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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




November 2006
Christina Mohr
für satt.org

Punk Rock Re-Read and Revisited

Die hier vorliegenden Bücher haben – in unterschiedlicher Form und Ausprägung – ein gemeinsames Thema: Leben mit Punk. Diese musikalische Epoche, die alle sterben sehen sahen und das schon vor 25 Jahren, entpuppt sich als für immer untotes Genre, das ungebrochen Stoff für Ausstellungen, Retrospektiven, Sampler, Bücher, Theaterstücke, etc. liefert. Die Protagonisten von damals sind entweder tot, dick oder einfach alt; wenn noch lebendig, dann haben sie meist den Marsch durch die Institutionen hinter sich, den ihnen die 68er vorgemacht haben. War also alle Rebellion umsonst? Das nicht, man muß sich nur damit abfinden, daß Punk niemals stirbt, aber alt wird wie du und ich.



Tony Parsons:
Als wir unsterblich waren

Blumenbar

Tony Parsons begann im sagenumwobenen Jahr 1977 für den New Musical Express (NME) zu schreiben. Er und seine spätere Gattin Julie Burchill hoben den bis dato etablierten Popmusikjournalismus aus den Angeln, vergleichbar nur mit dem amerikanischen Kollegen Lester Bangs. Parsons/Burchill schrieben hemmungslos subjektiv, selbstverliebt und größenwahnsinnig – diese Eigenschaften machten die beiden zu idealen Wegbereitern für diese neue, unerhörte Musik, diesen Krach namens Punk, den ihre älteren Schreiberkollegen nicht als Musik identifizieren konnten. Ohne die subversiven Artikel von Tony Parsons und Julie Burchill wären The Clash, die Sex Pistols und Punk überhaupt nicht zu der alle Popkonventionen umwerfenden Bewegung geworden. Das ist lange her, Parsons/Burchill trennten sich vor Jahren, ihr schmutziger Scheidungskrieg füllte nun die Tabloids in GB. Mittlerweile ist Tony Parsons ein erfolgreicher, gutsituierter Schriftsteller, in England ist sein Status ungefähr gleich mit dem Nick Hornbys (seine früheren Romane sind allesamt auf Deutsch erschienen, zum Beispiel „Männlich, alleinerziehend, sucht …“ und „One for my Baby“, beide Piper Verlag). Sein aktueller Roman „Als wir unsterblich waren“ erzählt ziemlich unkaschiert Parsons eigene Geschichte, damals beim NME, der hier „The Paper“ heißt. Kernfiguren sind Terry, Leon und Ray, drei junge Laienjournalisten, deren Lebensläufe sich in der Nacht als Elvis stirbt, grundlegend verändern. Alle drei werden in dieser Nacht mit Frauen geschlafen haben, die sie vorher nicht kannten. Einer wird Vater, der andere wird „The Paper“ verlassen, der dritte wird vom Fan zum „richtigen“ Schreiber. Die drei jungen Männer, aus unterschiedlichsten Elternhäusern mit ihren jeweiligen unterschiedlichen Elternproblemen werden verbunden durch ihre Liebe zur Musik, getrennt durch Konkurrenzkampf und wieder verbunden durch die Liebe zur Musik. Leon, der „linkeste“ der drei Journalisten, sieht hinter dem Hedonismus des Pop auch immer die politische Seite: er warnt vor der National Front und wird zunächst dafür verlacht, im weiteren Verlauf zeigt sich, dass seine Angst berechtigt war. Nationalistische Ausschreitungen und rassistische Angriffe in London und ganz England führen dazu, dass sich „The Paper“/NME eindeutig politisch, nämlich links positioniert. Da wir uns im Jahre '77 befinden, tauchen natürlich viele Namen von Bands auf, die die Punkjahre prägten. Manche mit Realnamen, manche verdeckt, doch das Rätstelraten dürfte den meisten Lesern nicht schwer fallen: die Figur des vom Protagonisten Terry so verehrten „Dag Wood“ dürfte leicht zu entschlüsseln sein, ebenso der New Yorker Junkiemusiker „Billy Blitzen“, die vom Autor gehaßten „Leni and the Riefenstahls“ oder „The Sewer Rats“, die wegen ihrer berüchtigten Fankolonnen „The Dagenham Dogs“ ihre Beliebtheit oft aufs Spiel setzten. Auch Tony Parsons' Ex Julie Burchill hat ihren Auftritt – nur wenig verändert als „Misty“, große Liebe Terrys, mit deren pinkfarbenen Plüschhandschellen das Liebespaar am Ende des Buchs zusammengekettet ist. Die Story liest sich locker, kann aber wenig darüber hinwegtäuschen, daß für Mr. Parsons die Punkjahre goldene Zeiten bedeuteten. Deswegen gerät so manches ein wenig nostalgisch-verklärt, selbst der Kampf zwischen Punks und Teds erscheint beinahe liebevoll idealisiert. Wer einen weniger wehmütigen und rückwärtsbezogenen Text zum Thema lesen will, soll im Antiquariat nach Julie Burchills Autobiograpie „Verdammt – ich hatte recht!“ (rororo) Ausschau halten.

Oliver Maria Schmitt: Anarchoshnitzel schrieen sie

Oliver Maria Schmitt:
Anarchoshnitzel schrieen sie

Rowohlt Berlin

Stilistisch und inhaltlich völlig anders, nämlich unterm Strich unerträglich ist Oliver Maria Schmitts „Anarchoshnitzel schrieen sie. Ein Punkroman für die besseren Kreise“ geraten. Schmitt, seines Zeichens ehemaliger und in dieser Rolle anbetungswürdiger Chefredakteur der „Titanic“ hat auch seine Geschichte aufgeschrieben – beginnend im schwäbischen Heimatdorf des Helden (der rein zufällig Peter Hein heißt), dessen mit Schulfreunden während der Kohl-Ära gegründete Band „Gruppe Senf“, die als absoluten USP die wilde Punkmieze Itty Lunatic als Sängerin vorweisen konnte. Jahrzehnte später, im Hier und Jetzt sozusagen, macht sich ebendieser Peter Hein mit seinem alten Kumpel Doktor Jürgen Hollenbach (ehemaliger Schlagzeuger der Gruppe Senf) auf den Weg in den wilden Osten, um Itty zu suchen und die Band zu reformieren. Auf dem Weg dorthin begegnen ihnen obskure Gestalten wie der schwule Ost-Skinhead Thor Steinar, der Politiker Genorad Diether oder Rolf Nippwerth, die einzige Figur des Romans mit Bart. So weit so eigentlich lustig. Da aber Oliver Maria Schmitt ein begnadeter Witzeschreiber und -erzähler ist, kommt auch in jeden Satz ein Witz hinein. Das ist zweieinhalb Seiten lang originell, dann kann man nicht mehr – tut mir leid, nach einem vielversprechenden Anfang mußte die Rezensentin auf halber Strecke aufgeben. Trotzdem: Oliver Maria Schmitt ist als Performer eine echte Schau. Sollte er in Eurer Nähe eine Lesung machen, unbedingt hingehen. Auch wenn er „Anarchoshnitzel“ liest.

Mark Andersen, Mark Jenkins: Punk, DC

Mark Andersen,
Mark Jenkins:
Punk, DC

Ventil Verlag

Washington, D.C. [ˈwɔʃɪŋtn̩] ist die Hauptstadt und der Regierungssitz der Vereinigten Staaten. Die Stadt ist benannt nach George Washington, dem Führer der Unabhängigkeitsbewegung und ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten. D.C. steht für District of Columbia, der amerikanische Regierungsbezirk. Die Stadt gehört keinem Bundesstaat an, sondern hat als District of Columbia (D.C.) einen Sonderstatus.
Washington ist auch Sitz des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. (Quelle: wikipedia.de)
„Punk, DC“, im Original „Dance of Days“, geschrieben von Mark Andersen und Mark Jenkins, ist eine minutiöse Historie der Punkrockszene Washingtons, von damals bis heute, inklusive Ausblick in die Zukunft. Auf fast 500 Seiten lassen die Autoren MusikerInnen, Szenemitglieder, Zeitzeugen zu Wort kommen, viele Vorkommnisse und Konzerte werden derart detailreich geschildert, dass man sich nie sicher ist, ob man nicht doch dabei war. Der Washington-Punk, gerne auch HarDCore genannt, wird hier in all seiner Bandbreite dargestellt: Straight-Edge-Bands wie Minor Threat und Fugazi, die umstrittenen wie legendären Bad Brains werden vorgestellt, aber auch auf ganz frühe Bands wie die Slickee Boys wird eingegangen. Herausragende Einzelfiguren wie Ian MacKaye, „godfather of hardcore“, Gründungsmitglied von Minor Threat und Fugazi, Labelchef von „Dischord“, tauchen naturgemäß an vielen Stellen des Buchs auf, auch wenn die Autoren sicherlich jeglichen Starkult vermeiden wollen. Ein langes Kapitel widmet sich den Riot Grrrls – Kathleen Hanna und Bikini Kill, Bratmobile und das namengebende Fanzine „riot grrrl“ erfahren eine längst fällige Würdigung. Hanna und ihre Mitstreiterinnen verstanden sich schon immer als Punks, waren aber angenervt und verunsichert durch das brutale und sexistische Verhalten ihrer männlichen Kollegen. Als Gegenbewegung zum schwanzgesteuerten Hardcore-Slamdancing, aber auch als Augenöffner in Bezug auf Teenagerschwangerschaften oder Vergewaltigungen innerhalb der Szene ging Riot Grrrl um die Welt. Am meisten profitierte Courtney Love von der Bewegung, die mit der Washingtoner Szene nichts zu tun hatte, aber geschickt darin war, authentisch zu erscheinen. Dass Washington, DC nicht als Solitär innerhalb der amerikanischen Musikszene zu sehen ist, wird klar durch die verästelten Beziehungen US-amerikanischer Bands untereinander. Das läßt sich besonders anschaulich anhand der Geschichte des jungen Schlagzeugers Dave Grohl aus Washington erzählen, der sich einige Jahre nach seinen ersten musikalischen Gehversuchen bei Nirvana wiederfand …
Wie sehr die Straight-Edge- und HarDCore-Szene Widersprüchen unterliegt und selbstgelegten Fallstricken ausgeliefert ist, wird im Buch durch viele Bands deutlich gemacht, die wegen ihres wachsenden Erfolgs von den Fans erster Stunde „sell-out“ vorgeworfen bekamen – Fugazi sind nur ein Beispiel. „Punk, DC“ ist kein Buch für Leser, die sich mal schnell einen Überblick über Washington-Punk verschaffen wollen: „Punk, DC“, das bereits als „England's Dreaming für die amerikanische Punkszene“ gelobt wurde, ist randvoll mit Bildern, Geschichten, szeneinternen Verbindungen – und jeder Menge Namen: Clubs, Bands, Radiostationen, Fanzines, die man alle in Großbuchstaben präsentiert bekommt. Zufällig aufgeblättert: auf Seite 413 finden sich nicht weniger als zehn Bandnamen.
Dankenswerterweise hört für Andersen/Jenkins die Geschichte des Washington-Punk nicht 1993 auf. Die Autoren sind selbst weiterhin in der Szene aktiv und fair genug, Bands wie Good Charlotte zwar nicht mehr als bedeutend für sich, aber für die Teen-Punks von heute wichtig anzusehen. Die letzten Seiten von „Punk, DC“ widmen sich „dem Leben danach“: hier kann man nachlesen, wo sie alle geblieben sind, die HarDCore-Protagonisten aus Washington, DC.

Jeff Bench, A Tribute to the Sex Pistols

Jeff Bench:
A Tribute to the Sex Pistols

Fotografien aus der REX-Kollektion
Schwarzkopf & Schwarzkopf

Der bunte Punkrockreigen schließt mit einem Bildband über die Band, die für immer als DIE Punkband angesehen werden wird. Sie sind die „falscheste“, gefakteste, aber schillerndste und öffentlichkeitswirksamste Punkband aller Zeiten: klar, die ollen Sex Pistols. Schwarzkopf & Schwarzkopf hat das Archiv von Rex Features, der führenden unabhängigen britischen Presseagentur für Fotografie durchforstet und Material für ein luxuriöses dickes Buch gefunden. Herausgeber Jeff Bench, Dozent für Musik, Design und Populärkultur, kommentiert die Fotos und erzählt weitgehend Bekanntes, aber noch immer Essentielles über das London der siebziger Jahre. Mittlerweile kommen einem die Leute auf den Bildern wie alte Bekannte vor: seien es die Pistols selbst, oder Wegbegleiter und Zeitgenossen wie Siouxisie Sioux, Sue Catwoman oder Jordan, die legendäre Verkäuferin aus Vivienne Westwoods „Sex“-Shop. Womit wir bei der Mode sind: in diesem Band wird die Verbindung zwischen Punk und Mode, die wechselseitige Abhängigkeit von Design und rebellischen Jugendlichen besonders deutlich vor Augen geführt. Es gibt Fotos von John Lydon vor und nach dem Zusammentreffen mit Westwood/McLaren, man kann sein DIY-Punkoutfit mit dem von Westwood gestylten Bondage-Anzug direkt vergleichen. Es fällt auf, wie JUNG sie waren, die Lydons, Matlocks, Cooks und Vicious', wie verletzlich und wenig gefährlich sie im Rückblick wirken – mehr new romantic als search and destroy.
Fotos zur britischen Begeisterung in Bezug auf die Queen und ihr 77er-Jubilee runden den Band ab, der viel weniger überflüssig ist, als man zunächst denkt.