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September 2006
Robert Mießner
für satt.org


Willard Grant Conspiracy: Let It Roll
Glitterhouse 2006

Willard Grant Conspiracy: Let It Roll
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Robert Fisher,
Gründer der Willard Grant Conspiracy,
im Interview

Robert Fisher

Robert Fisher
Fotos: Laurent Orseau

Kollektivismus statt Geniekult
Willard Grant Conspiracy „Let It Roll“

Wo habt ihr eure Familien gelassen? Wir haben keine, deshalb müssen wir jeden Abend auf der Bühne stehen“ – Robert Fisher, Songwriter, Sänger, Gitarrist und Kopf eines zwischen Kalifornien, Holland und Slowenien verstreuten Musikerkollektivs, genügt eine knappe Konzertansage, um zu verdeutlichen, worum es ihm und den Seinen in der Musik geht. Nicht der große Einzelne, neurotisch, schwer kalkulierbar und dabei nie um genialische Eingebungen verlegen, steht im Mittelpunkt der Willard Grant Conspiracy, sondern die Band als arbeitende Gemeinschaft: „Das Wichtigste am Schreiben, am Songschreiben, ist mir, dass es Kommunikation ermöglicht. Ich kann damit leben, gut sogar, wenn ein Zuhörer mich völlig anders versteht, als ich es beabsichtigt habe. An der Kommunikation mit den Bandmitgliedern wie mit dem Publikum interessiert mich das überindividuelle Element. Das ist es, was ich zu erreichen hoffe. Ich bin davon überzeugt, dass, egal ob jemand fotografiert, malt, schreibt oder musiziert, er oder sie damit nicht in den eigenen vier Wänden bleiben will.

Dass er satt.org im Hinterzimmer eines Berliner Ladengeschäfts, bei Pfefferminztee und Mineralwasser, alleine Rede und Antwort stand, ist nur scheinbarer Widerspruch eines Mannes, dessen meistgebrauchte Wörter „Austausch“ und „Natürlichkeit“ sind. Der Weg zur Bühnenfamilie war weit. Und alles andere als geradlinig. Fisher wächst in den bewegten sechziger Jahren in Kalifornien auf. Unweit von Lancaster, der Stadt, deren Sohn Don Van Vliet sich bald Captain Beefheart nennen wird. Fishers bewohnen Apartments in Los Angeles, vom Kind als greller Alptraum empfunden, und Blockhütten in der Wüste, die früh die Fantasie infiziert. Mehr als einmal wird Fisher junior gefragt, ob er mit dem gleichnamigen Schachgenie Robert R. Fisher verwandt ist. Und muss bis heute verneinen. Die Familie gilt als exzentrisch, obwohl die Mutter als Mathematikerin, der Vater als Reisekaufmann das Geld nach Hause bringen. Beide sind Baptisten, Mitglieder der Glaubensgemeinschaft, die auch Johnny Cash, Mahalia Jackson und Martin Luther King geprägt hat. Die Baptist Church und Charles Bukowski nennt Fisher in späteren Interviews als wichtige Einflüsse seiner Jugend.

Robert Fisher

Und es ist zuerst die Literatur, der er sich buchstäblich verschreibt. Mit zehn Jahren greift er selbst zu Block und Stift – und beginnt wenig später eine verhängnisvolle Karriere in Alkohol und Selbstzerstörung. Schreibt für Undergroundmedien und unterrichtet Literaturklassen. Ironischerweise ist es in den frühen achtziger Jahren Punkrock, nicht unbedingt als Schule für Gesundheitsfanatiker bekannt, der Fisher die Hände von der Flasche nehmen und zur Gitarre greifen lässt. Er stößt nicht völlig unvorbereitet und zufällig auf die Musik – sie ist es, die ihm einen Ausweg aus selbstgenügsamer Vereinzelung bietet: „Ich habe damals aufgehört, als Literat schreiben zu müssen. Weil es sich nur noch um eine exklusive Angelegenheit handelte, um Dichter, die für andere Dichter schrieben. Die wiederum das Publikum stellten. Sehr glücklich war ich nie damit. Musik machte da schon mehr Sinn und hat mich auch schon von klein auf sehr interessiert. Wenn du meine Eltern fragst, werden sie dir erzählen, wie ich als kleiner Junge vor dem großen Kurzwellenradio meines Vaters im Wohnzimmer stand und klassische Musik und Jazz „dirigiert„ habe. Es hat einfach mehr Sinn gemacht, Musik und Text miteinander zu verbinden und das isolierte Dasein als Dichter zu beenden.

Fisher verlässt das sonnige Kalifornien und zieht in den äußersten Norden der USA, nach Portland, Maine. Trifft Paul Austin, gleich ihm eine Seele mit Vorleben. Beide verehren Pere Ubu und die Buzzcocks. Unter dem Namen Laughing Academy beginnen sie, es ihren Vorbildern gleichzutun. Das heißt, sie sind so laut und aggressiv, wie sie sensibel sind. Letzteres nur nicht gegenüber ihrem Publikum. Als sie 1996 die Willard Grant Conspiracy gründen, hat sich der Focus beider allerdings merklich verlagert. Zum ersten Mal mit der Band konfrontiert, werden viele die Vergangenheit ihrer Gründer nicht glauben wollen. Und doch: „Was war Punk? Eine Antwort auf all die aufgeblasenen, pompösen Bands Mitte der Siebziger. Es war aber auch höchste Zeit, die Drachenfiguren und Kunstnebel von der Bühne zu holen. Genauso notwendig war es, nachdem auf- und abgeräumt war, sich nach Stilen umzuschauen, die dieselbe Energie und Direktheit boten. Blues und Country liegen da auf der Hand. Und selbst eine dermaßen artifizielle Musik wie Jazz bietet Ehrlichkeit und Eleganz, in der Summe Intensität.


Willard Grant Conspiracy Solo On Tour
08.10. Glasgow - Nice ‘n’ Sleazy
10.10. Manchester - Academy
12.10. London - Bush Hall
15.10. Enschede - Metropalooza Festival @ Metro
17.10. Karlsruhe - Jubez
18.10. Wetzlar - Franzis
19.10. Kiel - Weltruf
20.10. Hamburg - Hasenschaukel
21.10. Dortmund - Pauluskirche
22.10. Wien - Chelsea

An exakt den Crossroads von Punkethos und Traditionspflege sind in knapp zehn Jahren elf Alben entstanden. Die beiden ersten, 3am Sunday @ Fortune Otto's und Flying Low, schweigen sich beharrlich über etwaige Bandmitglieder aus. Willard Grant Conspiracy als Klammer muss reichen, für Egopflege ist keine Zeit. Im übrigen handelt es sich um alles andere als eine Verschwörung. Fisher erklärt seine, ihre Arbeitsweise: „Interessanterweise gibt es nur im Rock diese Vorstellung, eine Band habe eine feste Einheit von vier Leuten zu sein. Und nicht eine offene Struktur, ähnlich Jazz oder Blues. Bei uns kommen und gehen Leute die ganze Zeit, ohne dass natürlich alles erlaubt ist. Die Musik bleibt so frisch und aufregend. Neuen Musiker sage ich immer: Lerne nicht deinen Part, lerne den Song. Und bitte, versuche nicht, deinen Vorgänger zu imitieren. Reagiere persönlich auf den Song. Meine Rolle vergleiche ich mit der eines guten Regisseurs, der seinen Leuten vertraut und ihnen die größtmögliche Freiheit gibt, weil er weiß, dass er sie an den richtigen Platz gestellt hat.

Ein Prinzip, dass sich auch auf dem aktuellen Album des Kollektivs bewährt. Let It Roll ist es betitelt und dürfte einige, die Fisher und Kollegen zuletzt für ans Lagerfeuer verirrte Punks gehalten haben, deutlich verblüffen. Er lacht: „Das will ich auch stark hoffen. Nein, im Ernst. Wir tragen schon dieses Etikett mit uns herum, eine eher introvertierte, leise Band zu sein. Ganz verstanden habe ich das allerdings nie, weil es auf unseren Konzerten genauso oft recht heftig werden kann. Es ist einfach eine Frage des jeweils passenden Tons und Ausdrucks. Manchmal trage ich laute Dinge in meinem Kopf herum, manchmal eher leise. Diesmal wollten, mussten wir deutlicher werden.“ Die Platte beginnt mit dem Beweis, dass im Jahr 2006 wieder (oder immer noch) Protestsongs geschrieben werden können. From A Distant Shore erzählt, ohne geographisch konkret werden zu müssen, vom Soldaten, dessen letzter Wunsch nach drei Wochen Krieg der nach Vergebung ist. Die Karten dafür stehen schlecht. „Nothing For Nothing / Your God’s A Pretender / There’s No Room In Heaven / Now or Hereafter“ heißt es im Titelsong, einem über zehnminütigen Epos, das nicht von ungefähr auf einen von Fishers Helden verweist. Der Name Nick Cave könnte Vergeblichkeitsgefühle wecken, aber Fisher sieht den Vergleich als Kompliment: „Ich halte die Analogie für fair. Zumal Vergleiche eine nützliche Angelegenheit sind. Und dann ist es einfach so, dass wir alle The Birthday Party und die Bad Seeds wirklich lieben. Umso glücklicher war ich, als ich Anfang des Jahres das erste Mal Australien besuchen konnte. Mick Harvey solo erleben zu dürfen und Ed Kuepper zu treffen, das ist ganz klar fantastisch, wenn du seit 25 Jahren Fan der Triffids und Laughing Clowns bist.

Ein noch älterer Held, der in Kürze wieder von sich hören lassen wird, tritt kurz vor Schluss auf den Plan: Bob Dylan, dessen Ballad Of A Thin Man ursprünglich für das Londoner Magazin Uncut gecovert wurde. Seit Highway 61 Revisited vor mittlerweile über vierzig Jahren erschienen ist, rätseln Journalisten und Dylanologen über den Song und die Identität des Protagonisten. Ist es nun Brian Jones? Oder Jeffrey Jones, Village Voice - Reporter? Oder jemand ganz anderes? Fisher: „Die Frage kann nur Dylan selbst beantworten, wenn er es täte. Ich bin mir auch nicht unbedingt sicher, ob wir wirklich wissen müssen, wer da jetzt genau gemeint ist. Mr. Jones könnte jeder von uns sein. Außenseiter, die versuchen, irgendwo dazuzugehören. Teilhaben zu wollen, ohne es jemals zu können. Darum geht es meiner Meinung nach hauptsächlich. Der Song hat deutlich die Qualitäten eines Alptraums, und die wollten wir mit unserer Version noch betonen. Als Uncut uns gefragt hat, ob wir bei ihrem Highway 61 Revisited - Tribut dabei sein möchten, hatten wir übrigens zuerst daran gedacht, Dessolation Row aufzunehmen. Bloß, das ist noch rätselhafter, und über eine Kopie wären wir nicht hinausgekommen.


Diskografie
3am Sunday @ Fortune Otto's (1996)
Flying Low (1998)
Weevils In The Captain's Biscuit (1998)
Mojave (1999)
The Green, Green Grass Of Slovenia (2000)
Everything's Fine (2000)
Live 2001 - Amsterdam and Aberdeen (2001)
Regard The End (2003)
From A Distant Shore: Live In The Netherlands (2004)
There But for The Grace Of God (2004)
Let It Roll (2006)
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Der Albtraum der Isolation und das Glück, sich als Musiker in einer selbstgewählten Gemeinschaft wiederfinden zu können, sind die Eckpunkte in Fishers Leben. Wie auch im Gespräch. Nick Hasted hat im Independent dafür die schöne Formel gefunden, Willard Grant Conspiracy wollten den verlorenen gegangenen Kollektivgeist Amerikas wiederbeleben. Fisher stimmt dem gerne zu und ergänzt: „Konkurrenz zwischen Musikern, Künstlern generell, hat mich nie interessiert. Mir geht es um tägliche Arbeit, nicht um Wettbewerb. Musik ist eine gemeinschaftliche Erfahrung: Du hörst eine Platte, bist begeistert, rufst deine Freunde an und willst ihnen unbedingt davon erzählen. Auf Konzerten und Tourneen wird dieser Aspekt noch deutlicher. Unsere Arbeit hat mir die Möglichkeit gegeben, dutzende Länder in 26 Jahren zu bereisen. So sehr ich alle diese verschiedenen Kulturen, und mir ist wichtig, dass sie es sind und bleiben, genossen habe, sosehr habe ich mich über die Gemeinsamkeiten gefreut: Jeder möchte geliebt werden, möchte lieben, möchte wissen, dass es eine Zukunft für einen gibt, ganz schlicht ein Dach über dem Kopf haben. Das sind die Dinge, die wir alle teilen, die uns unabhängig von Politik, Klasse, Herkunft oder Ökonomie universell verbinden. Das sollte Musik reflektieren – im Sinne einer 'Rock’n`Roll Church'.„ Wer Schwierigkeiten mit dem Wort Kirche hat, darf sich die Willard Grant Conspiracy als Haus mit offenen Türen vorstellen. Das im Herbst wieder auf einen Besuch wartet. Robert Fisher, mit dem Wort Hippie hat er ausdrücklich kein Problem, wird den Oktober über Europa bereisen. Im Gepäck die Gitarre und ein Notizheft, das kaum ausreichen dürfte.