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16. August 2010
Robert Mießner
für satt.org

  100 Jahre Einsamkeit: Markus Detmer Plays Staubgold

100 Jahre Einsamkeit:
Markus Detmer Plays Staubgold

» staubgold.com


Live:


Für alle anderen

Unter seinem Fenster kämpft sich die Straßenbahn M1 die Berliner Kastanienallee hinauf. Oben in Markus Detmers Wohnung, die gleichzeitig als Büro fungiert, werden hochgradig städtische Sounds verlegt. Trotzdem könnte der Besucher meinen, eine Enklave betreten zu haben. Die Plattenregale sind gut gefüllt: John Cales LP-Box »New York in the 1960s« steht ganz oben. Die singenden und sägenden Surrealisten Nurse With Wound haben einen Extraplatz. Beide geben eine ungefähre Ahnung von der Musik ab, der sich Detmer mit seinem Label Staubgold verschrieben hat. Er nennt sie Experimental, Electronica und Psychedelic. Natürlich weiß er, dass das vieles sein kann. Einigen wir uns: Bei Staubgold flirrt, knistert und surrt es ordentlich. Detmer kommt aus der Kassettenszene. Punk und Industrial nutzten das Medium, um Musik preiswert und in Eigenregie an Frauen und Männer zu bringen. Detmers Kassettenlabel hieß Progressive Entertainment. Staubgold gründete er 1998. Den Namen nahm er von seiner Mutter, die so einen Gedichtband nennen wollte. Er kam dann als »Schattenflüge« heraus. Die anfängliche Idee lebt jetzt auf seinem Label weiter. Die ersten Staubgold-Veröffentlichungen sahen selber wie Bücher aus. Erixmas »Sphere Of Magnetick Virtue«, eine exzentrische Mischung aus Tapeloops, Ambient und Folk, kam in einem hochkantigen, überproportionierten Schuber. Das Coverfoto war draufgeklebt, die Auflage betrug 300 Stück. Detmer betrieb das Label damals noch von Köln aus und verdiente seinen Lebensunterhalt als Journalist.

2003 zog er aus privaten Gründen nach Berlin. Mittlerweile konnte er von Staubgold leben. Die erste Platte, mit der das ging, war »Kölner Brett«: To Rococo Rot, Robert und Ronald Lippok und Stefan Schneider, vertonten darauf Architektur. Gemastert hatte Bo Kondren. Die To Rococo Rot-Compilation »Taken From Vinyl« ist ebenso auf Staubgold erschienen. In Polen kümmerte sich das rührige Label Gustaff Records um die Veröffentlichung. Mit dessen Gründer Janusz Mucha arbeitet Detmer gerne zusammen. Gustaff, ansässig in Zielona Góra, behaupten in ihrem Logo doppeldeutig, ihre Musik sei »(un)nötig«. Es gibt weltweit Leute, die können nicht ohne diese Klänge: In Detmers Büro liegen Päckchen, die nach Finnland und Holland gehen. Die USA bestellen sehr gut, meint er. Und Japan, das Land, in dem man mit Industrial zum Popstar werden kann. Detmer geht mit Staubgold auf Reisen und ist mit seinen Künstlern und als DJ gut rumgekommen. Durch Polen sind sie gereist und in Melbourne und Sydney gewesen. 2008 dann China: Staubgold bespielten Pekings Mini-Midi-Festival. Das ist der kleine, verwegene Ableger des großen Midi-Festivals, das just 2008 vor den Olympischen Spielen abgesagt wurde. Mini Midi durfte stattfinden. Der Veranstalter war erst erleichtert, als es vorbei war. Detmer will noch weiter: In die USA natürlich. Afrika interessiert ihn und die Frage: Ob und wie funktioniert seine Musik dort? Global Groove, ein Festival für elektronische Musik in Delhi, ist angedacht. Und Staubgold möchte nach Russland.

  Markus Detmer
Markus Detmer (Foto: Staubgold)

So gut wie vor seiner Haustür ist aber das Coverfoto für »100 Jahre Einsamkeit: Markus Detmer Plays Staubgold« entstanden. Wer mit der Straßenbahn nicht die Kastanienallee hoch will, sondern die M8 bis zur Endstation nimmt, wird im Grenzgebiet zwischen den Stadtteilen Mitte und Wedding einen türkischen Imbiss finden, der sich den Namen von der Chausseestraße geborgt hat. Die von Ingo Kniest fotografierte Auslage ist Appetitanreger der Compilation-CD, mit der Staubgold seine hundertste Veröffentlichung feiert. Wir sehen Teigwaren, Snacks, Sekt und Wein, eingerahmt von Küchenkräutern. Nachtaktive Berliner kennen den Anblick und einige vielleicht auch die Musik auf der CD. »100 Jahre Einsamkeit« hat zwei Vorgänger: 2008 erschien »Dinner Music For Clubbers: Peter Grummich Plays Staubgold«, 2009 dann »Rauschgold: Alec Empire Plays Staubgold«. Die Idee beider Alben war, befreundete Künstler mit einem Mix das Label interpretieren zu lassen. Grummich konzentrierte sich auf Ambient, Empire auf Noise. Beiden ähnlich hat Detmer sein Album wie ein DJ-Set organisiert, möchte aber möglichst alle Facetten von Staubgold abdecken. Er eröffnet mit eigenwilliger Elektronik: Mapstations (Stefan Schneider) »I Begin To Know The Map« läßt die Stimme Dietmar Daths auf ein repetitives Arrangement mit Vogelstimmen treffen. To Rococo Rot treten auf. Detmer selbst ist dabei mit seinem Projekt Klangwart, das er mit Timo Reuber betreibt. Ihr Gast ist Philippe Petit: Er bezeichnet sich als musikalischen Seiltänzer und arbeitet mit Lydia Lunch und James Johnston (Gallon Drunk). Dann kriegt »100 Jahre Einsamkeit« mit Alejandro Franov und Thilges einen leichten, nicht mit Kitsch zu verwechselnden Dreh ins Weltmusikalische. An der nächsten Station warten schon David Cunninghams Flying Lizards. Die waren 1979 mit ihrer blechern geklöppelten Version von »Money (That’s What I Want)« sogar in den britischen Top 40. Staubgold bringt von ihnen demnächst »I’ve Got You Under My Skin« und »The Secret Dub Life Of The Flying Lizards«. Von der ist »Shake«, der Beitrag der Lizards zu »100 Jahre Einsamkeit«. Den Gesang auf dem Track steuert Ras Donovan bei. Eine gute Überleitung: Faust vs. Dälek sind altgediente vs. jüngere Schrägtöner. Dälek, die The Fall des Hip Hop, traten vorigen November im Berghain auf. Support (!) waren FM Einheit und Hans Joachim Irmler.

Nach dem krautinfizierten Hip Hop kommt es zu einem eleganten Bruch. War »100 Jahre Einsamkeit« bis zu diesem Punkt rhythmisch, so wird das Album jetzt atmosphärisch. Ekkehard Ehlers, für Staubgold hat er den Freejazz-Pionier Albert Ayler interpretiert, spielt »Ain’t No Grave«, das Traditional des religiösen Songwriters Brother Claude Ely. Auf Ehlers folgt Oren Ambarchi mit »All Acrostics (Jim O’Rourke & Tim Barnes Remix)«. Der Multiinstrumentalist und Australier mit jüdisch-irakischem Background taucht auf Platten der Doom-Metal-Avantgardisten Sunn O))) auf und veröffentlichte unlängst auf John Zorns Tzadik-Label. Ähnliches Terrain bearbeiten Heaven And aus Berlin und Wien. Detmer hat sie vor den Pop gesetzt. Denn der kommt kurz vor Ende mit Hassle Hound, Sun und Jasmina Maschina in sehr schön psychedelischen Varianten auch noch zu seinem Recht. Zum Schluß Ekkehard Ehlers und Detmer, der über Ambientschleifen die mystische Schlußpassage aus Gabriel García Márquez’ »Hundert Jahre Einsamkeit« liest. Diese Musik mag weit neben dem liegen, was der Markt abfeiert. Einsam macht sie nicht: Markus Detmer hat zu seiner Jubiläums-CD noch einen Extrasampler zusammengestellt. Abonnenten des britischen Magazins The Wire erhalten ihn als Special Edition in der Reihe »Below The Radar«.


Erstveröffentlichung in: junge Welt, 4. August 2010