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Juni 2007
Christina Mohr
für satt.org

Erasure:
Light at the End of the World
Interview mit Vince Clarke


Erasure:
Light at the End
of the World

(Mute/EMI)

Erasure: Light at the End of the World
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Als Erasure vor zwei Jahren das Album „Nightbird“ veröffentlichten, war klar, dass Vince Clarke und Andy Bell ihre Durststrecke überwunden hatten: nach vielen erfolgreichen Jahren, Hits wie „Sometimes“, „Oh L'Amour“ und unzähligen mehr, schien Mitte der neunziger Jahre ein wenig die Luft aus dem Projekt Erasure entwichen zu sein. Umso grösser war die Überraschung, dass „Nightbird“ wieder voller entzückender Popperlen war, die dazugehörige Tournee geriet zum Triumphzug: Erasure waren zurück und wurden weltweit von tausenden Fans gefeiert! 2006 erschien „Union Street“, auf dem unbekanntere Erasure-Songs in Akustikversionen zu hören waren. Das Album bewies, dass das Erasure-Konzept durchaus Variationen erlaubt, die Kompositionen sind stark und wirken im Akustikkleid ebenso wie im gewohnten Synthiesound. Das neue Album „Light at the End of the World“ präsentiert Erasure erneut in Hochform: die Songs zeigen alle Spielarten modernster elektronischer Dance-, Disco- und Popmusik und klingen doch in jeder Sekunde höchst vertraut – der typische Erasure-Sound eben. Vince Clarke widmet sich voller Enthusiasmus dem Geräte-Wunderland und zaubert plinkernd-fröhliche oder melancholische Arrangements für Andy Bells intime, persönliche Texte. Andy und Vince hatten in den letzten Jahren tiefgreifende private Veränderungen erlebt, Vince wurde Vater, Andy trennte sich nach zwanzig Jahren von seinem Partner. Dazu kommt, dass Vince seit einiger Zeit in Maine/USA lebt, Andy weiterhin in England – die Songs entstanden hauptsächlich per E-Mail, Vince schickte Andy seine Kompositions-Gerüste, Andy textete dazu. Dann traf man sich für zwei intensive Arbeitswochen in Portland, um die Songs im Studio zu überarbeiten und aufzunehmen. Produzent ist Gareth Jones, der schon mit Depeche Mode, Clinic, Nick Cave und vielen anderen zusammengearbeitet hat. In kurzer Zeit entstanden so 24 Songs, von denen es zehn auf „Light at the End of the World“ geschafft haben. Der Reigen wird von dem etwas grobgestrickten „Sunday Girl“ eröffnet, das nicht ohne Grund so heisst wie ein Hit von Blondie, dazu weiter unten mehr. Es gibt extrem tanzbare Stücke wie „Sucker for Love“, „How My Eyes Adore You“ und „Fly Away“, aber auch getragene Balladen wie „Darlene“ oder „Storm in a Teacup“, in denen Andy seine gescheiterte Beziehung verarbeitet. Die Single „I Could Fall in Love With You“ ist ein Gassenhauer, ein funkelnder Ohrwurm, wie man ihn von Erasure gewohnt ist – einmal gehört, nie mehr vergessen! Anlässlich des neuen Albums gibt es hier ein Interview mit Vince Clarke, das, wie ich betonen möchte (ähem), eine Rarität ist, denn Mr. Clarke überlässt das Reden meist Andy Bell. Das Gespräch fand am Telefon statt, Vince Clarke war in New York, die Verbindung war grausig schlecht, brach zwischendurch sogar ab und Vince musste mehrmals die Leitung wechseln. Dennoch konnten wir – transatlantisches Rauschen hin oder her – ein paar Sätze austauschen, die ich hier nach bestem Wissen und Gewissen wiedergebe:

CM: Der erste Song auf Eurem neuen Album heisst „Sunday Girl“ - ist das als Hommage an Blondie zu verstehen, die in den Siebzigern einen gleichnamigen grossen Hit hatten?
VC: Ja, „Sunday Girl“ kann man so verstehen. Andy ist grosser Blondiefan, wir spielen auch „Rapture“ live.

CM: Das Album heisst „Light at the End of the World“ - ist die Welt ein so dunkler Ort für Euch, dass erst am Schluss die Erlösung kommt?
VC: Nein, im Gegenteil: der Titel drückt die positive Grundstimmung der Platte aus. „Light at the End of the World“ ist ein sehr lebensbejahendes Album geworden.

CM: Du hast Erasure vor 22 Jahren gegründet – hättest du jemals gedacht, dass Ihr so lange erfolgreich sein werdet?
VC: Daran habe ich nie gedacht, man denkt immer nur von Platte zu Platte, aber nicht in solchen Zeiträumen. Man arbeitet einfach weiter und auf einmal ist es 2007!

CM: Du hast Depeche Mode verlassen, bevor sie richtig berühmt wurden – bestand später zwischen Dir/Erasure und Depeche Mode eine Konkurrenzsituation?
VC: Nein, Konkurrenz auf keinen Fall – Depeche Mode machen eine ganz andere Art elektronischer Musik als wir, wir haben uns in verschiedene Richtungen entwickelt. Depeche Modes Musik ist ganz auf Martin Gores Songwriting ausgerichtet - ich bewundere Martins Arbeit übrigens sehr!

CM: Glaubst du, dass Bands wie Ihr oder die Pet Shop Boys den Weg dafür geebnet haben, dass queere/schwule Bands wie die Scissor Sisters heutzutage im Mainstream angekommen sind?
VC: Ich glaube, dass die Zeiten sich einfach ändern – zum Glück. Welche Rolle Popmusik dabei spielt, kann ich nicht sagen. Ich denke schon, dass heute vieles möglich ist, was früher absolut undenkbar gewesen wäre und ich würde mich freuen, wenn Erasure dazu einen Beitrag geleistet haben.

CM: Fühlst du dich als Pionier der elektronischen Popmusik?
VC: Oh nein, es gibt jede Menge anderer Leute, die den Titel „Pionier“ mehr verdient haben als ich …

CM: Erasure beeinflussen viele junge Bands – von wem bist du beeinflusst worden?
VC: Ich bin grosser Paul-Simon-Fan! Ich bewundere sein Songwriting und vor allem seine Art, Gitarre zu spielen! „Graceland“ ist eine unglaublich gute Platte.

CM: Du bist vor einiger Zeit Vater geworden – hat dein Kind deine Art zu arbeiten verändert?
VC: Oh ja, ich arbeite viel intensiver, weil ich weniger Zeit habe – und natürlich mehr Zeit mit meiner Familie verbringen will, deswegen trödle ich nicht mehr so lange im Studio herum. Sagen wir so: ich nutze meine Zeit effektiver! Und das kommt auch der Musik zugute, ich arbeite viel „straighter“. Mein Sohn ist jetzt in dem Alter, wo er anfängt zu laufen und zu sprechen, das ist wahnsinnig spannend und interessant. Und ich höre sehr viele Kinderlieder ….

CM: Wolltet Ihr nicht mal eine ganze Platte mit Kinderliedern machen?
VC: Die Idee besteht immer noch: wir werden althergebrachte „nursery rhymes“ in düstere, gruftige Gothicarrangements verpacken. Das soll wirklich scary werden!

CM: Letzte Woche war Eurovision Song Contest, der britische Beitrag wurde vorletzter – hattest du jemals die Idee, einen Song für den Contest zu schreiben? Morrissey wollte sowas ja mal machen?
VC: Nein, definitiv nicht. Und Morrissey kann das nur ironisch gemeint haben. Hoffe ich jedenfalls.

CM: Du hast mal gesagt, Du hättest eine „Mid-Tempo-Krise“, Erasure-Platten würden kontinuierlich langsamer werden. Das scheint mit dem neuen Album überwunden …
VC: Wir werden ja auch immer älter und da neigt man dazu, betulichere Lieder zu schreiben – für das neue Album hatten wir uns fest vorgenommen, mehr Uptempo-Nummern zu schreiben, das hat zum Glück auch funktioniert! (lacht)

CM: Komponierst du auf der Gitarre oder mit dem Synthie?
VC: Obwohl wir ja eine reine Elektronikband sind, komponiere ich die Songs zunächst auf der Gitarre.

CM: Früher hat man dir angemerkt, dass du die Livesituation nicht so mochtest – wie ist das heute?
VC: Ich stehe mittlerweile viel lieber auf der Bühne als früher, ich liebe es, live aufzutreten. Ich befinde mich ja auch in der komfortablen Lage, die meiste Zeit hinter meinen Geräten stehen zu können. Dabei kann ich gut Andy beim Performen zuschauen! Er ist für die Bühne, die Performance gemacht, mir ist das immer viel schwerer gefallen. Von daher ergänzen wir uns einfach sehr gut.

CM: Du und Andy arbeitet schon sehr lange zusammen – wird es einfacher oder schwieriger, weil man sich neue Themen aus den Fingern saugen muss?
VC: Es wird definitiv einfacher, man öffnet sich dem anderen leichter, dann kommen neue Sounds und Texte von ganz allein.
CM: Man könnte bei Euch also auch von einer „creative marriage“ sprechen?
VC: (lacht) Ja, dieser Begriff trifft es ganz gut!

CM: Andy hat Euch als die „Gilbert & George der Popmusik“ bezeichnet …
VC: Na ja, es stimmt, wir sind schon ziemlich exzentrisch!

CM: Ihr stammt beide aus der Arbeiterklasse – was würdest du machen, wenn du kein Musiker geworden wärst?
VC: Ich wäre LKW-Fahrer! Transeuropa-Trucker!


Erasure live
in Deutschland 2007:

01. Okt. Bielefeld Ringlokschuppen
02. Okt. Hamburg CCH3
03. Okt. Chemnitz Stadthalle
05. Okt. Berlin Columbiahalle
06. Okt. Köln E-Werk
07. Okt. München Muffathalle
CM: In den USA seid Ihr bald mit der „True Colors Tour“ unterwegs – kannst du uns dazu etwas erzählen?
VC: Wir werden am 8. Juni in Las Vegas mit der Tour beginnen, als Gaststars sind die Dresden Dolls, Cyndi Lauper, Debbie Harry, Misshapes und The Gossip dabei, wir erwarten aber auch Rufus Wainwright und noch andere mehr. Von jedem verkauften Ticket geht ein Dollar als Spende an die „Human Rights Campaign“, die queere und schwule Projekte unterstützt. Wir sind sehr stolz darauf, dabei zu sein und freuen uns schon, wenn es losgeht.

CM: Werdet Ihr das neue Album auch in Deutschland vorstellen?
VC: Wir gehen im Herbst auf eine kleine Deutschlandtour – bis dann, ich hoffe, Ihr kommt alle!

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