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16. November 2009
Robert Mießner
für satt.org

Hoch auf der nach oben offenen Brötzskala

Das Hochzeitslied von Jazz und Punk gleich zweimal:
Lydia Lunch tourt mit Big Sexy Noise durch Deutschland.
Ted Milton kommt mit Blurt nach Berlin.

 

Jazz sei eine Scheißmusik für Studenten, befand John Lennon mal. Es gibt da ein paar Sachen, die konnte er noch nicht gehört haben, zum Beispiel die Kanadier Nomeansno und die Holländer The Ex. Beide haben vorgemacht, wie dem Jazz das Geschmäcklerische und dem Punk der Gleichklang ausgetrieben werden kann. Und bereits 1970 taten die Stooges das auf »Fun House« (1970): Ihr »L.A. Blues« ist ein Track, der die Synapsen wieder auf Null setzt. Genauso gut geht das mit Peter Brötzmanns metallisch swingender Supergroup Last Exit. Ein Club in Göteborg heißt kurz und knapp »Brötz!« (mit Ausrufezeichen, versteht sich). Dort dient »Brötz« dem Publikum als Skala für die Lautstärke. Wie viele Punkte würde John Zorns Jazz-Speedcore-SM-Geschwader Naked City oder der Hardcore-Mathematiker Elliott Sharp kriegen? Oder Marc Ribot’s Ceramic Dog? Im vorigen Jahr gaben sie im Haus der Kulturen der Welt ein Konzert, auf dem sie Jazz, Punk und Latin miteinander tanzen ließen. Es war Zukunftsmusik. Diese Woche sind mit Big Sexy Noise und Blurt gleich zwei Formationen in Deutschland, die ganz hoch auf der nach oben offenen Brötzskala anzusiedeln sind.

Hinter Big Sexy Noise stehen Lydia Lunch (Gesang), James Johnston (Gitarre), Terry Edwards (Orgel, Altsaxofon) und Ian White (Drums). Die drei eleganten Herren sind natürlich Gallon Drunk, die legendäre Londoner Band, die The Birthday Party und Charles Mingus gleichermaßen verehrt. Mit Lunch haben sie schon mehrmals gearbeitet. Lydia Lunch, die mit 16 Jahren in New York landete, hinter sich eine Kindheit, in der Abscheu reichlichst genährt worden war. Sie gründete Teenage Jesus & the Jerks, eine No-Wave-Band, die mit kurzen Auftritten und Songs berühmt-berüchtigt wurde und ihren letzten Auftritt im Kreuzberger SO36 hatte. Erst 2008 gab es zwei Reunionkonzerte in New York. Eine sinistre Version von Jazz fand sich bereits auf Lunchs »Queen Of Siam« (1979). Mit »8-Eyed Spy« (1981) sollte das dann förmlich explodieren. Wieder mitternächtlicher wurde »Smoke In The Shadows« (2003). Jetzt also Big Sexy Noise. Ihren Erstling gab es nur auf Vinyl. Und irgendwie erinnerte das Cover doch sehr an »Black Monk Time« (1966), eins der Alben, mit dem Rock ’n’ Roll ernstlich bedrohlich wurde. Zufall oder nicht: Big Sexy Noise machen eine so intelligente wie sinnliche Musik zu einer Zeit, in der nichts notwendiger ist. Jetzt ist eine komplette CD erschienen. Das Album beginnt mit »Gospel Singer«, einem mit Kim Gordon geschriebenen Song. Die Coverversionen stammen von Lou Reed. Und Lynyrd Skynyrd.

Blurt wiederum sind das Baby Ted Miltons (Gesang, Saxofon), der 1980 seinen Job als Puppenspieler hinwarf und mit Bruder Jake (Schlagzeug) und Peter Creese (Gitarre) etwas spielte, was verzweifelte Kritiker Afro-Punk oder Dada-Punk nannten. So falsch lagen sie gar nicht. Das Trio aus Stroud in Gloucestershire nannte seine erste Single »My Mother Was A Friend Of An Enemy Of The People«. Milton trug (und trägt) Iro zum Anzug. Neben Blurt war er mit Back-To-Normal, Paddy Steer, Andreas Gerth (Tied & Tickled Trio), Herman Martin und Tam Tam zwischen Jazz und Elektronik unterwegs. Nachhören kann man das auf »Odes« (2007). Blurt nun befinden sich seit längerem auf einer nicht endenden letzten Tour. Neben Milton dabei sind Steve Eagles (Gitarre) und David Aylward (Schlagzeug). TM Recordings haben kürzlich mehrere Klassiker neu aufgelegt: Das Album »Blurt« (1982) plus die Singles »White Line Fever« (1984), »Get« (1980) und »The Fish Needs A Bike« (1981). Ähnlich Lydia Lunch geht es Blurt nicht um eine Nabelschau der Achtziger: Zeitgleich erscheint »The Bells«, Miltons erster richtiger Protestsong im dreißigsten Jahr von Blurt. Es geht um den Afghanistankrieg. Die B-Seite der Single heißt »Block«. Zu kaufen gibt es das entweder digital oder auf dem Konzert. 250 Stück sind gepresst. Gute Gründe also, das Haus zu verlassen. Studenten müssen übrigens nicht draußen warten.

Big Sexy Noise - Flyer Blurt - Flyer