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November 2006
Christina Mohr
für satt.org


GirlMonster
Sampler
Chicks on Speed 2006
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Female Future Transatlantic
Sampler
Phazzadelic, edel contraire 2006
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Erase Errata: Nightlife
Kill Rock Stars, Cargo 2006
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4 Women no Cry II
Sampler
Monika 2006
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Renaissance des F-Worts

Der Feminismus hat ein Imageproblem: kaum eine junge Frau bekennt sich offen dazu. Dem F-Wort haftet etwas hoffnunglos Verstaubtes, Altmodisches an, man assoziiert blaustrümpfige Suffragetten und vielleicht noch Alice Schwarzer, aber was haben die denn noch im Leben junger Frauen von heute zu suchen? Und doch ist ein explizit feministisches Bewußtsein gerade jetzt und heute so wichtig wie schon lange nicht mehr, man will ja gar nicht erst anfangen mit Eva Herman und der von ihr angezettelten Kinder-Küche-Kirche-Hysterie.

GirlMonster

Die wilden Weiber von Chicks on Speed haben jedenfalls kein Problem mit dem Feminismus, im Gegenteil, Melissa Logan, Alex Murray-Leslie und Kiki Moorse feuern denjenigen, die zaudern, zagen und zweifeln eine fette Breitseite entgegen: Chicks on Speed haben den wahrhaft monströsen Sampler GirlMonster konzipiert, 61 Tracks auf drei CDs, dreieinhalb Stunden Spieldauer, dazu ein aufwendig gestaltetes Booklet mit Texten von zum Beispiel Lucy O' Brien, der Autorin von „She Bop“ I und II. Zu jeder Band, jeder Künstlerin auf GirlMonster lassen sich aufregende Geschichten erzählen; Netze und Verbindungen knüpfen sich zum Teil von ganz allein – und manche bedürfen intensiver Recherchearbeit. Ein Sampler mit didaktischem Auftrag sozusagen. Chicks on Speed setzen dem gesamten Produkt/Projekt ihren unverwechselbaren Stempel auf: beginnend beim charakteristischen COS-Collagen-Artwork bis zu ihrer Unterscheidung zwischen dem „FemBot“ (perfekt funktionierende Glam-Popstars wie Madonna und Kylie Minogue) und dem „GirlMonster“, dem dieser Sampler gewidmet ist.

Im letzten Jahr deutete sich zart an, dass in Sachen Frauenmusik noch einiges an Aufarbeitung nötig ist: Crippled Dick Hot Wax! (ausgerechnet das Label, das für Softpornosoundtracks wie „Schulmädchenreport“ berühmt ist) veröffentlichte den Sampler „GRLZ – Women Ahead of Their Time“ und brachte Namen wie The Slits, The Raincoats und Delta 5 nach Jahrzehnten wieder ins Gespräch. Auf einmal schien es wieder andere Rolemodels zu geben als die immergleichen Britneys und X-Tinas, man erinnerte sich, dass sich während dieser verstaubten Ära, genannt „Punk“ beziehungsweise „Postpunk“ besonders für Frauen neue Chancen auftaten. Damals durften Musikerínnen noch aussehen wie sie wollten, sie durften sogar dick sein und Zahnspange tragen wie Poly Styrene von X-Ray-Spex.

Erase Errata

Aber genug der Rückschau, jetzt ist GirlMonster da und fordert Aufmerksamkeit. Eigentlich genügt die Aufzählung der Tracks und Künstlerinnen, um die herausragende Stellung des GirlMonster-Samplers zu veranschaulichen: Le Tigre, Rhythm King and Her Friends, Client, Michaela Melián, Kevin Blechdom, Planningtorock, Björk, Soffy O, Gudrun Gut, Cobra Killer, Hanin Elias, Francoise Cactus, Tina Weymouth (Talking Heads, Tom Tom Club), Cosey Fanni Tutti (Throbbing Gristle), Ari Up (ehemals Slits) … sie alle sind mit zum größten Teil neuem und unveröffentlichtem Material vertreten, zur Abrundung sind Girlpunk-Klassiker der späten siebziger und achtziger Jahre zu hören, Pulsallama zum Beispiel, und „Die Matrosen“ von der Schweizer Band LiliPUT, die ganz früher Kleenex hießen; „Your Turn to Run“ von Malaria!, „Typical Girls“ der göttlichen Slits in einer sehr fransigen Liveversion und „Mind Your Own Business“ von Delta 5, das niemals seine lapidare In-Your-Face-haftigkeit verlieren wird. GirlMonster legt den Schwerpunkt auf Elektro-Wave/-Punk und man darf sich mit Peaches freuen, die bereits im Frühjahr verkündete, dass elektronische Musik zur Zeit in erster Linie mit KünstlerINNEN in Verbindung gebracht wird. Aber es gibt auch eher punkrockige Stücke von Boyskout und Erase Errata, deren neue Platte „Nightlife“ (auf Kill Rock Stars) sich hervorragend zum Vertiefen und Nachprüfen eignet, wie sich junge wilde Feministinnen im Jahre 2006 anhören.

Die Band um Sängerin/Gitarristin Jenny Hoyston entwickelt in 12 Tracks eine faszinierend-klaustrophobische Stimmung, mal punkrockig-rasant, mal monoton, irgendwo zwischen No Wave, Disco, Punk und Kuhglocken. Erase Errata sind mittlerweile nur noch zu dritt, was zu einer enormen Verdichtung ihres Sounds geführt hat. Zum Teil The Gossip nicht unähnlich, aber Erase Errata sind komplizierter, unzugänglicher, enervierender. Und deshalb auch meistens besser.

Female Future Transatlantic

Das GirlMonster ist keine böse, verschlingende Vagina Dentata: das GirlMonster ist zwar wild und laut, aber sehr freundlich und hält verschwisterten Projekten wie den beiden ebenfalls gerade erschienenen Samplern „Female Future Transatlantic“ (Phazzadelic) und „4 Women II“ (Monika) galant die Tür auf. Diese beiden Platten kommen zarter und bescheidener daher, geben sich weniger programmatisch-knallig als eher fließend experimentell. Sowohl zu „Female …“ als auch zu „4 Women“ gibt es Vorläufer, deren nachträglicher Genuß nicht schaden kann und an dieser Stelle ausdrücklich empfohlen sei. Das Element Wasser verbindet beide Projekte, zum einen „transatlantisch“, Grenzen überwindend, zum anderen als Obsession der Monika-Labelbetreiberin Gudrun Gut, die ihr Label angeblich nach ihrem Goldfisch benannte. Dementsprechend fließend und elegant perlen die Tracks aus den Boxen: Niobe eröffnet „Female Future“ mit dem sparsam instrumentierten „The Hills“, danach hört man ein entrücktes Medley der siebzigjährigen Alice Coltrane (der Witwe von John „Trane“ Coltrane) mit Jazzharfe, dann geht es nach Bayern, in Michaela Meliáns „Kloster“, Masha Qrella steuert einen sehr deepen Track namens „Everything Shows“ bei und so geht es spannend und ozeanisch weiter bis zum letzten Song von Barbara Lahr.

4 Woman no Cry II

„4 Women No Cry II“ stellt wie schon bei der ersten Ausgabe vier Musikerinnen mit jeweils mehreren Tracks vor, dieses Mal sind die New Yorkerin Dorit Chrysler (geboren in Österreich) mit an Bord, Mico aus London, Monotekktoni aus Berlin und Iris aus Barcelona. Dorit Chrysler ist Gründerin der NY Theremin Society und der European Theremin Association, daher spielt dieses wundersame Instrument, das auch Ätherophon genannt wird, eine große Rolle in ihrem Oevre. Mico ist in Japan geboren und kann auf eine sehr interessante musikalische Biografie verweisen: sie schrieb Filmmusik für viele Manga Animes, zusammen mit der japanischen Violinistin Aska Kaneko das Elektroduo Mekong Zoo gegründet, war gleichzeitig Teil des Drum'n'Bass-Projekts Apache 61, arbeitete mit Coldcut zusammen und war an Tracks von Barbara Morgenstern und Robert Lippok beteiligt. Monotekktoni (bürgerlich Tonia Reeh) ist weit über Berlins Grenzen durch ihre One Woman Electro Show bekannt, sie spielt und samplet alles selbst und war Mitglied der Berliner Band Das Zuckende Vakuum. Iris ist die wahrscheinlich am wenigsten bekannte Musikerin der „4 Women“-Compilation; sie spielte beim diesjährigen Sonar Festival, einige ihrer Tracks sind bereits auf Samplern erschienen.

So, das war jetzt ganz schön viel Material – aber jede einzelne Sekunde dieser CDs lohnt die Aufmerksamkeit. Chicks on Speed, die Monikas und alle anderen hier erwähnten Künstlerinnen, Musikerinnen und Labelbetreiberinnen, zusammen sind sie das GIRLMONSTER und rufen in die Welt, dass Feminismus stark, schlau, schön und sexy macht! Auch die Jungs!