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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




März 2008
Robert Mießner
für satt.org

DISCO 3000
10

Der Schrei der Welt

Diamanda Galás spielt Jazz. Mit Schmerzenskitsch hat ihre außerordentliche Musik rein gar nichts zu tun. »Guilty Guilty Guilty«, ihr neues Album, erscheint Ende März.

Diamanda Galás: Guilty Guilty Guilty

Natürlich schreit Diamanda Galás nicht. Das klingt nur so. Sie singt. Oft sehr laut und schrill, gelegentlich auch zart, und das mit einer Stimme, die dreieinhalb Oktaven umfasst, Herzen schneller schlagen und Uhren rückwärts laufen lässt. Ihre Liebsten würden sie eher dafür bezahlen wollen, wenn sie ihnen kein Schlaflied sänge, sagt sie. Fans, unter ihnen Freejazzer wie Grufties, sprechen schon mal andächtig von Diamanda Callas, ein Vergleich, über den sie sich freut, der sie aber auch irritiert. Fast jeder hat die 1955 in San Diego geborene Tochter aus griechisch-orthodoxem Elternhaus schon einmal gehört. »Sex Is Violent«, das markerschütternde Stück aus dem Soundtrack zu Oliver Stones »Natural Born Killers«, ist eine Kombination ihrer Version von Screamin’ Jay Hawkins’ »I Put A Spell On You« mit Janes Addictions »Ted Just Admit It«. Sie hat mit F.M. Einheit, Brötzmann (Vater und Sohn) und dem 2002 verstorbenen Freejazz-Bassisten Peter Kowald zusammengearbeitet. Stichwort Jazz und Improvisierte Musik: Ganz am Anfang ihrer Laufbahn spielte sie in ihrer Heimatstadt und Los Angeles mit Bobby Bradford, Mark Dresser, Roberto Miguel Miranda und David Murray. Aufregende Zeiten waren das, der Ertrag blieb eher gering. Der Durchbruch gelang ihr 1979 auf dem Festival d’Avignon, als sie die Hauptrolle in »Un jour comme un autre« sang, einer Oper des slowenischen Komponisten und Posaunisten Vinko Globokar über die Folter und den Tod einer angeblichen Landesverräterin in türkischer Haft.

Galás’ beängstigend-großes Debüt »Litanies of Satan« (1982) borgte sich Titel und Text von Charles Baudelaire. Gerne hätte man eine Zeitmaschine, eingestellt auf den 16. Mai 1985, Jazzfestival Moers. Da standen sie und Geiger Billy Bang auf einer Bühne mit Last Exit, der Band um Peter Brötzmann, Sonny Sharrock, gestorben 1994, Bill Laswell und Ronald Shannon Jackson, dem Quartett, das in etwa so klang, wie man sich eine Mischung aus Motörhead und Ornette Coleman vorzustellen hat. Colemans »Lonely Woman« gehört seit längerem zu Galás’ Liveprogramm. Auf John Zorns Morricone-Tribut »The Big Gundown« (1986) und Hal Willners »Weird Nightmare: Meditations on Mingus« (1992) ist sie zu hören; Barry Adamson (Magazine, The Bad Seeds) lieh sie ihre Stimme auf seinem Solodebüt »Moss Side Story« (1988). Mit John Paul Jones (Led Zeppelin) und Pete Thomas (Elvis Costello & The Attractions) hat sie »The Sporting Life« (1994) aufgenommen, beinahe ein Bluesrock-Album. Die Betonung liegt auf beinahe. Es hilft nichts: Ihre Musik ist weder Schmusejazz noch introvertierter Ambient, sondern absolut explosiv und expressiv, eine Herausforderung und ein Wagnis. Am deutschen Publikum stört sie übrigens dessen Zurückhaltung.

Diamanda Galás   Diamanda Galás   Diamanda Galás
Foto: Austin Young   Kontraste Festival 2007
Foto: Helmut Lackinger
  Foto: Kristofer Buckle

Solche Kunst sieht sich nicht selten einem Problem gegenüber. Sie wirkt wie Schreitherapie, wie unbedingte Entäußerung, bei der das Anliegen, das Abschütteln von Traumata und das Verjagen der Dämonen Haupt-, handwerkliches Können aber eher Nebensache ist. Das ist bei Galás zum Glück nicht der Fall. Sie hat Jazz und Klassische Musik studiert, ist in Gospel und Soul so zu Hause, wie sie mit byzantinischer Musik und Flamenco vertraut ist. Ins Haus gebracht von ihrem Vater, Leiter eines Gospelchores und erster Lehrer seiner Tochter. James Galás sprach nicht nur über Musik. Von Kindheit an hörte Diamanda Galás aus seinem Mund die Geschichten, die ihm wiederum sein Vater erzählte: Die Berichte der griechischen Kleinasienflüchtlinge, die zwischen dem Vorabend des Ersten Weltkriegs und der Gründung der modernen Türkei versuchten, den türkischen Truppen zu entkommen, und denen dabei der Gang ins Meer oft als letzter Ausweg blieb. In der Weltenecke, aus der Galás’ Familie kam, begann der Weltkrieg Jahre vorher und dauerte Jahre länger. Wenn sie auf dem achtzigminütigen »Defixiones, Will and Testament« (2003) die armenischen, assyrischen und griechischen Opfer der türkischen Pogrome ins Gedächtnis ruft, dann ist das ein Stück persönliche Geschichte, nicht weit entfernt von ihrer Auseinandersetzung mit AIDS auf »The Divine Punishment«, »Saint Of The Pit« (beide 1986), »You Must Be Certain Of The Devil« (1988), dem dazugehörigen Livealbum »Plague Mass« (1991) und »Vena Cava« (1993). Ihr Bruder, der Autor Philip-Dimitri Galás, fiel 1986 der modernen Epidemie zum Opfer. Auf dem Cover zu »The Singer« (1992), dem ersten fast ausschließlich für Gesang und Piano konzipierten Album, zeigte Galás ihre tätowierten Finger. »We are all HIV« steht auf ihnen zu lesen, ein Akt der Wut wider verweigerte Anteilnahme und Hilfe. Sie betont dabei, keine herkömmliche Klagesängerin zu sein. Die griechische Kultur sei eine Kultur der Rache, nicht des Jammerns. Beim Hören dieser Alben nimmt man ihn ihr ohne zu Zögern ab, den Zorn über eine Welt, die ihre Kinder in Isolation, Verzweiflung und Selbstmord, in die Wüsten und auf die Schlachtfelder treibt.

Diamanda Galás ist in diesem Frühjahr auf Europatournee:
  • 18. März 2008 – LONDON, Southbank Centre, Queen Elizabeth Hall, Programm: Guilty Guilty Guilty
  • 20. März 2008 - LONDON, UK, Southbank Centre, Queen Elizabeth Hall, Programm: Guilty Guilty Guilty
  • 11. April 2008 - SANTANDER, SPANIEN, Universidad de Cantabria, Programm: Guilty Guilty Guilty
  • 15. April 2008 - PARIS, FRANKREICH, Cité de la Musique, Concert Hall, Programm : La Serpenta Canta
  • 19. April 2008 - MURCIA, SPANIEN, Auditorio, Victor Villegas, Programm: Guilty Guilty Guilty
  • 06. Mai 2008 - BRAGA, PORTUGAL, Theatro Circo de Braga, Programm: Guilty Guilty Guilty
  • 08. Mai 2008 - PORTO, PORTUGAL, Casa de Musica, Programm: Guilty Guilty Guilty
  • 10. Mai 2008 - LISBON, Portugal, Aula Magna, Programm: Guilty Guilty Guilty
  • 15. Mai 2008 - ROME, ITALY, Accademia Santa Ceclia, Programm: You’re My Thrill

Auf das einzige Schlachtfeld, das es wert ist, betreten zu werden, auf das der Liebe, führt Galás’ neues Album. Seit längerem gibt sie einzelne Konzerte mit thematisch mehr oder weniger fest umrissenen Programm. »Guilty Guilty Guilty« enthält eine Sammlung mörderischer Liebeslieder, ein Begriff, der bereits 1982 auftauchte. In die Gewalt der ausgewählten Songs mischt sich ein gehöriger Anteil Trauer um zerstörte Gefühle und die unaufhaltsam verrinnende Zeit. Es ist dies eventuell Galás lyrischstes Album geworden. Fast möchte man es als Einstieg in ihre abgründige Kunst empfehlen. Aufgenommen in der Knitting Factory New York an einem Februarabend 2006, der treffend als »Diamanda’s Valentines Day Massacre« angekündigt war, im März des selben Jahres im mittlerweile der Gentrifizierung zum Opfer gefallenen New Yorker Tonic Club und 2005 im berühmten Konzertsaal von Aucklands Townhall, wird »Guilty Guilty Guilty« so eröffnet, wie es die meisten Hörer wohl erwarten: Das Piano klingt, als würde es mit schweren Eisenhämmern bearbeitet, dazu Backgroundeffekte aus der Konserve. Knapp zwei Minuten dauert das. Der Song ist »8 Men and 4 Women« (1967) aus der Feder des Southernsoul-Pioniers O.V. Wright, »Guilty Guilty Guilty« daraus ein Zitat. Nach einigen Minuten wandelt sich Galás’ Gesang in eine sehr eigene Version von Scat, das Piano beginnt zu perlen. Cecil Taylor sollte das hören. Gefasst, langsam, geradezu sparsam kommt »Long Black Veil« daher, von Johnny Cash auf »At Folsom Prison« (1968) bekannt gemacht. »Down So Low« (1968), die Erkennungsmelodie Tracy Nelsons, Bluessängerin und wie Cash vor Strafgefangenen aufgetreten, hält die eher ruhige, verhaltene Stimmung. »Interlude (Time)«, 1968 von Timi Yuro und 1995 von Morrissey und Siouxsie Sioux veröffentlicht, mutet nahezu filigran an. Ganz leise setzt das Klavier ein, wird dramatischer, je weiter die Geschichte fortschreitet, endet wieder in Stille. Es bleibt nicht so. Joseph Cosmas und Jacques Préverts »Autumn Leaves« (1950) ist die Art von Überklassiker, den alle zu kennen glauben. Aber was ist mit dem Song passiert, den Chet Baker, Frank Sinatra und Marlene Dietrich, um nur drei zu nennen, in unsere Herzen gesungen haben? Das abgehackt-dissonante Klavier ist wieder da. Und mit ihm auch die akrobatischen Sprünge in der Stimme. Dann wird es dunkel. Ralph Stanleys »O Death« ist an sich schon herbe Kost, Galás verwandelt die Fahrt in die längste Nacht in das dynamischste Stück des ganzen Albums. Eine einzigartige Gesangsattacke setzt ein. Langgezogene Klänge, östlich anmutend und auch so gewollt, werden von Stakkato durchbrochen. »Guilty Guilty Guilty«, ein Album der großen Gefühle, keines für Zyniker, endet mit Rick Frenchs und M. Philippe Gérards »Heaven Have Mercy«. Édith Piafs Version von 1956 wurde von Stimme, Chor und Orchester getragen und sorgt immer noch für Gänsehaut. 2008 gelingt Diamanda Galás dasselbe mit Stimme, Piano und Sirenenklängen.

»Guilty Guilty Guilty« erscheint am 28. März 2008.



» www.diamandagalas.com
» myspace.com/songsofexile