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19. Mai 2009
Christina Mohr
für satt.org

Spirale(n) der Erinnerung

„It's an odd thing isn't it, to revisit a past that is so past, events that happened so long ago. It's even stranger to combine into context a time that was so perfect in its place, with the wisdom that comes from over two decades of living, couched in the hindsight of that wisdom. How bizarre it is to look back in that fashion, to see a mirror of your younger self, and hear music that is so very much of its era, but at the same time, so fluidly timeless that it is evocative today, and tomorrow as well.“

Autorin Amy Hansons Einleitung im Booklet des Re-Release von Nick Cave & The Bad Seeds' „The Firstborn is Dead“ passt zu allen hier vorgestellten neuen alten Platten – (langer Gedankenstrich) - Musik, die perfekt in ihre Zeit paßte und gleichzeitig so zeitlos ist, dass sie heute und auch morgen noch „bewegend“ wirkt, stellte vor einigen Jahren auch Radiomann Klaus Walter in einer Rubrik der Zeitschrift Intro namens „Spirale der Erinnerung“ vor. Da Walter den schönen Titel bei Justus Köhncke ausgeliehen hatte, dessen erstes Soloalbum so hieß, fühlen wir uns so frei, diesen Artikel ebenfalls mit „Spirale(n) der Erinnerung“ zu überschreiben. Denn, siehe Amy Hanson, „evocative music“ zirkuliert spiralförmig: entsteht irgendwann, kreist durch Zeit und Raum und kehrt nach einer Weile ganz vorne ins Bewußtsein zurück.

Große und kleine Plattenfirmen entdecken die „Indie“-Musik (besseren Ausdruck bitte hier:... einfügen) der achtziger und neunziger Jahre wieder und beliefern den Markt mit opulent ausgestatteten Re-Releases von Bands, die während ihrer ersten Wirkungsphase von hohen Verkaufszahlen und einem großen Publikum oft weit entfernt waren. Ende Mai wird das Frühwerk von Tocotronic wiederveröffentlicht, „Dorfpunks“, Lars Jessens Adaption von Rocko Schamonis gleichnamigem Coming-of-Age-Roman, läuft erfolgreich in deutschen Kinos und auch die schreibende Zunft blickt in punkto Pop zurzeit ausgiebig zurück: Hollow Skai schreibt über die NDW, bei Lilienfeld erscheinen Peter Heins gesammelte Songtexte, gleich mehrere Titel widmen sich dem noch länger zurückliegenden Phänomen Woodstock (alle genannten: soon to come bei satt.org). In Zeiten musikwirtschaftlichen Niedergangs und gleichzeitigem myspace-Overkill scheint die Lösung für Labels, Verlage und Fans im Bewahren und Neuentdecken „alter Werte“ zu liegen. Entgegen Johnny Thunders' unsterblicher Songzeile „You Can't Put Your Arms Around a Memory“ kann man die seligen Achtziger derzeit sehr wohl zumindest audiophil befingern; ob man im Fall der hier ausgewählten Re-Releases von einer Retrowelle oder -seligkeit sprechen kann, sei mal dahingestellt. Für Menschen meines Alters und mit ähnlicher Popsozialisation ist das Signal aber klar: „Wir“ (laut Florian Illies' Zeiteinteilung die von 1965 – '75 Geborenen, also die sogenannte Generation Golf) werden inzwischen als zahlungskräftige Käuferschicht gesehen, so wie vor einigen Jahren die Generation unserer Eltern, die mit Luxusausgaben von Stones-, Byrds- und Dylan-Platten in die Läden gelockt wurde. „Wir“ sind also alt und reich genug (ha!), um uns seinerzeit identifikationsstiftende Musik nochmal zuzulegen, die mittlerweile unhörbaren Chrom-Cassetten durch luxuriöse Prachtpakete (s.u.) zu ersetzen und die begehrten Schätze von damals, die nicht immer einfach zu ergattern oder mangels Taschengeld schlicht nicht erschwinglich waren, endlich in Händen zu halten.

Aber genug der Konsum- und Kapitalismuskritik, packen wir die Goodies lieber mal aus:

  From Her to Eternity
Nick Cave & The Bad Seeds:
From Her to Eternity


The Firstborn is Dead
The Firstborn is Dead

Kicking Against the Pricks
Kicking Against the Pricks

Your Funeral, My Trial
Your Funeral, My Trial

Nick Cave & The Bad Seeds

Die bei Mute/EMI wiederveröffentlichten ersten vier Alben von Nick Cave & The Bad Seeds – geplant sind Re-Releases aller vierzehn Bad Seeds-Platten - lassen Sammlerherzen höher schlagen: prächtige Ausklapp-Digipaks, jeweils mit CD + DVD bestückt, dazu aufwändige Booklets mit Seiten aus Caves Notizbuch und und und. Die Alben sind jeweils remastered, auf den DVDs befindet sich das komplette Album noch einmal in 5.1 Surround Sound, dazu gibt es Originalvideos zu „In the Ghetto“ oder „The Singer“. Als vierteilige Fortsetzung ist der bisher unveröffentlichte Interviewfilm von Iain Forsyth und Jane Pollard, „Do You Love Me Like I Love You“ enthalten, in dem Mitmusiker, Weggefährten, Journalisten und Producer die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Albums reflektieren. Unter anderem dabei: Flood, Martin Gore, Simon Reynolds, Mick Harvey, Thomas Wydler, Barry Adamson, Blixa Bargeld, Alexander Hacke und viele mehr. Auch das schlichte Wiederhören der Bad Seeds-Musik ist die Investition wert: der kaputte, verstörende, fragmentarische Drogenblues von „From Her to Eternity“ (1984, ein Jahr nach dem Ende von Birthday Party) ließ nicht erwarten, dass Nicholas Edward Cave zehn Jahre später mit Kylie Minogue im Duett singen oder 25 Jahre später bei bester Gesundheit seinen zweiten Roman veröffentlichen würde. Man konnte nicht einmal damit rechnen, dass Cave 1984 überhaupt überleben würde. Sein Freund und Bad Seed-Kollege Mick Harvey drückt im Interview dezent aber unmißverständlich aus, dass die Aufnahmen zu „From Her...“ während Caves dramatischster Drogenphase entstanden und dementsprechend schwierig vonstatten gingen. Auf „The Firstborn is Dead“ ('85) und „Your Funeral... My Trial“ ('86) forcieren Cave und die Bad Seeds ihre Gottes- und Bluesaffinität, die bis heute ihre Arbeit bestimmt. Harvey nennt „The Firstborn...“ „an absolutely perverted blues album“ - wer nicht versteht, was Harvey damit meint: bitte „Tupelo“ auflegen. Das Lied über Elvis Presleys Geburtsort ist auch heute noch eines der eindrucksvollsten Bad Seeds-Stücke und so etwas wie ein Schlüsselsong für Caves Gesamtwerk. Auf dem dritten Bad Seeds-Album „Kicking Against the Pricks“ ('86) huldigt Cave seinen Helden; die Coverversionen von Velvet Underground, John Lee Hooker, Roy Orbison, Leonard Cohen und Gene Pitney stecken Caves musikalischen Background ab und machen das Album gleichzeitig zugänglicher als frühere Aufnahmen.

» nickcaveandthebadseeds.com


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  Morrissey: Southpaw Grammar
Morrissey:
Southpaw Grammar
RCA/SonyBMG

Morrissey live in Deutschland:
  • Offenbach, Capitol: 9.6.09
  • Köln, Palladium, 11.6.09
  • Berlin, Columbiahalle, 12.6.09
  • Bremen, Pier 2, 14.6.09


Morrissey: Southpaw Grammar

Morrisseys fünftes Soloalbum, „Southpaw Grammar“ von 1995, ist unter Fans eins der Umstrittensten und kommt auch bei Kritikern meist nicht besonders gut weg: Mozza verabschiedet sich vom melodisch-melancholischen Gitarrenpop der Smiths, lediglich „Dagenham Dave“ erinnert an Morrisseys ehemalige Band. Die „Southpaw“-Begleitband ergeht sich in mehr als zehn Minuten langen Gitarrengegniedel, „The Operation“ beginnt mit einem zweieinhalbminütigen Schlagzeugsolo, an anderer Stelle wird ein Schostakowitsch-Sample verwendet; ausfasernde, komplexe Tracks wie „Southpaw“ würde man wohl am ehesten als Progrock bezeichnen, um den Meister nicht vor den Kopf zu stoßen. Die Single „Boy Racer“ wiederum rockt ziemlich hart, die Spuren dieser Phase lassen sich bis heute auf Morrisseys aktuellem Album „Years of Refusal“ nachvollziehen. „Southpaw Grammar“ sollte offensichtlich nach dem erfolgreichen „Vauxhall and I“ eine Wegmarke in Morrisseys Karriere sein, die Abwendung von Fan-pleasing-Songs zu ambitionierten Experimenten in Rock. Weshalb ausgerechnet dieses Album in Prachtausstattung wiederveröffentlicht wird, liegt hauptsächlich daran, dass das Cover der Originalversion nicht von Morrissey abgesegnet war – zu sehen war ein Foto des Boxers Kenny Lane aus den frühen sechziger Jahren. Den Re-Release ziert ein Foto von Morrissey selbst, das, wie auch die übrigen Bilder im Booklet, in Texas von der Fotografin und Künstlerin Linder Sterling geschossen wurden. Neben den vier bisher unveröffentlichten Tracks („Honey, you know where to find me“, „Nobody Loves Us“, „You Should Have Been Nice to Me“, „Fantastic Bird“) ist das aufwändige Booklet ein triftiger Grund für die (erneute) Anschaffung von „Southpaw Grammar“: Morrissey himself erklärt, weshalb er das Album neu herausbringen wollte und erfreut den Fan mit einer „conversation with himself“ (Los Angeles, 2009): „In eternity, Southpaw Grammar will bring me to life even when I'm dead. The age I was I shall always remain, head in the clouds and a mouth full of pie.“

» itsmorrisseysworld.com


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  Enter The Vaselines
Enter The Vaselines Doppel-CD,SubPop
» myspace


* ... heißt bei Nirvana „Jesus doesn't want me for a Sunbeam“, der Text ist aber gleich.

Enter The Vaselines

Sie waren Kurt Cobains Lieblingsband: Kurt liebte die Vaselines aus Edinburgh so sehr, dass er sogar seine Tochter nach Sängerin Frances McKee benannte. The Vaselines – im Kern ein Duo: Gitarrist Eugene Kelly und Frances – gründeten sich 1986, schon 1990 war Schluss, doch ihr Einfluss ist bis heute spürbar, nicht zuletzt in Lo-Fi-Popbands wie den Woog Riots. Der Sound der Vaselines war schrammelig und sweet zugleich, Frances' kindliche Stimme schaffte die ganz hohen Töne nicht immer, im Gegensatz zu ihr brummelte Eugene in tieferen Tonlagen herum. Als Geschwister im Geiste kann man Bands wie Teenage Fanclub (ebenfalls Schotten) bezeichnen, oder alle Bands, die den DiY-Gedanken des Punk verinnerlicht hatten und mit eingängigen, poppigen Melodien verbanden. Wie so viele wurden die Vaselines erst nach ihrer Auflösung einem größeren Publikum bekannt, nämlich als Kurt Cobain und Nirvana mehrere Songs der Vaselines coverten: „Jesus wants me for a Sunbeam“*, „Son of a Gun“ und „Molly's Lips“ coverten – Eugene Kelly trat außerdem 1991 mit Nirvana beim Reading Festival gemeinsam auf, gespielt wurde: natürlich ein Vaselines-Song („Molly's Lips“). Wer die Vaselines während ihrer Original-Appearance verpaßt hat, bekommt nun von SubPop eine neue Chance: im Paket „Enter the Vaselines“ (2-CD- oder 3-LP-Box) befinden sich alle „Hits“, Demotracks und bisher unveröffentlichte Liveaufnahmen.


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  The Jesus and Mary Chain: The Power of Negative Thinking
The Jesus and Mary Chain: The Power of Negative Thinking
4-CD-Boxset
Rhino/Warner
» myspace


** Die Entstehungsgeschichte von Jesus and Mary Chain und ihres einzigartigen Sounds ist detailliert nachlesbar im leider vergriffenen Buch von John Robertson, „The Jesus and Mary Chain. Eine Feedback-Geschichte“, auf deutsch erschienen im Sonnentanz-Verlag (1989). Vielleicht bei ebay zu ergattern...

The Jesus and Mary Chain

Simon Reynolds' Standardwerk über Postpunk, „Rip it Up and Start Again“ endet mit dem Jahr 1984, also kurz bevor The Smiths und The Jesus and Mary Chain mit ihren Debütalben eine neue Ära britischer Indie-Gitarrenmusik einläuteten. Reynolds erklärt seinen bewussten Ausschluss der Smiths und JAMC damit, dass beide Bands auf die Musik der sechziger Jahre zurückgriffen, zitierten und neuinterpretierten und so das Kriterium für Postpunk, nämlich den unbedingten Blick nach Vorne, nicht erfüllten. Das ist in Reynolds' Argumentation schlüssig und nachvollziehbar, doch wird niemand, der im Jahr 1985 (oder später) Bekanntschaft mit JAMC's Album „Psychocandy“ machte, abstreiten, dass ihn/sie diese Musik wie ein Blitzschlag traf und keineswegs so klang wie schon mal gehört: brachiales Feedbackfiepen, Gitarren- und Drumsounds aus dem tiefsten Keller, im Kontrast dazu liebliche Surfmelodien wie aus dem Beach Boys-Lehrbuch. Schon beim nächsten Album „Darklands“ verzichteten die Reid-Brüder Jim und William weitgehend auf das charakteristische Feedback, um eine Stigmatisierung ihres Sounds zu verhindern**. Beibehalten wurde ein erdiger, dunkler Blueseinschlag, gemischt mit Wave- und Punkelementen, zusammengehalten von Jim Reids Stimme. Die Geschichte von The Jesus and Mary Chain ist voller Höhen und Tiefen und insgesamt zu zersplittert, um sie an dieser Stelle nachzuzeichnen, nur so viel: nach brüderlichem Zwist, der 1998 zu einer spektakulären Prügelei während eines Konzerts in Los Angeles und schließlich zur Trennung führte, spielen JAMC seit 2007 wieder zusammen.

„The Power of Negative Thinking“, eine Sammlung von B-Seiten und Raritäten, ist das inzwischen dritte bei Rhino/Warner erschienene JAMC-BoxSet, zuvor wurden fünf Studioalben und alle Singles in neu gemasterten Versionen wiederveröffentlicht. „The Power...“ ist wie ein Buch gestaltet, mit äußerst edler Ausstattung und ausführlichen Linernotes vom NME-Journalisten Dele Fadele. Beigelegt ist außerdem ein großformatiges Poster mit allen JAMC-Plattencovern und einem Band-Stammbaum, erstellt von „Rock Family Trees“-Erfinder Pete Frame. Und die Musik: haut einen immer noch so um wie vor über zwanzig Jahren. The Jesus and Mary Chain widmeten den B-Seiten ihrer Singles stets genauso viel Aufmerksamkeit wie den A-Seiten, so dass nie der Eindruck von B-Ware entsteht – schon 1988 erschien „Barbed Wire Kisses“, ein Full-Length-B-Seiten-Album. Die Reids coverten von Anfang an gern Songs anderer Künstler, z.B. Leonard Cohens „Tower of Song“, „My Girl“ von den Temptations, „Alphabet Street“ von Prince und Stücke von Bo Diddley und anderen Bluesveteranen. Auch ihre eigenen Songs nahmen JAMC immer wieder in neuen Versionen auf, z.B. „Cut Dead“ als Akustiktrack oder „On the Wall“ im fröhlich-poppigen Gewand. Da wie bereits erwähnt die B-Seiten von The Jesus and Mary Chain mindestens genauso stark sind wie ihre Hits, ist „The Power of Negative Thinking“ auch für Menschen empfehlenswert, die vorher noch nie von dieser Band aus East Kilbridge/Schottland gehört haben.


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