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29. Juni 2016
Thomas Vorwerk
für satt.org


  High-Rise (Ben Wheatley)


High-Rise
(Ben Wheatley)

UK 2015, Buch: Amy Jump, Lit. Vorlage: James Graham Ballard, Kamera: Laurie Rose, Schnitt: Ben Wheatley, Amy Jump, Musik: Clint Mansell, Kostüme: Odile Dicks-Mireaux, Production Design: Mark Tildesley, Senior Art Director: Frank Walsh, mit Tom Hiddleston (Dr. Robert Laing), Jeremy Irons (Anthony Royal), Sienna Miller (Charlotte Melville), Luke Evans (Richard Wilder), Elizabeth Moss (Helen Wilder), James Purefoy (Panbourne), Sienna Guillory (Jane Sheridan), Keeley Hawes (Ann Royal), Dan Renton Skinner (Simmons), Enzo Cilenti (Adrian Talbot), Peter Ferdinando (Cosgrove), Reece Shearsmith (Nathan Steele), 119 Min., Kinostart: 30. Juni 2016

Meiner bescheidenen Meinung nach ist James Graham Ballard neben Herbert George Wells der bedeutendste britische Science-Fiction-Autor. Mein Überblick über sein Werk ist zwar eher fragmentarisch (vieles steht noch im Regal und wartet darauf, dass ich mich dafür entscheide), aber in den 1970ern veröffentlichte er mal eine Art inoffizielle Trilogie über den drohenden Niedergang der Zivilisation. In Crash (1973, 1996 verfilmt von David Cronenberg) ging es um einen tödlichen Auto-Fetisch, in Concrete Island (1974) um eine seltsame Robinsonade auf einer von Schnellstraßen umschlossenen Grünfläche, und in High-Rise (1975, meine Heyne-Ausgabe erschien unter dem Titel »Der Block«) um die Verrohung innerhalb eines für Unabhängigkeit designten Wohnungsblocks für Besserverdienende. Schon anhand der hochtrabenden Familiennamen und der Berufe der Protagonisten (Ärzte, Architekten, Schauspielerinnen), aber auch aufgrund der nur geringen Abstraktion tatsächlicher Umstände wirken diese Romane einander sehr ähnlich.

Wie aktuell gerade High-Rise heutzutage ist, erkennt man unter anderem daran, dass ein Film mit komplett anderen Wurzeln, nämlich die Kafka-Interpretation Der Bau, eigentlich fast die selbe Geschichte erzählt, nur mehr auf ein Individuum und seine Wahnvorstellungen bezogen (statt sich um die psychologischen Aspekte innerhalb der vermeintlich homogenen Gruppe zu kümmern).

High-Rise (Ben Wheatley)

Bildmaterial: © DCM

Die Klassenkampf-Metapher legt Ballard in High-Rise rein vertikal aus. Wer in einer höher gelegenen Wohnung lebt, hat es geschafft. Zunächst aufgrund des finanziellen Status. Die High Society oben bezahlt mehr, weiter unten teilen sich auch mal drei soziale Emporkömmlinge (wie Stewardessen) eine Wohnung, die sie sich allein nie leisten könnten.

Doch seltsamerweise degenerieren die Hochhauseinwohner zunehmend, statt zur Gold-Card wird irgendwann doch wieder zur Keule gegriffen. Die einen horten Konservendosen und verstecken sich, die Alphamännchen stellen sich ein Harem aus früheren Nachbarinnen zusammen. Die Fahrstühle werden bewacht, Wohnungen werden geplündert und jedes zufällige Treffen auf dem Etagenflur kann zu einer Konfrontation führen.

High-Rise (Ben Wheatley)

Bildmaterial: © DCM

Im Roman wird dieser sittliche Verfall meist nur dokumentiert, wobei die Perspektive zwischen drei Figuren wechselt. Bei Ballard kann man die zunehmende Eskalation schon anhand der Kapitelfolge gut erkennen. Er beginnt mit drei Kapiteln aus der Sicht des Arztes Dr. Robert Laing (25. Stock), dann folgen drei Kapitel über den vermeintlichen Dokumentarfilmer Richard Wilder (anfänglich 1. Stock), gefolgt von dreien, in denen der Architekt Anthony Royal (ganz oben, 40. Stock) die Hauptrolle spielt. Diese Reihenfolge wiederholt sich mit jeweils zwei Kapiteln, dann nur noch einem, und wer im 19. und letzten Kapitel noch auftaucht, wird hier nicht verraten.

Gleichzeitig nehmen Roman und Film den Ausgang aber schon vorweg, weil sie mit einer Szene beginnen, in der Laing (Tom Hiddleston) auf seinem Balkon einen Schäferhund grillt. Ehe man dann nach und nach erklärt, wie es dazu kommen konnte.

High-Rise (Ben Wheatley)

Bildmaterial: © DCM

Im Film versucht man, den »allumgebenden Eindruck« und den langsamen Verfall, der eben nicht nur auf wenige Einzelfiguren beschränkt ist, durch eine fragmentisierte Erzählung auszudrücken, die einerseits immer Laing als Hauptfigur im Auge behält, andererseits aber über die recht simple Ballard-Struktur noch hinausgeht. Dass Regisseur Ben Wheatley (Sightseers), Spezialist für Horror und sehr schwarzen Humor, den Schnitt zusammen mit seiner Lebensgefährtin und Autorin Amy Jump persönlich übernahm, sorgt dafür, dass die perfide kaleidoskopartige Narration tatsächlich funktioniert, wenn man sich darauf einlässt (wobei ich zugeben muss, dass man gewisse Vorteile hat, wenn man das Buch schon kennt und somit nicht krampfhaft versucht, irgendwelche Handlungsstränge zu verknüpfen oder sich mit der einen oder anderen Figur zu identifizieren).

Die naheliegende Parallele zu Crash ist hier der Blick auf einen Autounfall, an dem man langsam vorbeifährt. Wem es absurd erscheint, für eine ähnliche, durchaus faszinierende Erfahrung für zwei Stunden in einen Kinosessel zu setzen, der wird womöglich Probleme mit High-Rise haben. Ein generelles Interesse für die Montage als höchste aller Filmkünste trägt aber auch dazu bei, auch ohne ABC-Plot-Struktur in diesem Film gefangen zu werden (wer ganz genau auf die Verteilung der Stockwerke achtet, wird übrigens auch einige Fehler finden).

High-Rise (Ben Wheatley)

Bildmaterial: © DCM

Auf den Geniestreich des Films bin ich noch gar nicht zu sprechen gekommen. Denn Wheatley und Konsorten haben sich entschieden, den Film tatsächlich in den 1970ern spielen zu lassen, wodurch noch die zaghaftesten Versuche, das Ganze als Science-Fiction zu kategorisieren, karikiert werden.

Doch der Blick auf den »Autounfall« wird natürlich noch viel interessanter, wenn man gleichzeitig eine nostalgische Zeitreise unternimmt - und der Film so werkgetreu erscheint, wie man es nie zu träumen gewagt hatte (obwohl das Drehbuch wirklich nicht an jedem Satz Ballards hängt).

High-Rise (Ben Wheatley)

Bildmaterial: © DCM

Dieses Konzept wird auch gleich zu Beginn des Films erklärt: »They were living in a future that had already taken place.« Und - zack! - geht es in eine Welt der Flokati-Teppiche, der Vinylplattenspieler und der Tennisschläger aus echtem Holz. Oder ein Margaret-Thatcher-Soundbite und so einen seltsam-klobigen Glastisch, der bei meinen Eltern zwei Umzüge und somit vier Jahrzehnte überlebt hat. Mit Abba im Soundtrack! Und wenn man schon die Rechte dafür bezahlt hat, gibt es als Bonus auch noch eine Portishead-Version von »S.O.S.« dazu - und die klingt nicht einmal anachronistisch, sondern passt genauso gut wie die Ausflüge ins Archiv von »Mute Records« (Can, DAF), deren erste Single übrigens »Warm Leatherette« hieß - und sehr stark von Ballards Crash inspiriert war.

Ich gebe zu, dass es viel mit persönlicher Anbindung zu tun hat, aber für mich war High-Rise ein wirklich toller Film.