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1. September 2008
Christina Mohr
für satt.org

Sampler für den Spätsommer

Unser letzter Samplerartikel war mit drei vorgestellten Alben recht kurz geraten – ganz anders diese Ausgabe: prallvoll mit lauter Doppel- und Triple-Compilations, als wollten die Labels beweisen, dass die CD, bzw. die CD-Box noch lange nicht tot ist! Wie immer gibt es innerhalb der Sampler Licht und Schatten, grottiges und tolles, aber wir wollen nicht meckern, sondern aus dem Vollen schöpfen:

  Hippies, Hasch und Flower Power. 68er-Pop aus Deutschland
Hippies, Hasch und Flower Power. 68er-Pop aus Deutschland
Bear Family
» bear-family.de


Hippies, Hasch und Flower Power

Wie waren Eure Eltern in den sechziger und siebziger Jahren drauf? Bei Mohrs zuhause hingen Easy Rider-Poster im Flur, die Zeitschrift „Pardon“ wurde gelesen, in den Urlaub fuhr man nach Torremolinos. Mama Mohr sah aus wie eine Mischung aus Daliah Lavi und Alexandra, die kleine Christina verwechselte Ingo Insterburg im Fernsehen mit ihrem Papa – womit wir den Bogen zum großartigen Sampler „Hippies, Hasch und Flower Power“ schlagen. Zusammengestellt und in knall(mao!)rotes Vinyl verpackt wurde „Hippies...“ von Bear Family, dem im niedersächsischen Holste-Oldendorf ansässigen Label, das sich auf das Heben und Bergen verschollener musikalischer Schätze spezialisiert hat. Passend zum 40. Geburtstag der Generation '68 hat Rundfunkredakteur Marcus Heumann (von dem auch die umfassenden Linernotes im Booklet stammen) tief in den Archiven gewühlt und zum Teil schier unglaubliches zutage gefördert. 1968 war nicht nur gesellschaftlich und politisch, sondern auch für den deutschen Pop ein Jahr des Umbruchs, der Neuorientierung und der Infragestellung alter Werte – was viele MusikerInnen schwer verwirrte und in manchen hier nachzuhörenden Fällen schlicht überforderte. Aus biederen Schlagersängern wie Thomas Fritsch und braven Unterhaltungskünstlerinnen wie Wencke Myhre wurden über Nacht nun mal keine amtlichen Hippies oder „Gammler“; halbwegs kredible Ausnahmen wie Heidi Franke, die damals dem Hare-Krishna-Boom verfallene Su Kramer oder der französische Allroundstar Michel Polnareff waren eher selten. Man schielte mit einem Auge nach Großbritannien und in die USA und übertrug bekannte Hits wie „San Francisco“ kurzerhand ins Deutsche (der 1968 schon ziemlich erfolglose Schlagersänger Bernd Spier sang „Flowertime in San Francisco“, konnte aber bei „echten“ Blumenkindern nicht punkten), die immerhin aus England stammende Spencer Davis Group gab „(Aquarius) Der Wassermann“ auf deutsch zum Besten. Eine andere Kategorie war der Protestsong oder das, was man hierzulande dafür hielt. Kompilator Heumann hat neben Franz Josef Degenhardts zynischem „Vatis Argumente“ auch Musik aus der DDR ausgesucht: Manfred Krug und das Klaus-Lenz-Sextett sind mit ihrem erbitterten Anti-USA-“Vietnam-Song“ zu hören. Es gab aber auch Protest gegen den Protest: Leichtwassermatrose Freddy Quinn ließ sich zu dem gruseligen „Wir“ hinreißen, das „spießig“ zu nennen viel zu freundlich wäre. Quinn selbst bedauerte später, dieses Hippie-Schmählied verbrochen zu haben, das ihm viel Zuspruch von BILD-Lesern einbrachte. Sehr beliebt waren anno '68 auch „lustige“ Lieder, die Hippies und Gammler auf die Schippe nahmen. Ein Beispiel ist der unvermeidliche Bill Ramsey, dessen „Verlieb' dich nicht in ein Hippie-Mädchen“ genauso unwitzig ist wie France Galls „Hippie Hippie“. Etwas anspruchsvoller und leicht angejazzt präsentierte sich das „Wünsch dir was“-TV-Traumpaar Vivi Bach und Dietmar Schönherr, dessen „Molotow Cocktail Party“ spätestens nach dem terroristischen Anschlag auf die Olympischen Spiele in München 1972 nicht mehr allzu oft im Radio gelaufen sein dürfte. Richtig lustig sind Songs wie „Marihuana-Mantra“ von Kuno and the Marihuana Brass (hinter diesem Namen verbargen sich die Ex-Rattles Achim Reichel und Frank Dostal), „Wir sind verlauste Affen“ von Insterburg & Co. und die auf „Que Será Será“ basierende Hippiehymne „Nimm doch noch einen Joint, mein Freund“ der Krautrocker Witthüser & Westrup. So ließe sich jeder einzelne kuriose Song auf „Hippies, Hasch und Flower Power“ vorstellen, aber das wäre gemein, denn es gibt so viele urkomische, unfreiwillig peinliche, überraschend gute und wenig überraschend grauenvolle Lieder zu entdecken, wie zum Beispiel Ralph Siegels (damals noch „Siegel jr.“) „Sie nennen es Flower Power“, den „Gammelshake“ von Margret Fürer und den Penny-Pipers und und und....der Sampler endet mit einem richtigen Tophit: Juliane Werdings Antidrogen-Schmachtfetzen „Am Tag, als Conny Kramer starb“ trug 1972 die deutschsprachige Hippiephase endgültig zu Grabe.


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  Folk & Proud
Folk & Proud
Doppel-CD, Naïve Records
» naive-germany.de


Folk & Proud

Moderne Hippies präsentiert der auf dem geschmackssicheren Naïve-Label erschienene Sampler „Folk & Proud“. Der Folkbegriff wird auf den zwei CDs locker definiert und weit gefaßt: neben sanftem New Folk, der im England der frühen Neunziger zuerst auftrat (Jose Gonzalez, Cocoon), finden sich weirde New Yorker Antifolker wie The Moldy Peaches, Adam Green und Devendra Banhart und Indie-Pop von Belle & Sebastian und Girls in Hawaii. Läßt man sich auf das Naïve-Folkkonzept ein, wird man nicht stutzen, Leute wie Rufus Wainwright auf dem Album zu finden, auch wenn dieser bisher nicht durch tatsächliche oder mentale Bärtigkeit auffiel. „Folk & Proud“ zelebriert die fein ziselierten, eher leisen, aber genau dadurch widerständigen Töne - „Quiet is the new loud“ mag als Slogan ausgedient haben, der neue Folk hat es noch lange nicht.


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  Red Ink's Indie Music Diary
Red Ink's Indie Music Diary
Doppel-CD, SonyBMG


Red Ink's Indie Music Diary

Das Sublabel Red Ink war im Hause Sony für die Alternative- bzw. Indiefraktion zuständig: Bands wie Manic Street Preachers, Vega 4, My Morning Jacket, Anti-Flag und Modest Mouse erschienen bei Red Ink. Mittlerweile hat SonyBMG Red Ink dichtgemacht, aber die Rechte an den Songs behalten – das Doppelalbum „Indie Music Diary“ ist also Bye-Bye- und Gedenkplatte genauso wie pure Weiterverwertung gleichermaßen. Wirkliche Neuentdeckungen wird der geneigte Indie-Fan hier nicht machen, aber als Greatest- oder Medium-Hits der letzten paar Jahre funktioniert das allemal: Gitarren-Indierock, mal öde und aufgeblasen (The Zutons, Pete York), aber auch spannend, witzig und tanzbar (MGMT, Dúné, Goose, Ida Maria, Mumm-Ra, Ben Folds, Ben Kweller). Für Schanzenstraßen-Checker wie Daniel und Oleg unverzichtbar.


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Wer vor dem Herbsteinbruch noch eine Beach-Lounge, eine Coffeebar, einen Wellness-Friseurladen o.ä. eröffnen möchte, sollte unbedingt darauf achten, dass die folgenden Alben zur Grundausstattung gehören:

  Kulturkantine. contemporary jazz lounge session
Kulturkantine. contemporary jazz lounge session
Doppel-CD, SonyBMG


Kulturkantine

Die vom KulturSpiegel herausgegebene Compilationreihe „Kulturkantine“ verweist schon mittels des Titels darauf, wofür die ausgewählte Musik gedacht ist: Zur Beschallung der Kantine von Kopfarbeitern, gerne Spiegel-Redakteuren. Neben der „electronic lounge session“ und der „acoustic lounge“ gibt es jetzt ein Doppelalbum mit zeitgenössischem Barjazz und leicht angefunkten Loungesounds. Bands wie The Juju Orchestra, The Cinematic Orchestra, Native, Metropolitan Jazz Affair, die Big Bang und das Stuttgarter Wunderkind Danilo Plessow alias Inverse Cinematics zeigen, wie man sehr lässig traditionellen, US-amerikanischen Jazz mit modernem Groove und Elektronika zusammenbringt. Bonobo und Dusty bringen soulige Vocals ins Spiel, Re:Jazz machen aus der Spätachziger-Discohymne „People Hold On“ ein locker-flockiges Jazzthing und mit Formationen wie Tosca und Energie du Verre landet der Sampler wieder wohlbehalten in der gepflegten Lounge resp. Kantine.


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  People's Choice: The Reggae Selection
People's Choice:
The Reggae Selection

Doppel-CD, SonyBMG


The Reggae Selection

Mit Reggae kann man nichts falsch machen, vor allem im Sommer wiegt jedermann/frau gerne die Hüften zu jamaikanischen Rhythmen. „People's Choice“ vereint alt und jung: die Tracklist setzt sich aus zumeist neueren Aufnahmen der Nullerjahre zusammen, die Künstler enstammen fast allen Reggae-Epochen. Von Buju Banton über Ziggy Marley, Sizzla, Gentleman, Joy Denalane, Nneka, Bushman, John Holt, Gregory Isaacs, Jimmy Cliff, Peter Tosh und natürlich Bob Marley sind viele große Namen versammelt, die häufig den Weg in die Charts schafften. Auch wenn „People's Choice“ kein Roots-Album ist, auf dem sich Raritäten finden ließen, kann man doch einige noch unbekanntere Musiker entdecken wie zum Beispiel Tarrus Riley, Alaine, Elijah oder Morgan Heritage, die der alten Tante Reggae modische Glanzlichter aufsetzen.


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Sexy Lounge
Sexy Lounge
Doppel-CD, SonyBMG

 
  Hawaiian Lounge
Hawaiian Lounge
Doppel-CD, SonyBMG

Sexy Lounge
Hawaiian Lounge

Diese beiden Alben unterscheiden sich vom Sound her kaum, besonders softe Lounge-Vibes treffen auf entweder a) softiges Geseufze („Sexy Lounge“) oder b) softige, kaum erkennbare Surfanleihen („Hawaiian Lounge“). Keinesfalls darf man Surfgitarren á la Dick Dale oder deepen sexy Funk erwarten – Highlights des Sexy-Samplers sind Plantlife, Marsmobil und Mo'Horizons, die wenigstens für ein bisschen Bewegung in den Satinlaken sorgen. Die Highlights des Hawaii-Samplers sind mir entgangen, wahrscheinlich bin ich eingeschlummert. Beide Compilations sind eher verzichtbar, höchstens zur Abrundung des bereits erwähnten Wellness-Friseur-Soundkonzepts geeignet.


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  Oh, My Love
Oh, My Love
Doppel-CD, SonyBMG


Oh, My Love

Doppelalbum für Verliebte: wer diese Botschaft nicht kapiert, ist ein hoffnungsloser Fall. Die Songauswahl ist erstaunlich gut und steht keineswegs unter Kuschelrock-Verdacht: angesagte Sängerinnen wie Sara Bareilles, Maria Mena und Sophie Zelmani wechseln sich mit Indiebands wie Mumm-Ra, Primal Scream (!), Lemonheads, Kings of Leon, Modest Mouse und Goo Goo Dolls ab, in deren Oevre sich ebenso verzweifelte wie angekitschte und schlicht großartige Liebeslieder finden. Zwei Überraschungen am Schluß: Lou Reed mit „Satellite of Love“ und Jeff Buckley mit „Hallelujah“.


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  Bossa Nova Platinum Collection
Bossa Nova Platinum Collection
3 CDs, EMI
» emimusic.com


Bossa Nova Platinum Collection

Nicht nur Madonna, Prince und Michael Jackson konnten heuer ihren 50. Geburtstag feiern, auch die Geburtsstunde der Bossa Nova läßt sich ziemlich exakt auf 1958 datieren. EMI hat drei CDs zusammengepackt, die Altmeister des typisch brasilianischen Sounds wie Joao Donato, Antonio Carlos Jobim und viele andere mit poppigen Interpretationen jüngeren Datums vereinen. Sanft und tanzbar, mit viel Gewicht auf den Stimmen bekommt man mit der „Platinum Collection“ nicht weniger als 45 Stücke, die locker für einen ganzen Tanzkurs ausreichen.


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In Starbucks-Filialen der ganzen Welt zuhause: Seit über fünfzehn Jahren vertreibt das amerikanische Label Putumayo, das als Bekleidungsfirma begann, liebevoll zusammengestellte Themencompilations, die mit dem Sammelbegriff Weltmusik beschrieben werden können. Putumayos Ziel: Tradition und Moderne verbinden, unbekannte „exotische“ Grooves, Vibes und Stimmen auf der ganzen Welt bekannt zu machen, sprich, Weltmusik aus der Ethno- und Special Interest-Ecke herauszuholen. Man ist geneigt, Klischeebegriffe wie „musikalische Weltreise“ oder „Völkerverständigung nach Noten“ zu verwenden, die naiv-bunten Cover, gemalt von Nicola Heindl, tun ihr übriges, um Putumayo unter Kitschverdacht zu stellen. Tatsächlich bietet Putumayo keine ethnologische oder kulturwissenschaftliche Basisarbeit, die Zusammenstellungen (meist auf zehn Songs begrenzt) sind stets leichtverdaulich, einfach konsumierbar. Trotzdem darf man den Türöffner-Effekt von Putumayo-Platten keinesfalls unterschätzen: Putumayo macht die Musiken der Welt auf der ganzen Welt bekannt. Das ist ein großes Verdienst.

  African Party
African Party
Putumayo
» putumayo.com


African Party

Zehn pulsierende, quirlige, tanzbare Tracks, die aus Südafrika, von der Elfenbeinküste und aus Nigeria stammen: Vami Duwes „Kotoja“ hört man US-amerikanische Einflüsse an, Rockgitarre und Discogroove paßt gut zu traditionellen Klängen. Man muss an Hans Nieswandt denken, der sagte, dass „im Grunde alle Musik aus Afrika“ kommt. In diesem Sinne sollte man diesem Sampler Gehör schenken und dazu tanzen.


  Quebec
Quebec
Putumayo


Quebec

In diesem Jahr feiert die französisch-kanadische Stadt Québec ihren 400. Geburtstag. Anlass für eine musikalische Würdigung der europäischen (französischen/ keltischen) Einflüsse, die sich in der Québec'schen aktuellen Popmusik ausdrücken. Viele Songs klingen wie genuin französische Chansons (z.B. Annie Villeneuves „Un Homme“), andere Bands gehen eher wild zur Sache (Le Vent du Nord, „Vive L'Amour“, La Bottine Souriante, „La Brunette Est Lá“).


  Café Cubano
Café Cubano
Putumayo


Café Cubano

Seit Wim Wenders' Film „Buena Vista Social Club“ von 1996 ist kubanische Musik hierzulande sehr beliebt, manchmal ein bisschen zu sehr. Die sanften Rhythmen und rauhen Stimmen, steinalte kauzige Originale wie Ibrahim Ferrer und Compay Segundo und der nostalgische Charme, den die Musik aus Castro-Country umweht, machen kubanische Lieder zu „Konsensmusik“, auf die sich alle einigen können, auch Leute, die eigentlich gar keine Musik mögen. „Café Cubano“ unternimmt den Versuch, hierzulande bislang eher unbekannte Künstler wie Armando Garzón, Kelvis Ochoa, Felix Baloy und La Orquestra Mágica de la Habana ins Licht der Aufmerksamkeit zu rücken. Die zehn Songs sind – wie zu erwarten – leicht beschwingt, sanft melancholisch und bringen Wärme in den europäischen Herbst.