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Oktober 2006
Marc Degens
für satt.org


Namosh:
Moccatongue

Bungalow Records 2006

Pere Ubu: Why I Hate Women
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Namosh: Moccatongue

Der Zitteraal

Noch vor zwölf Jahren war die Independentmusikszene in Berlin verhältnismäßig klein und überschaubar. Neben der regen Technoszene gab es genialische, an einer Hand abzuzählende Ausnahmebands wie „Einstürzende Neubauten“, „Atari Teenage Riot“, „Stereo Total“, „Mutter“ oder die „Lassie Singers“, doch im Vergleich etwa zur als Einheit wahrgenommenen Hamburger Schule wirkten diese Gruppen wie kauzige Einzelgänger. Köln, Wilzhofen, München … Überall in der Republik konnte und wurde Independentmusik gemacht. Inzwischen muß man Berlin angesichts seiner vitalen, vielfältigen und unterschiedlichen Musikszenen zur Hochburg, vielleicht sogar zur Hauptstadt der deutschen Independentszene zählen. Zwar gibt es immer noch reichlich exzentrische Sonderlinge wie die mit Puppen spielende Sirene „Krawalla“ von „Räuberhöhle“ oder die übergeschnappten Rockshows von „Transformer di Roboter“, doch dazu gesellen sich die erfolgreichen Rapper von „Aggro Berlin“, internationale Exportschlager wie der „Gnarz“-König „T.Raumschmiere“ und das dazugehörige „Shitkatapult“-Label oder die glamourösen Electroclash-Erscheinungen wie „Cobra Killer“, „Boy from Brazil“, Angie Reed – und Namosh.

Namosh
Namosh
Krawalla
Krawalla von Räuberhölle
Namosh
Namosh

Vor drei Jahren sorgte der damals einundzwanzigjährige Namosh E. Arslan mit „Picked up Floozy!“ auf dem Sampler „Berlin Insane“ für Aufsehen. Die „compilation of weird electronics & future rock’n’roll“ war eine Leistungsschau der Berliner Electroclash-Szene, die vom Rock‘n‘Roll, Punk und New Wave beeinflußte Tanzlieder mit unanständigen Texten in moderne elektronische Gewänder hüllt, und deren bekanntestes Aushängeschild die aus Kanada stammende Wahlberlinerin Peaches ist, die kürzlich ihr drittes Album „Impeach my bush“ veröffentlicht hat. „Picked up Floozy!“ wurde ein Clubhit und die wummernde, von Namoshs schmachtender Stimme und seinem nervös zerhackten Gesang getragene Elektronummer bringt auch heute noch die Tanzflächen zum Beben. Auf der folgenden EP und den beiden Maxi-LPs zementierte der kurdische, in einer schwäbischen 3.000-Seelen-Gemeinde aufgewachsene Electro-Entertainer seinen Ruf: Niemand hustet so sexy wie er.

Namosh
Namosh
Cobra Killer
Cobra Killer
Namosh
Namosh

Electroclash-Konzerte sind Show-Ereignisse mit Sex, Drugs und Quatsch. Während sich bei einem klassischen Rockkonzert die Musiker auf der Bühne auf ihr Instrument konzentrieren können, müssen sich die oft als Duo oder einzeln auftretenden Electroclasher im Vorfeld viele Gedanken machen, was sie eigentlich vierzig, fünfzig oder sechzig Minuten oben auf der Bühne anstellen wollen. Daraus entstehen mitunter große Momente. Legendär wurden die besoffen-entfesselten Performances von „Cobra Killer“: In dem Augenblick, in dem Annika Trost wie eine Statue dastand und zum Industrial-Lärm eine Flasche Rotwein über ihrem Kopf auskippte, hatte man das Gefühl, einem künstlerischen Happening und nicht einem Popkonzert beizuwohnen. Mindestens ebenso schrill und noch atemberaubender sind die Auftritte von Namosh, der die ganze Zeit über mit weit aufgerissenen Augen haucht und fingerschnippt, kreischt und schmettert, an den unmöglichsten Stellen zuckt und zappelt, bis zum Nasenbluten und darüber hinaus. Seine Leidenschaft, Körperbeherrschung, Ausdauer und Tempo sind einzigartig und nahezu unbeschreiblich: Namosh ist ein Zitteraal mit einer hinreißenden Stimme, der, sobald er seine Körpermaschine angeschmissen hat, die Säle und Keller zum Kochen bringt und jeden im Publikum zum Mitwackeln zwingt … Er ist ein Naturereignis und ein in aller Welt gefeierter Gast der Showbühne.

Annika Trost

Annika Trost von Cobra Killer
Fotos: satt.org

Mit „Moccatongue“ erschien nun Namoshs erstes reguläres und lang gereiftes Album, das die Hits der vorangegangen Platten in aufgepeppten Versionen versammelt und zudem drei tolle neue Tanznummern. Die CD-Pressung bietet überdies die sehenswerten Videos zu „The Pulse“ und „Cold Cream“, Björks Lieblingslied aus dem Jahre 2005. Namosh selbst beschreibt seinen Musikstil als „organisch-elektronisch mit Singsang, Liebesrap, Jazzgrunge und Hardcore-a-cappella“. Gerade zum Ende des Albums hin gibt er sich mit mehreren grotesk-albernen Sprech- und Soundcollagen auch als Nachfahre der „Genialen Dilletanten“ zu erkennen: Zu der soeben erschienenen Musikhörspiel-CD „Das Dieter Roth Orchester spielt kleine wolken, typische scheiße und nie gehörte Musik“ mit vertonten Texten des 1998 verstorbenen Künstlers und Dichters Dieter Roth von u.a. Mouse on Mars, Andreas Dorau und der singenden Häkelpuppe Wollita hat Namosh auch ein Stück beigesteuert. Sein musikalisches Spektrum ist breit, doch wer Namosh jemals live erlebt hat, weiß, daß es nicht ausreicht, ihn bloß zu hören.


Erstveröffentlichung in der F.A.Z. vom 10. Oktober 2006.