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Dezember 2005
Christina Mohr
für satt.org


Stars:
Set Yourself On Fire

City Slang 2005

Cover
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Broken Social Scene
City Slang 2005

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Stars: Set Yourself On Fire
und Broken Social Scene

Kanada wird langsam ein bißchen unheimlich: Eine interessante Band nach der anderen macht sich von Montreal oder Toronto aus auf den Weg, die Popwelt zu erobern. Meistens handelt es sich um vielköpfige Kollektive, das gängige Bandformat von drei, vier oder fünf Leuten reicht kanadischen Künstlern von vornherein nicht. Die Mitglieder pendeln von einer Formation zur anderen, um in immer wieder neuen Kombinationen in Erscheinung zu treten. Wie die hochgelobten und heißgeliebten Arcade Fire zum Beispiel, oder schon seit längerem in Berlin ansässige (Einzel-)Künstler wie Peaches und Gonzalez. Mischt die kanadische Regierung bewußtseinserweiternde und kreativitätsfördernde Substanzen ins Trinkwasser? Oder funktioniert dort die musikalische Früherziehung einfach nur besonders gut? Zwei dieser kanadischen Künstlerkollektive sind nun beim Berliner Label City Slang gelandet; da wären zunächst Broken Social Scene, deren Mitglieder selbstredend auch in verschiedenen anderen Bands wie zum Beispiel Metric spielen; außerdem gesellt sich für einige Songs Leslie Feist dazu, die im letzten Jahr mit ihrem Album Let it Die viele Fans gefunden hat.
Stars entspringen dem BSS-Nest und unterhalten ebenfalls mehrere Seiten- und Nebenprojekte, namentlich Memphis, deren erste Platte gerade veröffentlicht wurde.
In diesem Künstlerdschungel den Überblick zu behalten ist schwer, und hoffentlich sind bereits jetzt fleißige Chronisten dabei, ausführliche Stammbäume zu erstellen!

Broken Social Scene live:
3.12. München, Feierwerk
5.12. Berlin, Postbahnhof
10.12. Hamburg, Knust
11.12. Frankfurt, Mousonturm
13.12. Köln, Prime Club

Broken Social Scene und Stars haben gerade ihre jeweils dritten Alben herausgebracht – da ich deren jeweils erste und zweite Platten nicht kenne, konnte ich ganz unbelastet an die Musik herangehen: keine ablenkenden Vergleiche mit dem rohen Frühwerk und/oder der bekanntermaßen immer schwierigen zweiten Platte konnten mir Blick und Gehör vernebeln. Eins vorweg: Sowohl Set Yourself on Fire von den Stars (eigentlich nur Stars, ohne Artikel) und Broken Social Scene sind großartige Platten, die dem ausklingenden Jahr 2005 zu Glanz und Glorie verhelfen.

Bei Stars kann das Cover in die falsche Richtung führen: die junge Frau mit Skimaske und Flammenwerfer (beides in rosa), die im Begriff ist, gesundheitsschädliche Pyrospielereien an sich zu verüben, läßt auf eher martialische Klänge schließen, Musik mit Kreissägen oder sowas.
Aber weit gefehlt: Set Yourself on Fire orientiert sich am Pop der Schulen Prefab Sprout, Beautiful South, Super Furry Animals, der Smiths und New Order.
Viele Instrumente kommen zum Einatz, neben den „üblichen“ Popgeräten wie Baß, Gitarre und Schlagzeug lieben Stars Trompeten und Waldhörner, untermalt von jeder Menge Geigen und Pianoklängen. Sängerin Amy Millan und Sänger Torquil Campbell singen anrührende Duette, harmonisch, fröhlich oder wehmütig: gleich im Opener Your Ex-Lover is Dead geht es um eine verlorengegangene Liebe und verpaßte Chancen. „I'm not sorry I met you / I'm not sorry it's over/ I'm not sorry – there's nothing to save …“ singen die Beiden und das ist traurig und schön zugleich: Denn dieser Song bietet neben der textlich vermittelten Lakonie flirrenden, lebenatmenden Superpop, der das Herbstlaub vor den Füßen aufwirbelt.

In Songs wie Ageless Beauty und One More Night schwingen sich geigenunterfütterte Melodien zu hymnischen Höhen auf: What I'm trying to say ist ein Hit par excellence: Standardformulierungen aus dem Lexicon of Love wie „I need you, I need you, I need you“ oder „I lo-o-ove you“ werden hier zum Besten gegeben, heraus kommt ein Liebeslied der eher ungewöhnlichen Sorte, eingeleitet durch die Zeile „You look so good in the clothes of a poser". In The First Five Times wird die süß-zarte Rezeptur, die herzlosen Menschen „kitschig“ erscheinen mag, zum ersten Mal mit Störelementen versehen: fiependes Feedback und Verzerrereinsatz versetzen dem Zuckerguß Risse. Auch der darauffolgende Song, He Lied About Death fällt aus dem harmonischen Rahmen: Angedeuteter Drum’n’Bass-Rhythmus geht über in ein furioses Finale, sehr energetisch.
Celebration Guns verbreitet herbstliche Stimmung, und in Soft Revolution verrät die Band ihre Beweggründe fürs Musikmachen: „We are here to save your life“ singen sie und mit Calendar Girl, einer fragilen Ballade für Freunde des feenhaften Frauengesangs klingt Set Yourself on Fire melancholisch und winterlich aus.

Funktioniert auf Set Yourself on Fire jeder Song für sich allein, sollte man das Broken-Social-Scene-Album am besten in Gänze hören, die einzelnen Stücke nicht aus dem Gesamtkonzert separieren. Die Songs klingen beim ersten Hören überladen, entwirren und entfalten sich erst nach mehrmaligem Durchlauf. 170 Tonspuren wurden angeblich im ersten Stück Our Faces Split the Coast in Half übereinandergelagert. Feuerwerk, Füllhorn, Kaleidoskop, Labyrinth, Wasserfall, Explosion/Implosion, Rausch, Vulkanausbruch – solche Worte kommen einem beim freien Assoziieren über diese Platte in den Sinn. BSS verwenden Bläser, HipHop-Beats und softige Pop-Partikel, um dann vorgefaßte Meinungen und Hörgewohnheiten im Handstreich über den Haufen zu werfen. Der bereits erwähnte Opener und Stück Nummer zwei, Ibi Dreams of a Pavement steigern sich in arkadische Soundgewitter, und man hört deutlich, dass Bands wie Sebadoh, Dinosaur Jr, My Bloody Valentine, The Sea and Cake und Tortoise ihre guten Wünsche über der Wiege ausschütteten, in der die Bandgründung stattfand, aber Broken Social Scene gehen über die musikalischen Konzepte der genannten Bands hinaus. Der Song Major Label Debut baut sich aus folkigen Klängen auf, es klingelt, flötet und klirrt sanft, das darauffolgende Fire Eye'd Boy kommt rhythmusbetonter daher, akzentuiert durch eine New-Order-Gitarre. Windsurfing Nation spielt schon vom Titel auf Daydream Nation von Sonic Youth an – Broken Social Scene maßen sich zwar (noch) nicht den direkten Vergleich mit Sonic Youth an, suchen aber durchaus die künstlerische Nähe. Superconnected ist wild und hymnisch, gesanglich wird der Geist von Jeffrey Lee Pierce heraufbeschworen; der Song gipfelt opulent und überschwenglich in einen wahren musikalischen Rausch.

BSS hegen eine Vorliebe für obskure Songtitel, siehe Finish Your Collapse and Stay for Breakfast oder Handjobs for the Holidays, aber die Band verläßt sich nicht auf oberflächliche Kuriositäten. Die Musiker sind getriebene Kreative, schaffen es kaum, alle Ideen in einem Song unterzubringen. Das Album klingt deshalb sehr heterogen: zuweilen glaubt man, es liefe gerade ein Mixtape mit ganz unterschiedlichen Bands. Dieser Platte muss man Zeit gewähren; der spontane verwirrende Eindruck fügt sich nach etwa fünf bis sechs Durchgängen zu einem faszinierenden Gesamtbild, aus den Soundfragmenten schälen sich wahnwitzige Kompositionen heraus, und hier komme ich nochmal auf das Wort Kaleidoskop aus der freien Assoziation von weiter oben im Text.

Fazit: Set Yourself on Fire der Stars ist eine Platte, die man schnell liebhaben wird, Broken Social Scene brauchen etwas länger, wirken dafür aber nicht weniger intensiv auf den emotionalen Haushalt.