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3. Mai 2012
Thomas Vorwerk
für satt.org


Junges griechisches Kino


Junges griechisches Kino

Zur Begriffskombination »Film / Griechenland« fällt einem nicht unbedingt auf Anhieb etwas ein. Mit ein bisschen Filmbildung erinnert man sich vielleicht an den im Januar dieses Jahres verstorbenen Theo Angelopoulos. Wenn es dazu nicht reicht, zermartert man sein Hirn, bis man auf My Big Fat Greek Wedding und Alexis Zorbas kommt, oder irgendwas mit klassischem griechischen Theater - daran haben sich ja von Pasolini über Woody Allen bis hin zu Lars von Trier so einige dran versucht. Und im schlimmsten Fall muss man sich halt mit 300 und Mamma Mia! zufriedengeben oder ganz schweigen.

Im Mai zeigt das Berliner Kino Arsenal eine Reihe von 13 Langfilmen und einem Kurzfilmprogramm, die einen Durchschnitt durch das aktuelle junge griechische Kino vorführt. Alle Filme stammen aus der Zeit von 2009 bis 2012, größtenteils konnte man sie in Deutschland bisher nur auf Festivals sehen (Attenberg und Alpeis - bzw. auf Deutsch Alpen - haben aber bald einen Bundesstart dank Rapid Eye Movies).

Im Vorfeld konnte ich fünf der Filme sichten, über die ich an dieser Stelle berichten möchten. Leser meiner Kritiken wissen, dass ich mich zumeist bemühe, Spoiler zu vermeiden (selbst, wenn oft schon der Trailer zu viel verrät), doch in diesem Fall werde ich bei der Analyse ein wenig tiefer gehen und spreche deshalb bereits an dieser Stelle einen Spoiler-Alarm aus, nur in den ersten zwei Absätzen halte ich mich generell zurück.

Besonders interessant an der kleinen Filmreihe ist auch, dass man beim Sichten mehrerer Filme schnell mehr über die Filmschaffenden erfährt. So stammen Dogtooth und Alpen vom selben Regisseur (Giorgos Lanthimos, spielt auch in Attenberg mit), bei beiden ist der Co-Autor Efthymis Filippou, dessen komplettes bisheriges Œuvre man kennenlernen kann, wenn man auch noch L sieht. Dogtooth, Attenberg und L haben den selben Kameramann (der übrigens auch Keep the Lights on drehte). In Alpen spielen Ariane Labed, Aggeliki Papoulia und Aris Servetalis mit, die man auch in Hauptrollen in Attenberg, Dogtooth respektive L erleben kann. Und Vangelis Mourikis, der Onkel aus Knifer, spielt in Attenberg den Vater. Und das waren jetzt nur Beispiele, die »meine« fünf Filme betreffen und die mir recht schnell aufgefallen sind. Da es in Griechenland wenig überraschend kaum Filmförderung gibt, müssen die Kreativen sich zusammentun. Ein bisschen so wie bei »Coop 99« in Österreich...

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Macherovgaltis
(Yannis Economides)

Intern. Titel: Knifer, Zypern / Griechenland 2010, Buch: Yannis Economides, Doris Avgerinopoulos, Kamera: Dimitris Katsaitis, Schnitt: Giannis Halkiadakis, Musik: Akis Kapranos, mit Stathis Stamoulakatos (Nikos), Vangelis Mourikis (Alekos), Maria Kallimani (Gogo), Yannis Voulgarakis (Nikos' friend), Yannis Anastasakis (Drunk man), Thodoris Economides, Simos Kakalas, Dimitra Kouza, Elena Mavridou (Golfo 2.3 beta performers), Nikol Drizi (Nikos' girl), Dimitris Mavridis, Lazaros Mavridis (Zwillinge), Themis Angelopoulos, Kostas Fylaktidis, Ioakim Mylonas (Liquor store thieves), 108 Min.


Vorführung am Samstag, den 5. Mai, 21 Uhr 15, Wiederholung am Donnerstag, den 17. Mai, 21 Uhr

Knifer erzählt vom Slacker Nikos (Stathis Stamoulakatos), den man kennenlernt, wie er mit einem Drink in der Hand vor dem Fernseher einschläft (in Griechenland scheint das Fernsehprogramm fast noch schlechter als in Deutschland zu sein). Gleich in der zweiten Szene sieht man, wie eine nackte Frau sich aufopfernd um ihn kümmert (ausführlicher mag ich das nicht beschreiben), und nach und nach lernt man sein Umfeld kennen. Doch bevor es soweit ist, wird er aus diesem Umfeld herausgerissen und soll für seinen Onkel Alekos arbeiten (Vangelis Mourikis, der in der Schwarzweiß-Fotografie dieses Films einen sehr prägnanten Gesichtserker hat - er sieht aus wie eine Mischung aus Al Pacino und Vincent Schiavelli, mit einem Fels in der Brandung - in Attenberg hingegen sieht seine Nase ganz normal aus und man erkennt ihn kaum).

Diese Arbeit ist zwar durchaus lukrativ und geht mit freier Kost und Logis einher, doch Nikos ist schon das Hüten zweier Wachhunde (Alekos befürchtet eine Vergiftung oder ein anderes Attentat durch albanische Nachbarn) eine Last und Bürde, die Verantwortung in Kombination mit seiner Einschätzung des lächerlichen Verfolgungswahns seines Onkels lässt ihn lieber mit dem Motorrad in die nächste Kneipe fahren oder - sein liebstes Hobby - zu Tag und Nachtzeit vor dem Fernseher einschlafen. Macherovgaltis (Yannis Economides)

Der Film beschreibt einerseits alltägliches Leben in Griechenland, entwickelt sich aber unversehens (und da passt die Schwarzweiß-Fotografie) in eine Variation von James M. Cains The Postman always rings twice (zuletzt in Petzolds Jerichow wiederzuerkennen), wobei Alekos mit seiner etwas aufsäßigen und gelangweilten Frau Gogo (Maria Kallimani) einen kleinen Laden führt (statt der Tankstelle im Roman), und sie zwar die Affäre initiiert, aber keineswegs eine Femme Fatale darstellt oder Nikos zu einem Mord drängt. Es geht auch um keinen Versicherungsbetrug, das läuft hier alles ganz anderes.

Denn Nikos droht Gogo wieder an seinen Onkel zu verlieren. Für ein paar Nummern war er halt gut, aber er ist offensichtlich ein Loser ohne die geringsten Ambitionen, während Alekos immerhin Ziele hat. Den Frust Nikos' und seinen Absturz teilt der Film mit einem unaufdringlichen, aber unübersehbaren Symbol mit. Zweimal im Film benutzt Nikos ein Einwegfeuerzeug, das jeweils in diesem Moment leer oder kaputt zu sein scheint. Dies sind jeweils die Momente, wo es für ihn abwärts geht und er dieses auch bemerkt. Seine Widerwehr dagegen ist konsequent: Er klaut seinem Onkel einen teuren Anzünder - und hofft offenbar, damit das Feuer, die Energie des Konkurrenten zu erwerben.

Die Femme Fatale des Films taucht meines Erachtens bei einem Theaterstück auf, dass Nikos besucht, und das als einzige Szene des Films in Farbe abläuft. Dort wird mit Masken eine Art Anime-Geschichte erzählt (ebenfalls eine ménage à troi), die damit endet, dass das Mädchen im typischen kurzen Rock eine Flagge hochhält - natürlich die von Griechenland, und mit Blut verschmiert ist sie auch. Somit drängt sich ein wenig der Vergleich auf, dass man Nikos (wie seinem Land) dabei zusehen kann, wie er »vor die Hunde« geht.

Etwa zwanzig Minuten vor Filmende bekommt man als Zuschauer übrigens das Gefühl, dass der Regisseur daran scheitert, seinen Film zu Ende zu bringen, und er sich stattdessen in Nichtigkeiten verliert. Dieser Eindruck verschwindet spätestens beim diskussionswürdigen Abschluss des Films, den ich als Fantasie interpretiere (muss man aber nicht).

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Alpeis
(Giorgos Lanthimos)

Dt. Titel: Alpen, Griechenland 2011, Buch: Giorgos Lanthimos, Efthymis Filippou, Kamera: Christos Voudouris, Schnitt: Yorgos Mavropsaridis, mit Aris Servetalis (Montblanc), Johnny Vekris (Matterhorn), Ariane Labed (Santa Rosa), Aggeliki Papoulia (Anna), Stavros Psyllakis, 93 Min., Kinostart: 14. Juni 2012


Eröffnungsfilm am Freitag, den 4. Mai, 20 Uhr (zu Gast: Giorgos Lanthimos), Wiederholung am Montag, den 7. Mai, 20 Uhr

Über Alpeis kann man ungeachtet eines Drehbuchpreises in Venedig geteilter Meinung sein, aber der Beginn des Films ist ungemein kraftvoll. Eine Bodenturnerin (Ariane Labed) wartet im Training auf ihren Einsatz. Nach einigen bombastischen Klängen aus Carmina Burana ist es soweit. Ob gewollt oder ungewollt, die Handkamera ist überfordert, ihr zu folgen. Danach unterhält sie sich mit ihrem Trainer (von dem ich zunächst annahm, er könnte auch ihr Vater sein), denn sie würde lieber zu Pop als zu Klassik tanzen. Der Trainer: »Du bist nicht bereit für Pop«. Sie geht ein wenig gegen diese Einschätzung an, und erstaunlich kalt und unpersönlich informiert der ältere und kräftig wirkende Mann sie darüber, dass er, wenn sie noch einmal so die Stimme gegen ihn erhebt, eine Keule nehmen wird, ihr den Schädel einschlägt, ihr die Arme und Beine bricht usw.

Sie entschuldigt sich. Dann folgt eine ziemlich großartige Schnittkante. Man sieht eine blutüberströmte junge Frau mit Sauerstoffmaske im Innern eines Krankenwagen. Es dauert ein wenig, bis man herausbekommt, dass dies ein ganz anderes Mädchen ist, und sie in einen Autounfall verwickelt war. Ein sehr sympathisch wirkender Mann fragt sie nach ihrem Lieblingsessen und bevorzugten ausländischem Schauspieler aus. Alles sieht danach aus, dass es ihm nur darum geht, sie bei Bewusstsein zu halten und ihr etwas Lebenswillen zu geben. Alpeis (Giorgos Lanthimos)

Doch in Alpeis ist nur weniges so, wie es zu Beginn scheint. Wenn der Mann aus dem Krankenwagen, eine Krankenschwester, die Turnerin und ihr Trainer später gemeinsam in der Turnhalle ein Gespräch führen, und sie ihre Gruppe die »Alpen« nennen, wobei sich zunächst die Männer konkrete Berge als Namensgeber aussuchen, dann dachte ich noch, dass die vier gemeinsam turnen oder für eine ähnliche Darbietung üben. »Die Berge der Alpen können durch keine anderen Berge ersetzt werden. Außerdem verrät der Name nicht, was wir machen«. Doch sie haben eine kleine Firma (der Arbeitsalltag in Griechenland wird auch hier auf skurrile Weise allegorisiert), die verstorbene Personen für die Hinterbliebenen »ersetzt«. Die Krankenschwester arbeitet sozusagen an der »Quelle«, das schwerverletzte Mädchen wurde nur deshalb ausgefragt, weil man mit ihrem Ableben rechnet und die beiden Frauen bereits längere Dialoge üben, die eine von ihnen dann später mit den Eltern des Mädchen »nachspielen« kann.

Das minutiöse Einüben von Dialogen findet man auch in L (selber Co-Autor) wieder, aber dies nur am Rande. Die Krankenschwester Anna (Aggeliki Papoulia) verstößt gegen Regeln, arbeitet sozusagen »schwarz« (als wenn die ganze Aktion nicht schon sehr illegal wirken würde), und daraus zieht der Film seinen Konflikt, den er auf absurde Weise zum Abschluss bringt. Doch zuvor geht es um die verschiedentlichen Beziehungen zwischen den Ersetzenden und ihren Klienten, wobei Anna auch schon beim »Verkörpern« einer verstorbenen Frau eines Lampenhändlers Regeln brach (»Please, don't you stop. It feels like paradise!«) und man als Zuschauer irgendwann zwangsläufig darüber nachdenkt, ob Annas Vater eigentlich wirklich ihr Vater ist oder auch nur ein fortgeführter Job. Die Absurdität mancher Situation und das (absichtlich) schlechte Spiel beim Heruntersagen der geübten Dialoge werden manche Zuschauer an ihre Grenzen führen, aber Alpeis ist ganz sicher nicht unfreiwillig komisch, jede entgleisende Pointe (»Prince ist doch noch gar nicht tot!«) wurde geplant wie bei Napoleon Dynamite oder dem Kursbuch der deutschen Bahn.

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L
(Babis Makridis)

Griechenland 2012, Buch: Babis Makridis, Efthymis Filippou, Kamera: Thimios Bakatakis, Schnitt: Giannis Halkiadakis, mit Aris Servetalis (Man), Stavros Raptis (Friend), Efthymis Papadimitriou (Black Rider), Lefteris Matthaiou (Bear), Nota Cherniavsky (Wife), Thanassis Dimou (New driver), Yannis Bostantzoglou (Boss), Christoforos Skamnakis (Skipper), 87 Min.


Vorführung am Samstag, den 12. Mai, 21 Uhr, Wiederholung am Freitag, den 18. Mai, 19 Uhr 30

Auch L führt den Betrachter erst mal an der Nase herum. Es beginnt mit einem seltsamen Lied, das ein blutender Mann einem anderen Mann vorsingt, während beide nachts in einem Auto sitzen. Erst viel später wird man begreifen, was diese Szene soll - und ähnlich wie in Alpeis wird es am Schluss dieses Films eine Spiegelszene zur Eingangsszene geben - Nach zwei Filmen dachte ich bereits, dass Efthymis Filippou so etwas wie der griechische Charlie Kaufman sein könnte (dass er jeweils nur Co-Autor neben dem Regisseur war, las ich erst später nach).

Der Mann (Aris Servetalis) am Steuer seines Autos (in Griechenland fährt man viel Volvo) hat ähnlich wie Ryan Gosling in Drive keinen Namen. Er holt seine Kinder ab, das Treffen mit der Mutter in zwei Autos auf dem Parkplatz eines Supermarkts wirkt noch erstaunlich »normal« für jeden der schon mal miterlebt hat, wie aus einer liebvollen Ehe eine nur für die Kinder etwas kaschierte Feindschaft werden kann. Die Kinder haben ihrem Vater einen Schlüsselanhänger mitgebracht, doch da der Vater keinen Mercedes fährt, ist das Geschenk ein wenig unangebracht. Auf dem Rücksitz soll man nicht krümeln, das kann man nachvollziehen, doch wenn der Vater (später ohne Kinder) nachts auf ein Parkdeck fährt, seine Schuhe vor die Autotür stellt und im Auto schläft, dann ahnt man langsam, was in diesem Film anders sein könnte. L (Babis Makridis)

L ist ein wenig wie eine Realfilmversion von Pixars Cars. Während sich dort oder in einem Film wie Antz oder Shark Tale niemand daran stört, wie unrealistisch vieles wirkt, wenn man zwei ganz unterschiedlich Universen übereinanderstülpt, da stößt das in einem Realfilm natürlich schnell sauer auf. Der Fahrer bringt seinem Auftraggeber Honig - in Sachen »Arbeitsalltag auf Banane« ist L die Krönung unter den Griechen. Aber auch, wenn nie erklärt wird, wie der Fahrer in L beispielsweise seinen Stuhlgang verrichtet (was in Cars 2 immerhin angedeutet wurde), so ist doch klar, dass es sich hier um einen Professional handelt, wie bei Howard Hawks oder Walter Hill. Oder bei Jean-Piere Melville, an dessen Le Samoura (dt.: Der eiskalte Engel) ich spätestens denken musste, als der in Ungnade gefallene Fahrer so etwas ähnliches wie Harakiri begeht.

In meinen Augen ist L das Missing Link zwischen Knifer und Alpeis. Wieder ein Film noir (Zu den besten Zeiten des griechischen Kinos, in den 1950ern und -60ern, waren Krimis ganz hoch im Kurs), wieder Allegorie und seltsamer Humor. Die Entfernung von der Realität ist hier noch viel stärker, der Humor dürfte aber auch für unbedarftere Zuschauer viel besser funktionieren, weil der Film einfach so dermaßen überzogen ist, dass man fast an Monty Python denken muss. (Jaja, ich arbeite schon voraus auf die »silly walks« in Attenberg. Alles gehört irgendwie zusammen ...)

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Attenberg
(Athina Rachel Tsangari)

Griechenland 2010, Buch: Athina Rachel Tsangari, Kamera: Thimios Bakatakis, Schnitt: Sandrine Cheyrol, Matthew Johnson, mit Ariane Labed (Marina), Evangelina Randou (Bella), Vangelis Mourikis (Spyros), Giorgos Lanthimos (Engineer), 97 Min., Kinostart: 10. Mai 2012

Attenberg (Athina Rachel Tsangari)

Am Donnerstag, den 10. Mai, 20 Uhr (zu Gast: Athina Rachel Tsangari)

Bei Attenberg ist es sehr schön, zu beobachten, wie das Presseheft versucht, alles sonnenklar zu erklären. Die 23-jährige Marina (Ariane Labed) ist sexuell unerfahren, probiert ein bisschen mit ihrer Freundin Bella herum (weltfremde Publikationen schmeißen bei der Zungenkuss-Szene zu Beginn des Films mit angewidert-faszinierten Superlativen um sich) und schaut gerne Naturdokumentationen von Sir David Attenborough, der passenderweise auch gleich die Verbindung zwischen Menschen und Gorillas herstellt - und den Bezug zum Filmtitel (Attenborough falsch ausgesprochen) liefert. Und da die Musik eine große Rolle in dem Film spielt, dürfen die Informationen zu Songs und Interpreten im Presseheft nicht fehlen. Attenberg (Athina Rachel Tsangari)

Natürlich ist Attenberg nicht ansatzweise so geradlinig, wie man ihn zur besseren Vermarktung glattbügelt. Wie in so vielen griechischen Filmen (zumindest innerhalb dieser Reihe) geht es um das Patriarchat und das Sex-Tabu zwischen Vater und Tochter. So wie man in Knifer einen Buckligen vor Fabrikschloten sieht, wird hier der Kontrast zwischen farbenprächtigem Habitat der Gorillas und nüchtern-toter Industrie gezogen. Marina hat als Fahrerin eines Ingenieurs (Regisseur Giorgos Lanthimos in einer Gastrolle) immerhin einen auffälligen Realitätsbezug, was den Job angeht.

Doch von allen von mir gesichteten Filmen kümmert sich Attenberg noch am wenigsten darum, eine filmische Welt aufzubauen. Die Krankenhausräume, in denen Marina mit ihrem todkranken Vater interagiert (Eros und Thanatos - endlich mal zwei griechische Vokabeln, die man angeberisch ins Spiel bringen kann), wirken eher wie Hintergründe oder Gemälde, die Außenräume, die Marina und Bella inspizieren, könnten aus A Clockwork Orange stammen, und die Industrielandschaften oder das Pförtnerhäuschen scheinen aus den 1970ern zu stammen. Und wenn die beiden jungen Frauen Tous les garçons et les filles von Françoise Hardy erst gemeinsam einüben und dann auf der Straße zum Besten geben, findet man selbst bei Godard (z. B. in Pierrot le fou oder Week-End) kaum künstlicher wirkende Außenaufnahmen.

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Kynodontas
(Giorgos Lanthimos)

Intern. Titel: Dogtooth, Griechenland 2009, Buch: Efthymis Filippou, Giorgos Lanthimos, Kamera: Thimios Bakatakis, Schnitt: Yorgos Mavropsaridis, Art Direction, Set Decoration, Kostüme: Elli Papageorgakopoulou, mit Christos Stergioglou (Vater), Michele Valley (Mutter), Aggeliki Papoulia (Ältere Tochter), Mary Tsoni (Jüngere Tochter), Hristos Passalis (Sohn), Anna Kalaitzidou (Christina), Alexander Voulgaris (Hundetrainer), 94 Min.


Vorführung am Samstag, den 5. Mai, 19 Uhr (zu Gast: Giorgos Lanthimos), Wiederholung am Samstag, den 19. Mai, 21 Uhr

Kynodontas, mit dem vieles begann, wurde von mir als letztes, auf DVD, gesichtet. Wodurch oft einiges an Kraft eines Films verloren geht. Es geht um eine seltsame Familie, deren drei Kinder (die in einigen Texten zum Film als »Teenager« bezeichnet werden, was ziemlicher Blödsinn ist - Aggeliki Papoulia ist beispielsweise 1975 geboren) vollkommen abgeschottet von der Außenwelt aufgewachsen sind - zum Schutz der Kinder. Ähnlich wie in M. Night Shyamalans The Village werden ihnen Märchen aufgetischt, um sie - in Furcht - vor der Außenwelt fernzuhalten.

Denn dort gibt es beispielsweise diese hochgefährlichen Hauskatzen, die einen ausgewachsenen Menschen in wenigen Momenten zerreißen können. Aus der Fabrik, in der der Vater eine leitende Stelle ausfüllt (das Pförtnerhäuschen erinnerte mich stark an Attenberg), stammt auch die Kollegin Christina, die dem Sohn bei der Befriedigung seiner fleischlichen Gelüste dienlich ist, die aber ihrerseits für kleine Geschenke sexuelle Dienstleistungen von der älteren Tochter einfordert. Regelverletzungen werden erneut brutal geahndet, die Querverbindungen zu Alpeis sind offensichtlich. Kynodontas (Giorgos Lanthimos)

Die Ersatzwelt des Films bricht zusammen, als die Ältere sich Leihvideos von Christina organisiert. Dummerweise bestätigen diese natürlich alle Vorurteile der Eltern, was den »schlechten Einfluss« der Außenwelt angeht, es handelt sich ausgerechnet um Rocky und Jaws. Und offenbar wird irgendwo in einer Ellipse auch noch mindestens ein dritter Film gesehen, nämlich Flashdance - und ein vierter, den ich anhand der zitierten Dialoge nicht wiedererkannt habe. Evtl. spielt ein »Bruce« mit, denn der inoffizielle Name des Hais wird in Jaws nie erwähnt.

Dies führt zu einer kleinen Box- und Tanzbegeisterung sowie zu neuen Spielen im Swimming Pool. Vor allem aber dazu, dass die Älteste die Außenwelt kennen lernen will - und leider gibt es da noch die väterliche Lüge mit dem »Dogtooth«, deren Wahrheitsgehalts sie nicht in Frage stellt.

Dogtooth ist ein weiteres Beispiel für den eigentümlichen und hier recht schwarzen Humor der »neuen Welle« des griechischen Kinos. Viele Elemente aus L und Alpeis findet man schon hier, sie werden später nur noch verfeinert oder abgeändert. Wenn man nach einem repräsentativen Film der Reihe sucht, der nicht zu viele Zuschauer vor den Kopf stößt, ist Dogtooth vor L die erste Wahl.