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April 2008
Christina Mohr
für satt.org


Sampler für den Frühling

Die letzte satt.org-Sampler-Sammelrezension erschien im Januar, in den vergangenen Wochen schütteten die Plattenfirmen einen wahren Goldregen neuer, prima Compilations aus. Hier eine Auswahl mit: Funky Nassau, Kid Creole/August Darnell, einer 3-CD-Ninja Tunes-Werkschau, Mariachi, elektrisch! Volume 3, und einer 12''-Sammlung des Berliner Elektrolabels Underscan...


Funky Nassau. The Compass Point Story 1980 – 1986

Funky Nassau.
The Compass Point Story
1980 – 1986

(!K7/Strut)

Anfang der achtziger Jahre hielten Funk, Dub und Reggae Einzug ins Pop-Universum: Vor allem Wavebands wie die Talking Heads und The B-52's, aber auch etablierte Stars wie Robert Palmer, Roxy Music und sogar die Rolling Stones flogen auf die Bahamas ins legendäre Compass Point Studio, um ihre Platten mit karibischem Flair veredeln zu lassen. 1977 gründete Island Records-Chef Chris Blackwell Compass Point, zusammen mit den Tontechnikern Alex Sadkin und Steven Stanley und vor allem dem genialischen Musiker- und Produzentenduo Sly & Robbie entstand eins der einflussreichsten Studios, das einen so charakteristischen Sound kreierte wie Stax oder Motown. Die Talking Heads waren eine der ersten Bands, die den Zauber des Dub erkannten: bereits 1978 begaben sie sich für die Aufnahmen zu „More Songs About Buildings and Food“ in Blackwells Studio. Auch die Mainstream-Gitarreros Dire Straits nutzten die Skills der Compass-Point-Crew für ihr zweites Album „Communique“, die Stones folgten mit „Tattoo You“. Die magischsten Momente entstanden aber, wenn sich Wave- und Discokünstler der Behandlung von Sly & Robbie unterzogen. So beginnt der grandiose, beim verdienten Label Strut erschienene Retrospektive-Sampler „Funky Nassau. The Compass Point Story 1980 – 1986“ mit Grace Jones' laszivem Slow-Discotrack „Jamaican Guy“, darauf folgen All-Time-Faves wie „Genius of Love“ vom fantastischen Tom Tom Club, des Seitenprojekts der Talking Heads-Bassistin Tina Weymouth. Die charakteristische Bassline von „Genius of Love“ wurde -zigfach gesamplet, unter anderem von Grand Master Flash für „It's Nasty“ und von Mariah Carey für „Fantasy“. Alle 13 Tracks des Samplers verdeutlichen die enorme Spiel- und Experimentierfreude, die in den Compass Point Studios herrschte: ob Deep Funk von Bits & Pieces („Don't Stop the Music“), (No)-Wave-Variationen mit Lizzy Mercier Descloux oder den Slits-Abkömmlingen Set the Tone, der fiebrig-überspannte Rhythmus bei „“Born Under Punches (The Heat Goes On)“ von den Talking Heads oder „Spasticus Autisticus“, einer der besten Momente in Ian Durys Musikerlaufbahn – die Producer ließen allen Künstlern ihre Individualität, setzten dubbige oder funky Akzente, stets treffsicher und essenziell. Anders als heutige R'n'B-Megaproducer, die ihren Schützlingen denselben Stempel aufsetzen, unterschieden Sly & Robbie sehr wohl, aus welchen Ecken ihre „Patienten“ stammten. So klingt „Padlock“ von der Soul- und Discosängerin Gwen Guthrie wesentlich wärmer und volumiger als das wavige „You Rented A Space“ von No-Disco-Ikone Cristina; Will Powers' „Adventures in Success“ und die Tom Tom Club-Tracks bestechen durch die fröhlich-leichtfüßige Produktion. Obwohl in „Funky Nassau“ mit Grace Jones' „Nightclubbing“und „Remain in Light“ der Talking Heads wegweisende Alben moderner Dancemusic entstanden, begann der Compass Point-Stern ab 1985 zu sinken: interne Kabbeleien und unterschiedliche Business-Ideen führten dazu, dass sich alle Beteiligten anderen Projekten zuwandten. Techniker Alex Sadkin kehrte 1987 nach Nassau zurück, um das Studio wiederzubeleben, doch dazu kam es nicht mehr: Sadkin starb bei einem Autounfall. Trotz der Tragik am Ende bleibt das fantastische musikalische Erbe der Compass Point Studios – nachzuhören und -tanzen mit „Funky Nassau“, das in luxuriöser Verpackung daherkommt. Das umfangreiche Booklet bietet Interviews und Hintergrundinformationen und Fotos von Adrian Boot, Lynn Goldsmith und Alison Jarvis.


Kid Creole, Going Places. The August Darnell Years 1974 – 1983

Kid Creole:
Going Places.
The August Darnell Years
1974 – 1983

(!K7/Strut)

Bindeglied zu diesem, ebenfalls bei Strut erschienen Album ist Cristina Monet, deren Song „What's a Girl to Do“ von August Darnell (allen Indizien nach nicht mit Bruce „Drama, Baby“ Darnell verwandt) produziert wurde. Bevor Darnell (August) mit Kid Creole & The Coconuts Weltruhm erlangte, war er Mitglied von Dr. Buzzard's Savannah Band, die P-Funk, Big-Band-Swing und Latin-Rhythmen zu einer lässig-tanzbaren Mixtur verschmolzen. Darnell/Creole re-kultivierte den Zoot Suit und verliess das Haus niemals ohne Hut und frisch gestutztes Menjou-Bärtchen. Doch August Darnell auf die comichafte Persona des „Tropical Gangster“ zu reduzieren, wäre kolossal falsch und unangebracht; er war einer der wichtigsten Produzenten im Hause Ze Records, kümmerte sich um Künstler wie James White/Chance, die Aural Exciters und besagte Cristina. 1980 gründete er mit Coati Mundi und seiner Frau Adriana Kaegi Kid Creole & The Coconuts und verwirklichte seine Vision, Calypso, Rhumba, Salsa und Blues (ja!) in einen tanzbaren Popkontext zu bringen. Die Shows der Coconuts mit Big-Band, Chorsängerinnen und Tänzerinnen gelten bis heute als unerreichte Highlights der Disco-, Gay- und Campszene. Hits wie „Annie, I'm Not Your Daddy“, „Stool Pigeon“ und „No Fish Today“ und die Alben „Fresh Fruit in Foreign Places“ und „Tropical Gangsters“ sollten jedem Musikconnaisseur mit einem Fitzelchen Herz und Humor bekannt sein. Der Sampler „Going Places. The August Darnell Years 1974 – 1983“ versammelt das musikalische und produzierende Schaffen August Darnells, inklusive drei Coconuts-Tracks in 12''-Versionen.


Ninja Cuts: You Don't Know

Ninja Cuts: You Don't Know
(Ninja Tune/Rough Trade)

Das Londoner Freaklabel Ninja Tunes konnte unlängst seinen 18. Geburtstag feiern, ist also volljährig und darf Auto fahren und wählen gehen. Weil die Ninja-Macher freundliche Menschen sind, lassen sie ihre Fans mittels „You Don't Know“, einem 3-CD-Jubiläumsalbum an der grossen Sause teilhaben. „You Don't Know“ ist bereits die fünfte Labelcompilation aus dem Hause Ninja Tunes, das inzwischen um die Imprints Counter, Ntone und Big Dada erweitert wurde (erst vor kurzem erschien anläßlich des zehnjährigen Bestehens von Big Dada die Compilation „Well Deep“). Standen die Anfangsjahre von Ninja Tunes ganz im Zeichen von Trip Hop, Ambient, Breakbeats und hochkomplizierten HipHop-Variationen, entwickelte sich das Label im Lauf der Jahre zu einem heterogenen Sammelbecken für alle möglichen Stile. Urgesteine wie Coldcut, The Herbaliser, Funky Porcini, DJ Food, Mike Ladd, Hexstatic und Amon Tobin blieben Ninja treu und mußten sich mit Neuankömmlingen wie dem Folkmusiker Fink und jugendlichen Punkrockern wie The Death Set* aus Baltimore arrangieren. Doch das Haus Ninja hat Platz für alle, wenn es auch manchmal etwas unübersichtlich wird, wie der vorliegende 59-Track-Sampler zeigt. Eine klare Linie gibt es nicht, die Klammer heisst Vielfalt oder Hyper-Individualismus. So scheinen die Easy-Jazzer vom Cinematic Orchestra nicht wirklich in die Nähe von DJ Shadow und The Bug zu passen, Amon Tobin oder Kid Koala weisen kaum Verbindungen zu oben genanntem Fink auf. Aber man sollte „You Don't Know“ weniger als Album zum Komplett-Durchhören betrachten, sondern als Werkschau eines der fantasievollsten und umtriebigsten Labels der Jetztzeit. Je nach Stimmungslage kann man sich kleinere Einheiten vornehmen, die entweder die Lust auf Baller-Elektroclash stillen oder mit relaxtem Ambient für Entspannung sorgen. Grosses Plus der Compilation sind die vielen neuen Remixe: so setzen Modeselektor dem Track „Blazin'“ von Ghislain Poirier neue Lichte auf, Tiga remixt den Coldcut-Classic „Walk A Mile in My Shoes“ und zero DB machen aus „Distorted Minds“ von Hexstatic ein, nun ja, noch mehr distortetes Werk. Dazu kommen Liveaufnahmen des Cinematic Orchestra und unveröffentlichte Demoaufnahmen wie John Matthias' sanfte Version von „Evermore“.
Ach ja, das Coverartwork zu „You Don't Know“ stammt vom kultisch verehrten Designer Syd Mead, dessen Hollywood-Arbeiten massgeblich unsere Vorstellung der Zukunft bestimmen (Mead designte Filmsets, Plakate und jede Menge futuristische Accessoires für Blade Runner, Star Trek, Tron, Alien und viele mehr).

* Von The Death Set gibt es auch ein brandneues Album: „Worldwide“ heisst es und erscheint Anfang April.


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Weitere Sampler – kurz und knapp:

Controversy. A Tribute to Prince

Various Artists:
Controversy. A Tribute to Prince

(Rapster Records)

Fast kurios scheint es, dass es bis jetzt noch kein Tributealbum für Prince, den großen kleinen Funkateer aus Minneapolis gab. Rapster Records fanden das auch und brachten kürzlich „Controversy“ heraus, eine größtenteils gelungene Zusammenstellung von Prince-Coverversionen. Viele Künstler behalten Prince's vorgegebenes Funk-Arrangement bei, doch die stilistischen Experimente funktionieren nicht immer. Hervorzuheben sind D'Angelos Funk-Rock-Version von „She's Always in My Hair“, Stina Nordenstams fragile Songwriter-Adaption von „Purple Rain“, die Reggae-Etüde „Girls & Boys“ der Dynamics und „Sexy Dancer“ von 7 Hurtz featuring Peaches. Eher langweilig und verzichtbar sind Hefners Gähn-Version von „Controversy“ (ausgerechnet!) und das uninspirierte Loungegedudel von Blue States ( „Alphabet Street“); ungewöhnlich und dekonstruktuvistisch hingegen ist „Sine of the Dub“, die ambitionierte „Sign o'the Times“-Interpretation von Dubstep-Pionier Kode 9.


Mariachi. The Sound of Hysteria

Various Artists:
Mariachi. The Sound of Hysteria

(Trikont)

Mariachi, der mit Mexiko untrennbar verbundenen folkloristischen Melange aus verschiedenen Tanzstilen, oft gespielt von bis zu zwanzig Musikern (Gitarre, Trompete, Geige, dazu traditionelle mexikanisch Instrumente), wird gern ein „Zuviel an allem“ bescheinigt: zuviel Herz, zuviel Leid, zuviel Liebe, zuviel Schmerz, zuviel Lärm, zuviel Leidenschaft. Dass es im Mariachi mehr zu entdecken gibt als übertriebenes Geschluchze unterm Sombrero, will ORF-Radiomoderator Fritz Ostermayer mit dieser Kompilation beweisen. Ostermayer zeigt, dass Mariachi keine „authentische“ Volksmusik ist, sondern als variantenreiches, skrupellos geplündertes Füllhorn für höchst unterschiedliche Musiker und Stile dient. Mariachi-Trompeten passen zu HipHop, japanischem Freejazz, chilenischem Hardrock und rumänischem Balkanpop von Zdob Si Zdub. Neben „echten“ mexikanischen Ensembles wie Mariachi Vargas de Tecalitlán befinden sich auf dem Sampler viele Popacts, die leidenschaftlich mit Mariachi flirten, zum Beispiel The Mighty Dub Cats mit „Magic Carpet Ride“, die Americana-Heroen Calexico, Blueser Willy de Ville mit seiner mexikanisierten Version von Jimi Hendrix' „Hey Joe“, die Countrymusikerin Linda Ronstad und Kevin Ayers.


elektrisch! Volume 3

Various Artists:
elektrisch! Volume 3

(Major Records)

Ein knappes Jahr nach „elektrisch! Volume 2“ bringt das Hamburger Label Major Records den dritten Teil ihrer Samplerreihe heraus, die sich der Präsentation aktuellen Elektropops verschrieben hat. Das Doppelalbum „elektrisch! 3“ versammelt Remixe und Raritäten von Stars wie Moby, Kim Wilde (!), Yazoo und Ladytron; Tracks von düsteren Elektroacts wie Apoptygma Berzerk und Covenant und verschiedenen als Geheimtipps gehandelten Künstlern wie Emmons und Universal Poplab. Nicht alles ist toll: „Lost“ von Rotersand (mit dem die Compilation leider anfängt) ist nervigster Rummelplatztechno, Oomph! Featuring Marta Jandova und „Träumst Du“ kann nur als Goth-Persiflage ertragen und verstanden werden.


Underscan: Now
www.underscan.de

Das Elektroniklabel Underscan aus Berlin hat sich den Slogan „The Only Constant is Change“ auf die Fahnen beziehungsweise auf die Website geschrieben. Getreu dieses Mottos gibt es jetzt eine 16-Track-Compilation, die die immanente Veränderung als Konstante unter Beweis stellen soll. Die Spannweite des Labels reicht von Drum'nBass, Breakbeats, Clicks'n'Cuts über Drone und Minimal. Artists wie Frank Bretschneider, Scanner, Bogger oder Dalezy arbeiten ihre elektronischen Visionen in unterschiedlichsten Aggregatszuständen heraus, das Label hält sich derweil dezent im Hintergrund und lässt allen Beteiligten genügend Raum für eigene Interpretationen von „Change“.