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Juli 2006
Christina Mohr
und Rober Mießner

für satt.org


Kieran Hebden And Steve Reid: The Exchange Session Vol. 1 & 2
Domino Records

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Four Tet: DJ-Kicks
!K7 2006

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Kieran Hebden And Steve Reid:
The Exchange Session Vol. 1 & 2

Four Tet: DJ-Kicks

»Joyful Noise«

Jazz und Elektronik verbindet eine komplizierte Beziehung. Als Miles Davis vor einem Monat seinen 80. Geburtstag hätte feiern können, hat Christian Broecking noch einmal die Lager der Befürworter und Verächter zu Wort kommen lassen: Elliot Sharp, New Yorker Avantgarde-Gitarrist, hält speziell Davis’ elektrische Phase für visionär und aufregend; Stanley Crouch, Publizist und Wynton-Marsalis-Mentor, spricht hingegen vom Verrat an den Popmarkt, betrieben mit und seit Bitches Brew (1970). Steve Reid, Schlagzeug und Perkussion, der gemeinsam mit Kieran Hebden an der Elektronik gleich zwei der aufregendsten Platten des letzten halben Jahres veröffentlicht hat, ist lange Jahre gegen den Gebrauch programmierter Beats und Drummachines im Jazz eingetreten. Der plötzliche Sinneswandel überrascht. Von ungefähr kommt er nicht.



Kieran Hebden
Kieran Hebden


Steve Reid
Steve Reid
Fotos: Jason Evans

Als ich anfing, Jazz zu spielen, haben die Leute zu der Musik getanzt. Erst später ist sie zu einer Kopfangelegenheit geworden“, erinnert sich Reid an die Zeit, als er unter John Coltranes fürsorglichen Augen mit dem Schlagzeugspielen beginnt. Und Trane schon mal Reids Miete bezahlt, wenn mal wieder nichts mehr geht. Es ist Glück im Unglück, was den Schüler aus der monetären Krise befreien wird. Als der Schlagzeuger von Martha & the Vandellas schwer erkrankt, übernimmt Reid kurzerhand dessen Job. Und gibt, gerade mal neunzehn Jahre alt, bei Dancing In The Street (1964) den Rhythmus vor. Studiojobs bei Motown und James Brown folgen. Der Junge aus der Bronx beginnt seine Karriere in stürmischen Zeiten. Er interessiert sich für die Black Panther-Bewegung, lebt in den späten sechziger Jahren in Nigeria, Liberia, der Elfenbeinküste und dem Kongo. Spielt mit Fela Kuti, später mit Sun Ra. In die USA zurückgekehrt, landet er im Gefängnis. Wie Muhammad Ali und unzählige Namenlose hatte er keinen Grund gesehen, das Abendland in Vietnam zu verteidigen. Reid bleibt kompromisslos. Rhythmatism (1975), Nova (1976) und Odyssey Of The Oblong Square (1977) nennt er die Platten, die er in Eigenregie aufnimmt. Die letzten beiden für Mustevic Records, von ihm in den siebziger Jahren gegründet und eines der vielen unabhängigen Jazzlabels, das sich auf Veröffentlichungen spiritueller und experimenteller Sounds spezialisiert.

Platten wie diese müssen es sein, die Kieran Hebden in Jahren unermüdlichen Sammelns zusammengetragen hat. Und unlängst in der Reihe DJ-Kicks eine atemberaubende Party hat feiern lassen. Ihr lest ganz richtig, eine DJ Kicks-Besprechung in einer Free Jazz-Rezension. Der gemeinsame Nenner der zwanzig Tracks ist mit Absicht keiner – von Prog Rock bis Techno ist alles vertreten, reine Club- oder Tanzmusik gibt es nur selten zu hören. Hier wird gefrickelt, gejazzt und getüftelt, aber immer wieder zielen die geclusterten und atomisierten Rhythmen direkt auf Hüften und Knie. Klassiker wie Curtis Mayfields If I Were Only A Child Again treffen auf minimale Elektroniksounds. Verfremdung heißt das Prinzip, und zum bloßen Staunen bleibt kaum Zeit – Model 500s Psychomatic geht in die Shona People of Rhodesia hinüber, mit deren Hilfe Hebden ganz ohne Weltmusikkitsch Afrika auf die Tanzfläche bringt. Für Cabaret Voltaire und Kneel to the Boss bleiben auf diesem Album ganze 35 Sekunden, aber es gibt noch viel mehr zu entdecken: Gong zum Beispiel oder Heiner Stadlers Out-Rock. Mit Autechres Flutter schließt die stilistische Achterbahnfahrt. Wer die ganze Zeit über tanzen konnte, ist ein wahrer Könner – so wie Hebden!

Ursprünglich eher in der elektronischen Musik zuhause, ist der jüngere der Geistesverwandten seit langem fasziniert von den Jazzduos der sechziger und siebziger Jahre: „Als ich John Coltrane mit Rashid Ali oder Evan Parker mit John Stevens gehört habe, hat es mich gepackt. Traditionelle Jazzinstrumente, die plötzlich klingen wie auf Autechre-Platten. Und als ich dann auf dem Oslo Jazz Festival einen ganzen Abend solcher Duokünstler erlebte, wollte ich ähnliches mit elektronischer Musik tun.“ Was folgt, liest sich wie ein Episode aus dem noch zu drehenden Film Von Musikfetischisten und anderen Menschen. Ein befreundeter Plattenhändler, bei Paris Jazz Corner für das Aufstöbern rarer und rarster Veröffentlichungen der Zunft zuständig, macht Hebden und Reid miteinander bekannt. Bevor sie sich in London treffen, erhält Reid noch ein Päckchen, randvoll gefüllt mit Four Tet-CDs, Hebdens Name für seine zahlreichen Grenzgänge zwischen Elektronik, Jazz, HipHop und Folk. Was Reid hört, begeistert den Elektroskeptiker, der auf der Gehaltsliste von Archie Shepp, Miles Davis und Chaka Khan stand, vollends. Dann geht alles spontan, wie es sich im Jazz gehört. Wenig später teilen sich zwei Generationen Experimentiergeist das Exchange-Studio in Camden, London. Der Ort, an dem Hebden auch sonst seine Platten einspielt: „Anfangs wollten wir unsere Session aufnehmen, und dann die besten Stücke für ein repräsentatives Album zusammenstellen. Als wir aber alles gehört hatten, konnten und wollten wir uns einfach von nichts trennen. Wenn du das erste Mal mit jemand arbeitest, tust du es mit einer Naivität, die später nie mehr gegeben sein wird. Die Coverfotos haben wir auch gleich noch am selben Tag geschossen, um die Platten so authentisch wie möglich zu halten.

Wir müssen uns bei beiden für die glücklicherweise fehlende Schere im Kopf bedanken. Die insgesamt sechs Stücke der Exchange Session, Manifeste wie Morning Prayer, Electricity And Drum Will Change Your Mind und We Dream Free sind unerhört. Unerhört gewagt, unerhört dynamisch, entfesselnd und entgrenzend. Für Hörer wie Musiker. Hebden: „Bis jetzt habe ich zumeist sehr kontrollierte Musik gespielt. Mit dem Computer als Taktgeber. Das ging diesmal nun nicht, da diesen Job bereits Steve versehen hat. Von daher war es für mich eine unglaubliche Befreiung. Reid: „Ich halte Kieran für einen fantastischen Musiker. Viele sehen in ihm einen dieser Elektroniktüftler, aber da ist viel, viel mehr in dem, was er spielt. Er hat es geschafft, elektronische Musik wie schwarze Musik klingen zu lassen – was ich bis jetzt noch bei keinem anderen so gehört habe.A Joyful Noise heißt die Dokumentation des amerikanischen Filmemachers Robert Mugge über Sun Ra und sein Arkestra. Sie könnte auch unbesehen den Titel für die Exchange Session abgeben. Free Jazz gilt allgemein als schwierig. Er kann es auch sein. Muss es aber nicht, wenn er in die Hände solcher Enthusiasten gelangt. Reid: „Uns ist es am wichtigsten, diese Musik wieder zurück zu den Hörern zu bringen.“ Zu einem Publikum, dass hinter den vertrackten Rhythmen und Klängen eine ganz einfache Wahrheit nicht zwanghaft suchen, sondern finden kann: „Musik ist Gefühl. Ein spiritueller Prozess, der das Unbewusste ins Bewusstsein bringt. Wir erschaffen weder die Musik, noch gehört sie uns Musikern. Sie gehört den Menschen.


Zum Weiterhören

John Coltrane, Interstellar Space (1967, veröffentlicht 1974): Duettalbum mit Rashid Ali; eingespielt kurz vor Coltranes frühem Tod im Juli 1967. Als Anti-Jazz hat Down Beat-Kritiker Tranes Musik einmal bezeichnet. Es ist, was es ist. In diesem Falle kosmisch und vulkanisch. Sun Ra dürfte beeindruckt gewesen sein.

Cecil Taylor & Max Roach, Historic Concerts (1979, veröffentlicht 1984): Taylor hat seit den späten Fünfzigern Free und Avantgarde Jazz mitgeprägt; Roach saß schon für Charlie Parker und Charles Mingus auf dem Hocker.Der perkussivste aller Jazzpianisten trifft auf den melodischsten aller Jazzschlagzeuger. Vier Duette, schlicht Part I bis IV betitelt. Das muss reichen – und spricht für sich selbst.

Jim Sauter, Don Dietrich, Thurston Moore, Barefoot In The Head (1988, veröffentlicht 1990): Entstanden aus einer Sangrialaune Thomas Pynchons und seiner Freunde. Independent Noise im Wettstreit mit Free Jazz. Die beiden Saxofonisten sind auch auf Sonic Youths Murray Street (2002) schwer zu überhören. In Pynchons Worten: „Two free men meet a slave. Everyone goes home barefoot. Right - fuckin’- on“.

Peter Kowald, Duos Europa - America - Japan (1991): Seit 1969 versorgt FMP von Berlin aus die Freunde Improvisierter Musik mit Aufregendem jenseits aller Konventionen. Peter Kowald (1944 - 2002) war der langjährige „Hausbassist“ des Labels. Und geschätzter Duettpartner Diamanda Galás’, Conrad Bauers, Peter Brötzmanns und Derek Baileys (1930 - 2006), um nur einige zu nennen. Anhören, nicht verzagen!

B-Shops For The Poor & Peter Brötzmann, Visions & Blueprints (1992): Der(Groß)vater des deutschen Free Jazz zusammen mit fünf jungen Londonern, die sich Jazz, englischer Rockavantgarde, Industrial und Elektronik gleichermaßen verschrieben haben. Die Retrofraktion kriegt das rote Tuch gezeigt.

The Ex + Tom Cora, And The Weathermen Shrug Their Shoulders (1993): Der Vorwurf, Avantgarde spiele sich nur noch im luftleeren Raum ab, geht hier weit am Ziel vorbei. The Ex, Anarchopunks im Geiste von Crass, und Tom Cora (1954 - 1998), New Yorker Cellist, beweisen, dass Musik politisch wie künstlerisch radikal und dabei über weite Strecken unangestrengt sein kann.