Kopfüber ins
Leben
Bildliteratur, Graphic novels, neunte Kunst: die fetten Jahre
der deutschen Comicbranche sind unweigerlich passé! Ach,
was waren das noch für Zeiten, als die Verlage sich primär
als Kulturvorkämpfer verstanden und ihr Augenmerk allein
auf historisch-kritische Klassikerausgaben und experimentelle,
erotische und exklusive Erwachsenenunterhaltung richten mußten.
Bestände wurden seinerzeit verwaltet, Sammlerlücken
geschlossen, aktuelle Trends verpennt. Heute entdeckt eine nachwachsende
Generation das Medium neu: Bildgeschichten als Massenware, Comics
als actionreiches und stereotypes Unterhaltungsprodukt. Die älteren
Comicfans wenden verächtlich den Kopf ab, und die etablierten
Verlage hecheln mit Belanglosigkeiten hinterher: Ehapa setzt
auf den Formel 1-Zirkus und die Derrick-Rennaissance, der Norbert
Hethke Verlag kennt die Käufer seiner Fix und Foxi-Nachdrucke
(Auflage: 200!) schon mit Namen, und der Carlsen Verlag ist seiner
Zeit wieder einmal weit voraus und hinkt ihr zugleich erheblich
hinterher - so ist es wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis
auch Tim und Struppi und Corto Maltese schwäbeln und pötteln
werden. Derweil kaufen die kids unbeeindruckt und scharenweise
ihre Kioskheftchen, die Buben bluttriefende amerikanische Superheldenpower,
die Mädels fernöstliche, mystische Mangaromantik.
Japanische Mangas (man = spontan; ga = Bild) benutzen eine
gänzlich andere Grammatik als amerikanische oder europäische
Bildgeschichten. Selten findet sich in einem Panel mehr als eine
Sprechblase, Handlungen und Situationen werden vielmehr in zahlreiche
Einzelbilder aufgelöst, wodurch die für japanische
Comics so typische zeitlupenartige und dennoch rasante Erzähldynamik
entsteht. In den Mangas bleibt Sprache auf das Notwendigste reduziert
und wird am liebsten überhaupt nur lautmalerisch eingesetzt;
der Umfang einzelner Geschichten erstreckt sich dadurch häufig
auf mehrere hundert bis sogar tausend Seiten. Trotzdem ist die
Manga-Lektüre ein kurzer Spaß, im Durchschnitt konsumieren
die japanischen Leser 15 Comicseiten pro Minute, eine schier
übermenschliche Leistung, doch im Vergleich mit dem in Yale
dozierenden Anglistikprofessor Harold Bloom, der sich damit brüstet,
mehr als 8 Buchseiten pro Minute lesen zu können, relativiert
sich diese Leistung auch schon wieder. In Deutschland wurde die
Mangatradition jahrzehntelang ignoriert, allein so unselige Zeichentrickfilmserien
wie »Heidi«, »Alice im Wunderland« oder
'Marco« gaben uns Einblicke in die japanische Zeichenkunst.
Ganz anders in Japan, dort verfolgte man die europäischen
und amerikanische Comicszene aufmerksam - und immer wieder gab
es Versuche, ausländische Comicprodukte auf dem Markt zu
etablieren. Mitte der 90er Jahre etwa lud das Manga-Magazin 'Morning'
(Auflage: 1 Million) verschiedene französische Zeichner
ein, exklusiv für Ihre Zeitschrift Comics zu entwickeln.
Das aufregende Ergebnis von Edmond Baudoin liegt jetzt als deutsches
Album vor.
Baudoin griff für seine poetische Bildgeschichte 'Die
Reise' auf ein älteres Werk von sich zurück und machte
aus 44 Seiten 226. Doch an keiner Stelle wirkt Baudoins Schwarzweißcomic
gestreckt oder aufgebläht, vielmehr kann man sich nach der
Lektüre kaum vorstellen, daß der Zeichner jemals mit
weniger Raum für seine Erzählung ausgekommen ist. Raum,
denn der Held der Bildgeschichte leidenschaftlich für sich
beansprucht. 'Die Reise' ist die stimmungsvolle Erzählung
eines Mannes, dem die Stadt und sein Angestelltendasein über
den Kopf wächst und der eines Tages alles hinter sich läßt:
sein Büro, seinen Alltag, seine Frau, seinen Sohn. Er begibt
sich daraufhin in das Abenteuer der Freiheit und lernt das Meer,
das Leben und sich kennen und lieben. 'Die Reise' ist die Geschichte
einer Befreiung, ein phantasievoller Bericht, der gekonnt die
Tücken des Kitsches und Klischees umschifft und in einem
völlig unerwarteten Finale endet.
Boudain fand für seine intensive Geschichte eindrucksvolle,
meist wortlose Bilder, der Kopf seines Helden ist offen und verschmelzt
immer wieder mit seiner Umwelt. Entstanden ist so ein herrlicher,
ungemein lyrischer Comic, der neben Barus 'LAutoroute du
Soleil' zu den schönsten Werken zählt, die für
das Manga-Magazin 'Morning' entstanden. Japanische Augen mögen
das anders sehen, denn leider wurde das reizvolle Experiment
bereits nach kurzer Zeit eingestellt.