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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




Juni 2007
Christina Mohr
für satt.org

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Short Cuts Juni 07, zweite Hälfte


The White Stripes:
Icky Thump
(XL/Beggars)

The White Stripes: Icky Thump

Drei Wochen verbrachten Jack und Meg White im Studio, bis „Icky Thump“ im Kasten war – Rekord! Noch nie dauerten die Aufnahmen für ein White Stripes-Album so LANGE! Offenbar wollten Jack und Meg bei ihrem Quasi-Jubiläumsalbum – The White Stripes gründeten sich am 14. Juli 1997 in Detroit – keine Fehler machen. Baute das Bandkonzept zu Anfang auf plakativ-reduzierter Farb- und Zahlensymbolik auf (Bandfarben schwarz-weiss-rot, drei Instrumente: Schlagzeug, Gitarre, Gesang), variieren die White Stripes seit einiger Zeit ihren minimalistischen Blues-Punkrock: Das letzte Album „Get Behind Me Satan“ wurde mit melodischen Piano- und Marimbaeinsprengseln verziert, „Icky Thump“ klingt wesentlich rauher, archaischer, aber keineswegs spartanisch. Die Produktion ist gross und opulent, aufgenommen wurde die Platte in Nashville/Tennessee, wo Jack mit seiner Frau wohnt. Nashville ist die Heimat des Kommerz-Country, von Dolly Parton und Garth Brooks, von Leuten mit bedingungslosem Erfolgswillen. Ob das auf die Musik der White Stripes abfärbt, kann man nur spekulieren, unüberhörbar ist die neue Power auf „Icky Thump“: Jack und Meg huldigen mit Wonne und Wucht dem Siebzigerjahre-Hardrock mit Led Zeppelin- und Ram Jam-Riffs. Als neues Instrument haben sie den Dudelsack entdeckt, der bei zwei Songs zum Einsatz kommt und mit seiner quietschenden Quäkigkeit wunderbar in die White Stripes-Strukturen passt. „Prickly Thorn, But Sweetly Worn“ wird im Presseinfo gar als potenzielle neue schottische Nationalhymne angekündigt. „Rag and Bone“, ein hörspielartiges Stück über einen Lumpensammler, lebt vom Frage-Antwort-Spiel zwischen Jack und Meg, dazwischen hauen sie uns den Bluespunk ihrer frühen Jahre um die Ohren, bis es nur so kracht. Höhepunkt der Platte ist „Conquest“, cineastisch-durchgedrehte Coverversion eines Countrystücks, das in der Version von Patti Page in den fünfziger Jahren zum Hit wurde. Mariachi-Trompeten über Flamenco-Basis lassen eine verwegene Westernstimmung entstehen, Jack und Meg reiten aus der Stadt und lassen uns im Staub zurück.


» www.whitestripes.com



Clinic: Funf
(Domino/Rough Trade)

Clinic aus Liverpool treten gern in Arztkitteln und mit Operationsmasken auf, sind aber von „Emergency Room“ und „Schwarzwaldklinik“-Ästhetik meilenweit entfernt. Seit ihrer Gründung 1997 (im selben Jahr also wie die White Stripes) operiert und experimentiert die Band mit allen Stilen, die der Pop- und Rockgiftschrank hergibt und dreht Pillen für, wahlweise gegen jede Art von Migräne. Das 10jährige Bandbestehen ist Grund genug für die Veröffentlichung von „Funf“, einer Sammlung exquisiter Raritäten und B-Seiten. 12 Tracks befinden sich auf dem Album, die allesamt dem bandeigenen Motto „surprise yourself!“ huldigen, dabei aber auch die Überraschungen für das Publikum nicht vergessen. Eklektizismus regiert, weirdness ist die Klammer: ob beim Opener „The Majestic“, das sich wie ein LSD-Trip mit Roy Orbison anhört, über die Speedmetalattacke „Nicht“ bis zu folkloristischen Klängen bei „The Castle“. Clinic spielen mit psychedelischem Fuzz, der Jefferson Airplane oder Cream zur Ehre gereicht hätte, bei „You Can't Hurt You Anymore“ wird ein verhangener, treibender Beat offenbar auf hohlen Baumstämmen geklopft, hallende Stimmen irren verloren durch den Background. Das Instrumental „The Scythe“ spiralt sich wie einst Hawkwind mit ordentlich Hall und Windmaschine aus den Boxen und langsam wird klar, weshalb John Peel Clinic als „eine der besten Bands des Landes“ (= UK) bezeichnete.


» clinicvoot.org
» myspace.com/clinicvoot



Young Marble Giants: Box Set
(Domino/Rough Trade)

Young Marble Giants, Box Set

Als die Young Marble Giants aus Cardiff, bestehend aus den Brüdern Stuart und Philip Moxham und ihrer Schulfreundin Alison Statton 1978 von Rough Trade gesignt wurden, waren sie nichts weniger als eine Sensation: nach all der lauten Punkrockaufregung klang ihre Platte „Colossal Youth“ geradezu aufreizend minimalistisch und – leise. Gitarre, Orgel, Bass, eine Beatbox und die Alisons statische Stimme sorgten für Verwirrung und Begeisterung. Fast unheimlich wirken manche Songs, beunruhigend in ihrer Zurückgenommenheit. Kaum eine Band beeinflusste so nachhaltig das Independentuniversum, bis heute berufen sich Künstler wie Belle & Sebastian, Adam Green und Stereolab auf Young Marble Giants und benannte sich nicht eine legendäre Hamburger Band nach dem einzigen Album von YMG? Aber das ist eine andere, eigene Geschichte … Auch die frühen Cure müssen Young Marble Giants geliebt haben, nachvollziehbar an der Bassfigur von „Constantly Changing“, die relativ unverändert bei verschiedenen Cure-Songs wieder auftaucht. Young Marble Giants verkörperten – trotz ihrer unpunkigen Musik – den Punkgedanken perfekt: einfach anfangen, ohne viel Zeit mit Üben verschwendet zu haben. Eine LP, ein paar EPs, kaum Auftritte, das war's. Young Marble Giants lösten sich nach kurzer Zeit auf, um in verschiedenen anderen Projekten wie The Gist weiter zu wirken. 2004 taten sich YMG für ein Konzert für BBC Wales zusammen, sahen aber von einer Reunion ab. Das YMG-Oevre, ihre eigentümliche Mixtur aus extrem reduzierter Instrumentierung, lieblichen Melodien und verhangener Melancholie verzaubert und verstört noch heute. Bei Domino Records ist jetzt ein Doppel-CD-Album erschienen, das alle jemals erschienenen YMG-Songs versammelt. Ein zeitloses Juwel, ein marmorner kleiner Riese.


Art Brut:
It's A Bit Complicated
(Labels/EMI)

Art Brut, It's A Bit Complicated

Art Brut sind ein bisschen spät dran: schliesslich haben all ihre Mitbewerber wie Kaiser Chiefs, Maximo Park und Arctic Monkeys die follow-up-Alben zu den gefeierten Debüts bereits Anfang des Jahres abgeliefert. Andererseits gehört das Sommerloch jetzt voll und ganz der Band um Eddie Argos: während andere Bands erstmal Urlaub machen, werden Art Brut europäische Bühnen beackern, das Publikum mit Wodka-Orange abfüllen und „It's A Bit Complicated“ unters Volk bringen. Die erste Single, passenderweise „Direct Hit“ genannt, dreht die Gitarren auf, als wäre man bei Thin Lizzy gelandet, der Song ist ein direkter, sicherer Shouter, der die kommende Festivalsaison begleiten wird. Art Brut haben für „It's A Bit Complicated“ eine neuen Musikstil erfunden: den gefakten Coversong. Man könnte nämlich vermuten, dass „Pump up the Volume“, „I will Survive“, „Nag nag nag nag“, „Jealous Guy“ Coverversionen seien, aber nein: alles eigene, neue Songs, die auch sofort nach Art Brut klingen, kein Zweifel möglich. Eddie Argos quasselt sich wie gewohnt durch die Platte und manifestiert seinen menjoubärtigen Stil, der schon jetzt so unverwechselbar ist wie, sagen wir, Jarvis Cockers Näseln. Wer „Bang Bang Rock'n'Roll“ mochte, wird auch die neue Platte haben wollen – der neue grosse Wurf oder Entwurf ist „It's A Bit Complicated“ nicht, aber dass das mit dem zweiten Album ziemlich schwierig ist, sagt ja schon der Titel.


» artbrut.org.uk



Palomar:
All Things, Forests
(BB Island)

Palomar: All Things, Forests

Palomar aus Brooklyn werden hierzulande als Newcomer gehandelt, aber „All Things, Forests“ ist bereits ihr viertes Album. Die vier Freunde (drei Frauen, ein gekidnappter Mann am Schlagzeug) präsentieren eine bestrickende Mixtur aus Breeders, Talulah Gosh, den Bangles, Electrelane und den Pixies – Sängerin Rachel klingt wie die Tochter von Kim Deal, wenn diese denn eine hätte. Songs wie „Our Haunt“ beginnen wie softiger Urban Folk, aber dann entwickeln Palomar derart Wucht und Drive, dass es eine wahre Freude ist. „Bury Me Closer“ klingt zwar wie ein zartes Liebeslied, thematisiert aber nichts geringeres als Gevatter Tod: „Bury me closer / we won't be saved / we won't meet up again / we won't be found / we'll be lost underground“ wird mit freundlichsten Stimmen geflötet, bis einem mit zu Berge stehenden Haaren klar wird, worum es eigentlich geht. „Top Banana“ und „Bridge of Sighs“ mit twangenden Gitarren und eingängigen Melodien sind Indiepopperlen wie sie im Buche stehen, das die Throwing Muses angefangen hatten zu schreiben. Zu Palomar-Songs kann man vortrefflich tanzen, oder die Katze mit Chardonnay abfüllen und der Nachbarin Haschkekse anbieten. Mit „Woah“ ist auch ein getrageneres Stück an Bord, das glatt als Ballade durchginge, wäre „Ballade“ nicht ein so schweres, irgendwie belastetes Wort, das zu Palomar nicht wirklich passen will.


» palomartheband.com
» myspace.com/palomar



Holmes: So far, so so

Aus dem hohen Norden, genauer aus dem schönen Schweden, kommen die sieben Jungs und Mädels von Holmes. Doch typisch schwedisch klingt anders; kein Dicke-Hose-Schweden-Rock, kein sphärischer Landschaftsliebesgruß. Zum Glück zeigen uns Holmes, dass es auch anders geht. Und zwar mit wunderschönen, mit Country und Folk genährte verträumte Melodien. Sie nutzen neben den üblichen Instrumenten auch Akkordeon und Mandoline, welche eindeutig in die Country-Ecke zu stecken sind. Jede Menge Perlen gibt es auf ihrem Album „So far, so so“, die sechste Veröffentlichung seit 2002. Vor allem „Hello“ und „Songs of ours“ haben es auf die Tränendrüsen der Hörer abgesehen: „Hello, I love you so, baby, please don’t go …I got a ticket for two, you know it’s me and you. You know I love you so, baby, please let us go “ So schön, dass man sie kaum aus dem Ohr bekommt, so gemütlich, wie wenn man auf der Varanda seines Holzhäuschens sitzt und mit zusammengekniffenen Augen seinen Whiskey trinkt. Ganz großes Kino …noch schöner als die Folksongs Ryan Adams'! [Maria Sonnek, zuerst erschienen bei hurricanebar.de]


» haleri.se/holmes
» myspace.com/holmezzz<



Frog Eyes:
Tales of the Valedictorian
(Absolute Kosher/BB Island)

Frog Eyes: Tales of the Valedictorian

Alter Falter, was für ein geiles und zugleich krankes Album legen Frog Eyes da vor? Die sind doch definitiv nicht mehr ganz dicht im Kopf. Wie Arcade Fire auf Drogen, völlig verrückt. Auf „Tears Of The Valedictorian“, dem vierten Album der Band, wird gerockt, geloopt, verschachtelt, verzerrt und was weiß ich. „Tears …“ ist ein hyperaktives, ja hektisches Album. „Stockades“ bewegt sich zitternd wie ein Aal, völlig ruhelos. Die Tasten des Klaviers werden bearbeitet, als gäbe es kein Morgen. Schnell schnell, immer weiter, immer schneller. Der Herzkasper kommt von alleine. Überhaupt wirkt die komplette instrumentale Darbietung so, als würden die Gerätschaften aufs übelste geschlagen und getreten. Die armen Instrumente. Ruhepausen sind selten auf diesem Album. Und wenn, dann nur, um sich auf den nächsten Abgang vorzubereiten. Bei „Caravan Breakers, They Pray …“ oder „Reform The Countryside” werden die Pausen dazu genutzt, den Adrenalingehalt zu steigern. Frontmann Carey Mercer gibt völlig losgelöst seine Texte zum Besten, mit einer Leidenschaft, wie man sie sich nur wünschen kann. In Tonlagen, die einfach nicht zu fassen sind. Und dann fängt der mittendrin bei „Bushels“ an mit Indianergeschrei. Wer traut sich denn sowas sonst noch? „Tears …“ ist ein - gelinde ausgedrückt – intensives und schizophrenes Werk. Voller Energie. Kaum zu greifen oder festzuhalten. Abwechslungsreich in Bezug auf Geschwindigkeit und Melodie. Ein Zusammenspiel schräger Töne, die gemeinsam eine feste Einheit bilden. Hauptsächlich aus Mercers Gedanken entstanden. Er, der mit der Dame am Schlagzeug, Melanie Campbell, verheiratet ist. Ich will gar nicht dran denken, was bei Frog Eyes auf der Bühne abgehen wird, wenn die konservierte Musik schon dermaßen an die Substanz geht. Wer denkt, Meister Mercer wäre nur für die Musik zuständig, der irrt: Auch das trashige Cover hat er selbst gemalt. Zum Abschluß eine kleine Frage: Woher könnten Frog Eyes wohl stammen? Kanada, richtig.Vancouver, um genau zu sein. Es ist schon krass, was sich in diesem Land so an Bands tummelt. [Thomas Stein, zuerst erschienen bei hurricanebar.de]