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8. November 2010
Wolfgang Buchholz
für satt.org

Herzblut und Vielfalt

Gleis 22

Das Gleis 22 ist ein Independent-Club, der sich sowohl bei Konzertgängern als auch bei Musikern großer Beliebtheit erfreut. In der Nähe des mit 21 Gleisen ausgestatteten Münsteraner Bahnhofs angesiedelt, wartet »das Gleis« seit über zwanzig Jahren mit einem exquisiten Musik-Programm auf.

Frank Dietrich ist seit den frühen Neunzigern dabei und seit vielen Jahren der hauptverantwortliche Booker für die Gleis 22-Konzerte. Unlängst saß er bei mir in der Küche. Der Interviewte trank Wasser, der Interviewer Bier. Wir hörten Lieblingsmusik plauderten über das Gleis 22.

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Wie ging es eigentlich los mit dem Club?

Frank Dietrich: Die Geburtsstunde war Ende der Achtziger, als jeden Mittwoch Punk- und Hardcore-Bands für eine schmale Mark unterm Dach des Jugendinformations- und Bildungszentrums (JIB) gastierten. Anfang der Neunziger bildete sich dann ein Team von Leuten, deren Idee es war: »Wie können wir unsere Lieblingsbands in Münster auftreten lassen?« Das war der Start des Gleis 22 heutiger Couleur. Wir zogen ins Erdgeschoss des JIB, wo tagsüber ein Café mit günstigem Mittagstisch residiert und am Abend Konzerte und auch Partys stattfinden. Es ging ganz klein los, aber irgendwie entwickelte sich in einer Art Schneeballeffekt ein weit über die Region bekannter Musikclub. Nach wie vor in eher kleinen Räumlichkeiten für maximal 300 Personen, veranstalten wir ca. 100 - 120 Konzerte pro Jahr.

Ihr ward mehrfach bester Club in der Spex und in anderen Polls. Was zeichnet das Gleis 22 besonders aus und warum spielen die Bands so gerne bei euch?

Für uns ist es wichtig, den Künstlern einfach eine nette Atmosphäre zu bieten. Das fängt bei gutem Essen an, das vor Ort frisch gekocht wird. Das kommt bei vielen Bands einfach gut an als Alternative zum sonst üblichen Pizza-Service. Von Notwist ist das Zitat überliefert: »Im Gleis 22 gibt es zwar nicht viel Geld, aber nette Leute und gutes Essen. Deshalb spielen wir sehr gerne dort.« Dann versuchen wir ein vielfältiges Programm jenseits des Mainstreams anzubieten. Im Herbst spielen bei uns beispielsweise alte Heroen wie Grant Hart, die Fehlfarben oder Giant Sand. Kürzlich hatten wir die Posies oder I Am Kloot für ein »mittelaltes« Publikum und auch neue Bands wie Horse Feathers auf der Bühne. Blitzen Trapper oder Frightened Rabbit kommen. Das Spektrum der letzten Monate reichte von Noise Rock mit My Disco, einer Lieblingsband, mit acht zahlenden Zuschauern, über Universal Congress Of, hier waren es ca. 25, bis zum ausverkauften Haus mit Anvil. Zugegebenermaßen haben wir aber auch einen sehr guten Standort. Künstler, die in Skandinavien, Benelux oder England spielen, kommen quasi immer bei uns an der Haustür vorbei, so dass ein Gig im Gleis immer im Bereich des Möglichen ist. Toll ist, dass man mit einem Gleis 22-T-Shirt positiv auffällt und häufig angesprochen wird. Highlight war hier, als mich Kevin Drew von Broken Social Scene in Neuseeland auf der Straße anhaute: »Hey, Gleis 22, my favourite Club in Europe.« Ich habe den erst gar nicht erkannt. Und am Abend hat er uns dann nach dem Broken Social Scene-Konzert in Wellington noch auf ein Bier eingeladen. Das war einfach großartig.

Wie kommst Du an Bands, die kurze Zeit später ziemlich angesagt sind?

Gut, in den Neunzigern hatten wir alle späteren deutschen Größen von Blumfeld über Tocotronic bis zu Notwist zu Gast. Interpol, Mando Diao oder letztes Jahr The Gaslight Anthem haben bei uns gespielt. Und Maximo Park war das erste Konzert überhaupt bei uns, das schon vorher ausverkauft war. Ich würde das auch nicht überbewerten, wir werden halt einfach gerne angefragt.

Wie funktioniert das Geschäft des Konzert-Booking?

Da wir mittlerweile einen guten Namen haben, fragen die Agenturen der Künstler bei uns an, den umgekehrten Fall gibt es kaum noch. Im Team überlegen wir dann, welche Konzerte wir machen wollen und treffen die Auswahl. Dann geht es an die Terminfindung und die Gagenverhandlung. Sind wir uns einig, geht es weiter mit PR-Aktivitäten, Hotelbuchungen und der sogenannten »Itinerary«, in dem die Agentur den haargenauen Ablauf vom Eintreffen des Künstlers bis zum »im Hotel ins Bett fallen« wissen will. Du siehst, das ist zum Teil viel nervige Klein-Klein-Arbeit. Das Internet hat die Arbeit aber um ein Vielfaches erleichtert. Wer früher schon mal Fotos in PR-Mappen geklebt hat, kann das wahrscheinlich nachvollziehen.

Was braucht man, um ein guter Konzert-Booker zu werden?

Ich würde mal sagen, einen breit gefächerten Musikgeschmack, viel Erfahrung und einen guten Riecher. Wenn Du einmal einen guten Namen hast als Club, entwickelt sich der schon angesprochene Schneeball-Effekt. Unser Ziel war es, eigentlich nie groß rauszukommen. Das war ein schleichender Prozess. Wir sind nach wie vor eher semiprofessionell, aber das funktioniert bei uns vielleicht besser als bei stärker kommerziellen, pseudo-professionellen Läden. Unser motiviertes Team mit seiner Liebe zu Musik ist, denke ich, unsere Stärke.

Gibt es starke Konkurrenz im Konzertgeschäft in Münster?

Bei den Konzertveranstaltern in Münster gibt es zwar eine gewisse Konkurrenzsituation, aber es gibt untereinander keine Animositäten. Meistens stimmen wir uns ab, und ein Veranstalter hat gewisse Vorrechte bei bestimmten Künstlern. Aber da gibt es natürlich auch schon mal Ausnahmen. Wir hatten eher Vorbilder, wie das Odeon in Münster, wo REM, Pavement oder die Red Hot Chili Peppers noch Club-Gigs gespielt haben. Toll war auch das alte Forum Enger, wo geniale Bands gespielt haben. Und große Klasse ist das Vera in Groningen. Echte Vorbilder für uns.

In welchen Bereichen bewegen sich die Gagen?

Betriebsgeheimnis. (War aber auch nicht zu erwarten, dass ein Westfale sich so weit öffnet, Anm. des Verfassers) Fakt ist, dass wir hart kalkulieren müssen. Bevor ein Ton gespielt ist, geht schon ein nicht unwesentlicher Betrag für die GEMA, die Technik, Hotels oder das Catering drauf. Die Einnahmen halten sich bei einem kleinen Club mit moderaten Eintrittspreisen auch in Grenzen. Die meisten Independent-Bands benötigen großen Enthusiasmus, um am Ball zu bleiben. Reich wird davon keiner.

Das schönste Konzert?

Puh, was für eine schwere Frage Das kann ich gar nicht entscheiden. Aus den frühen Tagen sind mir die Konzerte von Bailter Space und Band of Susans als herausragend in Erinnerung geblieben. Bei den aktuellen Gigs waren Leisure Society und The Phenomenal Handclap Band besonders schön.

Wer ging gar nicht?

Nun, Namen werde ich hier natürlich nicht nennen (mir hat er sie dann später doch genannt, Anm. des Verfassers, aber der wohnt auch schon länger in Westfalen). Doof finden wir, wenn mit Gitarrenständern nach unserem Mixer geworfen wird, wenn nach privaten Übernachtungsmöglichkeiten die Spuren von Fäkal-Erotik in der Wohnung zurückbleiben oder eine solche für einen kostenlosen, mehrtägigen Kurzurlaub in Münster inklusive weiblicher Begleitperson genutzt wird. Und das obligatorische verwüstete Hotelzimmer hatten wir auch schon. Im Großen und Ganzen kann man die negativen Erlebnisse in den letzten 20 Jahren an zwei Händen abzählen.


Die im Interview erwähnten Gigs im Überblick:
  • 11. November, 20:30: Blitzen Trapper + Pearly Gate Music
  • 13. November, 20:30: Fehlfarben + Die Radierer
  • 15. November, 20:30: Giant Sand + Lonna Kelley
  • 17. November, 20:30: Frightened Rabbit + Talking Pets
  • 01. Dezember, 20:30: Grant Hart + Kenneth Minor

Wen willst Du unbedingt bei euch spielen sehen?

Die meisten tollen Bands, die für unsere Größe realistisch sind, waren schon mal da. Mit Grant Hart erfüllt sich im Dezember ein lange gehegter Wunsch. Für Teenage Fanclub sind wir wohl noch zu klein, Fugazi wären noch klasse. Und vielleicht nochmal die reformierten Guided By Voices, die ihren ersten Europa-Gig 1994 bei uns gespielt haben.

Deine Lieblingsband? Deine Lieblingsplatte?

Ich liebe alte Gitarrenpop-Sachen wie die Go-Betweens und die Chills. Aktuell gefallen mir Frightened Rabbit, Bear In Heaven und Autolux sehr gut. Gerne höre ich alte Funk- und Soul-Sachen. An Insel-Platten fallen mir die Lemonheads mit »It’s A Shame About Ray« und Paul Wellers »Wild Wood« spontan ein.

Du warst in England, du warst vor kurzem in Haldern.

In England waren wir beim von Goldrush-Musikern organisierten Truck Festival. Hier gefielen mir besonders Esben And The Witch, Phantogram und Fonda 500. Nett auch der Kuchenverkauf von älteren Damen des Rotary Clubs. In Haldern waren meine Highlights Serena Maneesh und Bear In Heaven.

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...und, und, und... Mit Frank Dietrich kann man beliebig lange über alte und neue Musik fachsimpeln. Das Gespräch dauerte so lange wie The Coral – Butterfly House, Wilco – Sky Blue Sky, Beachfield – Brighton Bothways, John Fogerty – Revival, Meet Glen Campbell und diverse Demos von XTC und The Dukes of Stratosphere. Das war meine Lieblingsmusik an dem Abend.


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