Anzeige:
Marc Degens: Verführung der Unschuldigen. Roman


zurück

Die Reise

 … … … …..Edition Moderne
 … … … …..Dezember 1999
 … … … …..232 Seiten, sw
 … … … …..DM 39,80
von Edmond Baudoin


 …gelesen und kommentiert
von Marc Degens

Kopfüber ins Leben

Bildliteratur, Graphic novels, neunte Kunst: die fetten Jahre der deutschen Comicbranche sind unweigerlich passé! Ach, was waren das noch für Zeiten, als die Verlage sich primär als Kulturvorkämpfer verstanden und ihr Augenmerk allein auf historisch-kritische Klassikerausgaben und experimentelle, erotische und exklusive Erwachsenenunterhaltung richten mußten. Bestände wurden seinerzeit verwaltet, Sammlerlücken geschlossen, aktuelle Trends verpennt. Heute entdeckt eine nachwachsende Generation das Medium neu: Bildgeschichten als Massenware, Comics als actionreiches und stereotypes Unterhaltungsprodukt. Die älteren Comicfans wenden verächtlich den Kopf ab, und die etablierten Verlage hecheln mit Belanglosigkeiten hinterher: Ehapa setzt auf den Formel 1-Zirkus und die Derrick-Rennaissance, der Norbert Hethke Verlag kennt die Käufer seiner Fix und Foxi-Nachdrucke (Auflage: 200!) schon mit Namen, und der Carlsen Verlag ist seiner Zeit wieder einmal weit voraus und hinkt ihr zugleich erheblich hinterher - so ist es wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis auch Tim und Struppi und Corto Maltese schwäbeln und pötteln werden. Derweil kaufen die kids unbeeindruckt und scharenweise ihre Kioskheftchen, die Buben bluttriefende amerikanische Superheldenpower, die Mädels fernöstliche, mystische Mangaromantik.

Japanische Mangas (man = spontan; ga = Bild) benutzen eine gänzlich andere Grammatik als amerikanische oder europäische Bildgeschichten. Selten findet sich in einem Panel mehr als eine Sprechblase, Handlungen und Situationen werden vielmehr in zahlreiche Einzelbilder aufgelöst, wodurch die für japanische Comics so typische zeitlupenartige und dennoch rasante Erzähldynamik entsteht. In den Mangas bleibt Sprache auf das Notwendigste reduziert und wird am liebsten überhaupt nur lautmalerisch eingesetzt; der Umfang einzelner Geschichten erstreckt sich dadurch häufig auf mehrere hundert bis sogar tausend Seiten. Trotzdem ist die Manga-Lektüre ein kurzer Spaß, im Durchschnitt konsumieren die japanischen Leser 15 Comicseiten pro Minute, eine schier übermenschliche Leistung, doch im Vergleich mit dem in Yale dozierenden Anglistikprofessor Harold Bloom, der sich damit brüstet, mehr als 8 Buchseiten pro Minute lesen zu können, relativiert sich diese Leistung auch schon wieder. In Deutschland wurde die Mangatradition jahrzehntelang ignoriert, allein so unselige Zeichentrickfilmserien wie »Heidi«, »Alice im Wunderland« oder 'Marco« gaben uns Einblicke in die japanische Zeichenkunst. Ganz anders in Japan, dort verfolgte man die europäischen und amerikanische Comicszene aufmerksam - und immer wieder gab es Versuche, ausländische Comicprodukte auf dem Markt zu etablieren. Mitte der 90er Jahre etwa lud das Manga-Magazin 'Morning' (Auflage: 1 Million) verschiedene französische Zeichner ein, exklusiv für Ihre Zeitschrift Comics zu entwickeln. Das aufregende Ergebnis von Edmond Baudoin liegt jetzt als deutsches Album vor.

Baudoin griff für seine poetische Bildgeschichte 'Die Reise' auf ein älteres Werk von sich zurück und machte aus 44 Seiten 226. Doch an keiner Stelle wirkt Baudoins Schwarzweißcomic gestreckt oder aufgebläht, vielmehr kann man sich nach der Lektüre kaum vorstellen, daß der Zeichner jemals mit weniger Raum für seine Erzählung ausgekommen ist. Raum, denn der Held der Bildgeschichte leidenschaftlich für sich beansprucht. 'Die Reise' ist die stimmungsvolle Erzählung eines Mannes, dem die Stadt und sein Angestelltendasein über den Kopf wächst und der eines Tages alles hinter sich läßt: sein Büro, seinen Alltag, seine Frau, seinen Sohn. Er begibt sich daraufhin in das Abenteuer der Freiheit und lernt das Meer, das Leben und sich kennen und lieben. 'Die Reise' ist die Geschichte einer Befreiung, ein phantasievoller Bericht, der gekonnt die Tücken des Kitsches und Klischees umschifft und in einem völlig unerwarteten Finale endet.

Boudain fand für seine intensive Geschichte eindrucksvolle, meist wortlose Bilder, der Kopf seines Helden ist offen und verschmelzt immer wieder mit seiner Umwelt. Entstanden ist so ein herrlicher, ungemein lyrischer Comic, der neben Barus 'L‘Autoroute du Soleil' zu den schönsten Werken zählt, die für das Manga-Magazin 'Morning' entstanden. Japanische Augen mögen das anders sehen, denn leider wurde das reizvolle Experiment bereits nach kurzer Zeit eingestellt.

zurück