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September 2002
Thomas Vorwerk
für satt.org

Sprich mit ihr
Hable con ella

Spanien 2002

Pedro Almodóvar: Sprich mit ihr

Buch
und Regie:
Pedro Almodóvar

Kamera:
Javier Aguirresarobe

Schnitt:
José Salcedo

Musik:
Alberto Iglesias

Darsteller:
Javier Cámera (Benigno), Dario Grandinetti (Marco), Leonor Watling (Alicia), Rosario Flores (Lydia), Geraldine Chaplin (Katarina Bilova), Mariola Fuentes (Rosa), Caetano Veloso, Pina Bausch


Sprich mit ihr
Hable con ella


Almodóvar, der zuletzt mit "Todo sobre mi madre" die Kinogänger in Erstaunen und Verzücken versetzte, spielt trotz des verdächtigen Filmplakats diesmal nicht wieder so sehr mit Farben, knüpft aber ansonsten in vielerlei Hinsicht an den Vorgänger an. Abermals präsentiert er ein Melodrama, dessen innewohnende Kraft eine bloße Wiedererzählung niemals vermitteln könnte.

Demzufolge wird dringend vorm Weiterlesen gewarnt, falls man den Film noch nicht gesehen hat (was man in diesem Fall schnellstens nachholen sollte) SPOILER-ALERT!

Wie es momentan gang und gäbe zu sein scheint ("Va savoir", "Je rentre a la maison"), beginnt der Film mit einer Theateraufführung, oder genauer gesagt, dem Ballett "Café Müller" von Pina Bausch. Auf der Bühne zwei schlafwandelnde Frauen und ein Mann, der für sie allerlei Stühle aus dem Weg räumt. Im Zuschauerraum zwei nebeneinander sitzende Männer, die man für ein Paar halten könnte. Doch die beiden kennen sich nicht einmal. Dennoch erzählt Benigno nachher seiner Angebeteten Alicia (wie die im Wunderland) von seinem seltsamen Sitznachbarn, der von der Darbietung sogar zu Tränen gerührt wurde. Und als besonderes Mitbringsel stellt Benigno der im Koma liegenden (selbst eine frühere Ballerina) ein Autogramm mit besten Wünschen von Pina Bausch auf den Nachttisch, um sich kurz darauf als deren Pfleger mit einer Schwester um die diesmal früh einsetzende Monatsblutung zu kümmern. Pedro Almodóvar: Sprich mit ihr

Marco, der weinende Mann, versucht hingegen, der Stierkämpferin Lydia ein Interview abzuschwatzen. Er versteht zwar nichts vom Stierkampf, ist aber laut eigenen Angaben ein "Spezialist für verzweifelte Frauen", und da qualifiziert sich seiner Ansicht nach die gerade von ihrem männlichen Kollegen Verlassene. Lydia, die sich bereits zuvor in einer Talkshow als den Anbiederungen von Medienlumpen resolut entgegentretende Frau zeigte, die um ihr Recht für Intimsphäre kämpft, reagiert entsprechend ungehalten, wird aber von dem leise aufdringlichen Journalisten von einer Schlange in der Küche befreit und zeigt sich dankbar.

Drei Monate später kreuzen sich die Wege von Benigno und Marco wieder, denn auch Lydia liegt nun als Komapatientin im selben Krankenhaus.

Genauso überraschend wie sich dem uninformierten Betrachter die Handlung präsentiert, so unvermeidlich zeigt sich im Nachhinein des Drehbuchautors Almodóvars von langer Hand geplante Struktur. Zwei Männer, zwei Frauen im Koma, zwei Paare, alles eigentlich sehr voraussehbar, doch bis zum kolossalen Schluß überraschte zumindest mich so manche Wendung. Der unheilvolle Stierkampf, der erste Blick aus der Wohnung des Freundes, oft überfährt einen Almodóvar mit seinen zwar unabdingbaren, aber doch wie eine visuelle Sturzflut über den Betrachter hereinbrechenden direkten Bilder.

Einige Betrachter zeigen sich geschockt durch die in ein Melodrama verpackten, nicht unbedingt politisch korrekt gehandhabten ethischen Fragen, doch noch stärker als bei "In the Bedroom" erscheint es wenig sinnvoll, bei einem derart kunstvoll arrangierten Film über eine womöglich durch die Geschichte gerechtfertigte Vergewaltigung zu diskutieren.

Das zentrale Bild, mit dem Almodóvar diese Vergewaltigung, die man auch als Heilung durch einen liebenden Partner interpretieren könnte, visualisiert, zeigt in einem etwas deplaziert wirkendem Stummfilm, der sich wie eine Hardcore-Version von "The Incredible Shrinking Man" ausnimmt, einen "schwindenden Liebhaber", der schließlich ganz zum Phallus geworden, für immer in seiner schlafenden Geliebten verschwindet, und ihr dabei ein wohliges Seufzen entlockt. Benignos sicher nicht ohne weiteres gutzuheißende Tat, die von voreiligen Moralaposteln gar mit Nekrophilie in Verbindung gebracht wurde, ist keine Leichenschändung, sondern zunächst einmal die verwirrte Liebesbekundung eines ebenso hilflos wie der schwanzgroße Stummfilmliebhaber erscheinenden Mannes, der jahrelang am Bett seiner Geliebten Wache hielt, obwohl jene nichts von seinen Gefühlen ahnen konnte. Benigno zeigt dabei weitaus mehr Aufopferung als beispielsweise Alicias Vater, der Psychologe, der dem Pfleger zwar schon früh auf die Schliche zu kommen scheint, sich aber ansonsten eher durch negative Gefühlsäußerungen darstellt, während der vermeintlich "harmlose" Benigno alles für "seine" Alicia gibt, und dessen Verbrechen dementsprechend auch analog zum Stummfilm wie eine Märtyrertat dargestellt wird.

Doch wer an dieser Stelle diesen sicher bedenkenswerten, aber vor allem genialen Kunstgriff Almodóvars auf seine moralisch-ethische Basis hin untersuchen will, der hat einfach nicht verstanden, daß es in diesem Film nicht um Pfleger geht, die sich an Schutzbefohlenen vergreifen, sondern um ein von vorne bis hinten durchdachtes Konstrukt, das nichtsdestotrotz Gefühle zu erwecken in der Lage ist, die man mit einer didaktisch vorbildlichen Dokumentation über Pflegepersonal oder dergleichen nie hätte erreichen können.

"Blue Velvet" ist ja auch kein Film über Polizeikorruption oder die Traumaentwicklung bei Entführungsopfern. Für Filmkunst dürfen fiktive Personen meines Erachtens auch gerne mal leiden, und falls sich durch "Hable con ella" irgendein Pfleger dazu inspiriert oder motiviert fühlen sollte, eine seine Patientinnen zu besteigen, so war er schon von vornherein ein viel trauriger Fall als Benigno.

Benigni ist weder Täter noch Retter noch Opfer, er ist vor allem nicht die Identifikationsfigur, aber der Interpretationsansatz dieses Films und die mit Abstand facettenreichste Figur in einem von interessanten Schicksalen und Charakteren nur so überströmenden Film, der zu den wenigen Highlights dieses Filmjahrs gehört, die man eigentlich mehrfach sehen sollte.

Nicht zwiespältig, sondern in jeder Hinsicht herausragend!