Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




19. Oktober 2011
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Die Haut, in der ich wohne (Pedro Almodóvar)
Die Haut, in der ich wohne (Pedro Almodóvar)
Die Haut, in der ich wohne (Pedro Almodóvar)
Bildmaterial © TOBIS Film
Die Haut, in der ich wohne (Pedro Almodóvar)
Die Haut, in der ich wohne (Pedro Almodóvar)


Die Haut, in der ich wohne
(Pedro Almodóvar)

Originaltitel: La piel que habito, Spanien 2011, Buch: Pedro Almodóvar, Agustin Almodóvar, Lit. Vorlage: Thierry Jonquet, Kamera: José Luis Alcaine, Schnitt: José Salcedo, Musik: Alberto Iglesias, Ton: Iván Marín, Kostüme: Manolo Carretero, Jean-Paul Gaultier, Make-Up: Karmele Soler, mit Antonio Banderas (Dr. Robert Ledgard), Elena Anaya (Vera), Marisa Paredes (Marilia), Jan Cornet (Vicente), Roberto lamo (Zeca), Blanca Suárez (Norma), Eduard Fernández (Fulgencio), Susi Sánchez (Vicentes Mutter), Bárbara Lennie (Cristina), Fernando Cayo (Arzt), José Luis Gómez (Präsident des biotechnologischen Instituts), 125 Min., Kinostart: 20. Oktober 2011

Zu Zeiten von Chaplin oder Lubitsch war es noch nicht so auffällig, aber wenn man sich als Regisseur thematisch spezialisiert und fortwährend als Auteur sein Publikum ziehen will, muss man sich ganz konkret auf den Markt einstellen und zu Veränderungen bereit sein. Die Zeiten, in denen ein neuer Film von Allen, Jarmusch, Lynch oder von Trier sein (wachsendes) Publikum schon allein über den Namen des Regisseurs anzog, sind vorbei. Alternative Lösungsvorschläge sind es, sich rar zu säen (Kaurismäki) oder zu versuchen, das »große« Publikum (und damit die möglichen großen Budgets) zu knacken (Coen Brüder, Scorsese, ansatzweise Allen).

Pedro Almodóvar hat zu Beginn seiner Karriere thematisch »geschockt«, doch heutzutage sind Prostituierte, Transsexuelle, Schwule und »Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs« längst das Standardpersonal ganz normaler Fernsehshows. Selbst Serienmörder, Charakterschweine oder wegen psychischer Absonderlichkeiten kaum allein lebensfähige Außenseiter sind mittlerweile die Lieblinge des Publikums.

Almodóvar hat glücklicherweise die Möglichkeit innerhalb seiner bevorzugten Themen Alternativrouten einzuschlagen, und wie »The Incredible Shrinking Rapist« (Kinotitel: Hable con ella) bewies, findet er auch noch moralische Abgründe, von denen aus er politisch unkorrekte Diskussionen anregen kann. Oder er zeigt wie in Volver, wie grundsympathisch eine Mörderin sein kann. In seinem neuesten Film, einer Romanverfilmung (!), dreht er das Rad noch ein bisschen weiter.

Antonio Banderas als Star und Hauptdarsteller spielt eine Art Mad Scientist (»Blut von einem lebenden Tier«) vom Schlag eines Dr. Frankenstein oder Moreau, der seine Obsessionen von ästhetischer Kosmetik, einer »besseren« menschlichen Haut (resistent gegen Mückenstiche!) und seiner verstorbenen Frau gegen alle ethischen Einschränkungen miteinander verbindet, bei sich zu Haus hält er eine Frau gefangen, er benutzt sie als Versuchskaninchen und rekonstruiert quasi seine Frau. Die moderne Version einer Poe-Verfilmung mit Vincent Price.

Bevor der Film seine umfassende Back-Story mit einigen wichtigen Nebenfiguren aufrollt, zeigt Almodóvar wie nebenbei seine Meisterschaft. Kostüme, visuelle Kommunikationsmedien, Kunstgeschichte und die kreativen Anstrengungen der Gefangenen könten wahrscheinlich mehrere Filme zur allumfassenden Zufriedenheit füllen. Selbst wenn es sehr plakativ ist (Marilas Geschichte am Lagerfeuer), so bleibt es durchgehend ein Kinoerlebnis ersten Ranges. Natürlich geht es auch wieder um Sexualität (auch gleichgeschlechtliche), um Mütter und Ersatzmütter, um Vergebung und Strafen. Und Dinge, die man weder vergeben noch bestrafen kann. Oder will.

Um es kurz zu machen: Almodóvar ist selbst wie seine Hauptfigur. Ein Mad Scientist. Nicht wie Lars von Trier bei Antichrist (Größenwahn) oder Tarantino bei Inglourious Basterds (augenzwinkernder Größenwahn): Almodóvar ist sich seiner Grenzüberschreitungen bewusst, er zelebriert sie, und er ist jederzeit im Vollbesitz seiner geistigen (und inszenatorischen) Kräfte. Er ist nicht größenwahnsinnig, er ist wirklich groß. Und für’s Publikum ist das wahnsinnig. Bei der Wahl des »Film des Monats« hätte eigentlich Tyrannosaur siegreich sein müssen, der Film hat mir durchaus noch eine Spur besser gefallen als La piel que habito. Aber Tyrannosaur spricht nur ein eingeschränktes Publikum an, während den Almodóvar eigentlich jeder sehen sollte. Es ist sehr wahrscheinlich, dass darunter auch einige Zuschauer dabei sein werden, die kopfschüttelnd aus dem Kino kommen und noch im Bett den Kopf nicht stillhalten können. Doch selbst diese werden auf irgendeiner Ebene zugeben müssen, dass dies ein großartig gemachter Film ist, dessen Bilder einen noch lange verfolgen (und zwar selbst bei denen, die ihn hassen werden, nicht unbedingt im negativen Sinne).