhältnis zwischen Waffenbesitzern und ihren Intelligenzquotienten, wobei der am tiefsten gehende Gedanke sich darum dreht, dass es eine »goldene Regel« geben soll, die besagt, dass man von einer Schusswunde bis zum Verbluten anderthalb Stunden Zeit haben soll. Konsequent, dass der Film 90 Minuten geht, die aus irgendwelchen Gründen aber nicht vertane Zeit sind, denn man wollte uns etwas zeigen und hat es kongenial durchgezogen. So viel Ehrlichkeit würde ich mir in einem Guy-Ritchie-Film (der dreht ja häufiger solche Filme) mal wünschen, wo Homophobie und Dummheit fast zum Heldenmerkmal verkommen.

Ach ja, wie schon High-Rise spielt der Film übrigens in den 1970ern (und in Boston). Und für die Musik hat man das Paar von Ex machina übernommen, wovon einer früher bei Portishead war (die ja in High-Rise ein Abba-Cover beitrugen). Der stilprägendste Musikeinsatz in Free Fire stammt aber von niemand geringerem als John Denver.

Im Presseheft wird übrigens betont, dass bei einer Leibesvisitation zu Beginn des Films einige Waffen gefunden, aber nicht weiter beachtet werden (verdrahtete Polizeispitzel werden als größere Gefahr eingestuft). Entweder ich war da sehr unaufmerksam oder man versucht im Nachhinein das größte Logikloch des Films wegzureden. Achtet mal drauf!


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  The Boss Baby (Tom McGrath)

The Boss Baby
(Tom McGrath)

Schnitt: James Ryan, Musik: Hans Zimmer, mit den Originalstimmen von Miles Christopher Bakshi (Tim), Alec Baldwin (Baby), Eric Bell Jr. (Triplets), Steve Buscemi (Francis E. Francis), Jimmy Kimmel (Father), Lisa Kudrow (Mother), Tobey Maguire (Older Tim / Narrator), ViviAnn Yee (Staci), 97 Min., Kinostart: 30. März 2017

Auch bei ca. 200 Pressevorführungen im Jahr findet eine penible Filmauswahl statt. Neben dem Prinzip, mir Synchrofassungen nur anzutun, wenn ich dafür bezahlt werde, und der Notwendigkeit, wegen des frühen Redaktionsschlusses meines Printjobs möglichst bis Ende März viele Mai-Filme gesehen zu haben, ist eine Faustregel, für jede Startwoche möglichst zwei Filme für satt.org gesichtet zu haben, von denen am besten mindestens einer gut genug ist, um als Einzelseite vorgestellt zu werden. Das ist aber manchmal schwieriger, als ein Unbeteiligter sich das vorstellen würde. Da werden Starttermine verschoben, sehnlichst erwartete Filme nicht oder zu unzumutbaren Bedingungen gezeigt - und letztlich kann man sich nicht im geringsten darauf verlassen, dass Filme, die auf dem Papier ganz gut wirken, dann auch die Erwartungen erfüllen. Und zack! hat man die eine Woche plötzlich fünf Filme gesehen und die andere keinen einzigen (oder einen, für den man schon für zwei Auftraggeber Texte geschrieben hat und jetzt keine Lust mehr hat, sich noch etwas aus den Fingern zu saugen).

Bei The Boss Baby kam die Entscheidung ziemlich kurzfristig. Ich mag eigentlich Animationsfilme, die werden aber leider häufig in Synchro gezeigt, weil die Presseagenturen die Journalisten durch das Angebot von erlaubten Kinderbegleitungen gleich doppelt manipulieren wollen - und die Kids können meistens kein Englisch und haben auch keine Lust, Untertitel zu lesen. Was mich bei OV- und OmU-Animationsfilmen umso mehr aufhorchen lässt. So war's auch in diesem Fall, und auch, wenn ich außer Filmtitel, Regisseur, ungefährem Genre und vielleicht ein paar Darstellern gar nicht so viel im Voraus über die Filme wissen will, schaute ich mir mal den Trailer an.

Und das von Alec Baldwin gesprochene, im Anzug gewandete »Boss Baby« wirkte im Trailer auf mich nicht nur perfide und gefährlich, sondern vor allem wie eine Donald-Trump-Karikatur, bei der eigentlich nur noch der rote Schlips fehlte. Alec Baldwin hat ja in sieben Staffeln 30 Rock so einen gewinnorientierten Anzugträger mit einer süffisanten Distanziertheit gespielt und bei Saturday Night Live auch schon hin und wieder den Trump gemimt (einer der Drehbuchautoren kommt übrigens von SNL). Was mich dann aber letztlich überzeugt hat, war ein großartiger Gag am Schluss des Trailers. Gemeinsam mit mehreren eher babytypischen Spießgesellen arbeitet Baldwin irgendeinen Masterplan aus, und ein sabberndes gutgenährtes Baby greift in eine Keksschale, um sich zu stärken. An dieser Stelle greift das Baldwin-Baby ein und unterrichtet den sensiblen Wonneproppen: »Cookies are for closers«. Ein Satz, wie ihn Baldwin vor etwa einem Vierteljahrhundert ganz ähnlich in David Mamets Glengarry Glen Ross ausstieß, um den von ihm betreuten Vertretern klarzumachen, dass nur der an die Kaffeemaschine durfte, der Abschlüsse vorweisen kann. Köstlicher Scherz, über den dann später im Kino kaum jemand lachte, weil das Filmzitat offenbar nicht jedermann so vertraut war wie mir.

Anyway, ich entschied mich also für den Film, weil ich mir ein böses Baldwin-Baby erhoffte, das seinen Altersgenossen das Leben schwer macht, während er meinen Kinobesuch versüßt.

Schnell war klar, dass die Geschichte aus der Sicht eines anderen Kindes, des siebenjährigen Tim Leslie Templeton (Stimme: Miles Christopher Bakshi), erzählt wird, bei dem der seltsam angezogene Neuankömmling als unerwünschter Konkurrent einzieht, der um die Gunst der Eltern auf babyuntypische Art buhlt. Laut Angabe des Regisseurs Tom McGrath (Megamind, mehrere Madagascar-Filme) ist dies die »zentrale Metapher« des Film, den er als »liebevolle Hommage« an seinen älteren Bruder sieht - entsprechend geht es im Film auch vorrangig um die sich entwickelnde Freundschaft zwischen dem eifersüchtigen älteren Jungen und den Neuzugang.

Tim fungiert aber auch als unreliable narrator, der mit der Fantasie des Comic-Strip-Bengels Calvin sein Leben zu einem großen Abenteuer ausschmückt, was vorwiegend dazu benutzt wird, den Film visuell interessanter und spannender aussehen zu lassen. Hin und wieder gibt es mal einen Ausblick darauf, wie die Eltern den erbitterten Kampf zwischen den Brüdern wahrnehmen, aber so richtig viel wird daraus nicht gemacht, auch wenn die Produzentin Ramsey Naito im Presseheft groß tönt: »I love that we celebrate the power of children's fantasy and imagination in this film.«

Kein vernunftbegabter Mensch würde auf die Idee kommen, jetzt auszubaldowern, wie viel von der Geschichte sich Tim ausdenkt und zu wie viel Prozent man die Mission des in einem seltsam automatisierten »Himmel« aussortierten Baldwin-Babys ernstnehmen kann, der den »Fabrikanten« besonders süßer Hundewelpen (ein niemals aufwachsendes »forever puppy«) stoppen soll, weil die die Babys auf Rang 2 in der Gunst der Eltern bringen könnten. Oder Schlimmeres. »Do the math, kid, there's only so much love to go around.«

Zugegeben, ein großer Anteil meines Problems mit dem Film ist, dass ich mir etwas gänzlich anderes erhofft habe Äußerst unwahrscheinlich, dass die erfolgreiche Kinderbuchvorlage irgendwas mit Donald Trump zu tun hat. Aber nach der noch ganz akzeptablen ersten halben Stunde hat der Film ein ganz anderes Manko, das nicht mit der »Kinderfantasie« zusammenhängt, sondern damit, dass man diese zweckentfremdet, um aus dem eher lauen Drehbuch ein dauerhaftes Spektakel zu bauen, das offenbar ganz auf die Aufmerksamkeitsspanne kleiner Kinder abgestimmt ist. Wenn man halbwegs in der Geschichte ist, gibt es gefühlt alle 8-12 Minuten eine komplette Kehrtwende in der Handlung, wobei immer wieder neue Abenteuer bestanden werden müssen. Das ist im modernen Blockbusterkino zwar kein neuer Trend, aber wie hier die quasi alles erklärende Erzählsituation benutzt wird, um Logik, Vorwissen und bisherige Handlung immer wieder komplett aus dem Fenster zu schmeißen, das ist schon sehr ärgerlich.

Die (im Animationsbereich aus rein merkantilen Gründen obligatorische) Dreidimensionalität kommt abgesehen vom üblichen »Schmeiß es in die Kamera«-Klamauk nur bei einer Schnittkantenspielerei wirklich raus, die eine zur Schwäche mutierte Stärke des Films gut verdeutlicht: das Gagfeuerwerk wird in manchen Szenen mit einem solch rasanten Takt abgebrannt, dass man bei den Witzen gar nicht mehr mitkommt und am liebsten die Fernbedienung vom DVD-Player in der Hand hätte. Doch was im Detail oft interessant wirkt, überzeugt als Ganzes nicht annähernd. Die hübschen Filmanspielungen (u.a. The Godfather, Apocalypse Now, Raiders of the Lost Ark), die Ausflüge in die satirische Metaebene ... und ganz besonders der emotionale Overkill zum Schluss: alles Blendwerk, versetzt mit den irgendwann auch nervenden Rehaugen und dem Kindchenschema. Man ahnt das verschenkte Potential - und das war's aber auch schon.


Bald in Cinemania 166 (Geschichtsstunden):
Rezensionen zu The Birth of a Nation - Aufstand zur Freiheit (Nate Parker), The Founder (John Lee Hancock), Shalom Italia (Tamar Tal Anati) und Der traumhafte Weg (Angela Schanelec).