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Juli 2005
Katarina Mazurkiewicz
für satt.org


Foetus: Love
Birdman Re/ Rough Trade 2005

Foetus: Love
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Foetus: Love

"things aint all that they seem
my only safe haven
I visit worlds from the past and my failed ex-lovers
But I aint misbehaving.
In god we trust and acts of random lust and table dances
Where did I go wrong?
Why is Elton John eulogizing me in song?“
(Foetus: Aladdin reverse)

Langsam könnte man meinen, dass es für einen Musiker eine große Ehre sein müsste, NICHT als "Ausnahmenkünstler" bezeichnet zu werden, betrachtet man, wie inflationär das böse Wörtchen für so manche Bandinfo und Albumkritik benutzt wurde.

J.G. Thirlwell a.k.a. Foetus dürften solch lexikalische Armutszeugnisse wohl ziemlich egal sein. Seit fast einem Vierteljahrhundert bewegt er sich in seinem eigenen, kaum definierbaren Klanguniversum und zieht dort sein Ding durch, ohne sich um solche Lappalien überhaupt zu scheren.



Foetus (Photo by Sebastian Mlynarski)
Foetus
Photo by Sebastian Mlynarski


Gefragt nach ihren eigenen musikalischen Vorbildern, erwähnen Künstler wie Nine Inch Nails oder Marilyn Manson an erster Stelle den gebürtigen Australier und Wahl-New Yorker. Thirlwell ist außerdem ein begnadeter Remixer. Bands wie The Cult, Red Hot Chili Peppers, Pantera, Prong, Megadeth, Fight, The The und Front 242 vertrauten ihm bereits ihre Werke an und taten später Kund, dass sie von den Resultaten restlos begeistert sind. Also, warum verdammt noch mal kennt den Menschen hier zu Lande kaum jemand?! Zu düster, zu durchgedreht, vielleicht gar … zu genial für diese Welt? Wie auch immer, der kreative Output der Majestät der Klänge bleibt wohl für immer einer elitären Gruppe von Auserwählten vorbehalten.

Seit Neuestem gibt es allerdings für die Willigen einen triftigen Grund der Foetus Fanatiker Sekte beizutreten. Es ist rund, flach, glänzt in Silber und kommt in einer quadratischen, bunten Schachtel mit dem Aufschrift "Love" daher. Genauer gesagt sind es zwei Gründe, da dem neuesten Album des Altmeisters des Industrial eine Bonus-DVD mit unveröffentlichtem Material beiliegt.

Der auditive Höllentrip (den Albumtitel sollte man hier nicht allzu wörtlich nehmen) wird von Spinettklängen, die sich wie ein roter Faden durch das ganze Werk ziehen, begleitet. Der Opener "(not adam)" lässt bereits erahnen, welche Richtung J.G. Thirlwell diesmal eingeschlagen hat. Seine Musik ist noch orchestraler, bombastischer geworden. Was allerdings von den Klängen analog aufgenommen und was digital erzeugt wurde, verrät der Künstler nicht. Der Eingeweihte verspürt trotzdem, dass eine gewisse Art der Verschmelzung zwischen den verschiedenen Projekten des Meisters stattgefunden haben muss. Und tatsächlich, "Love" ist ein auditives Überraschungsei. Mit einem Album sind drei Wünsche jedes Thirlwell-Fans auf einmal in Erfüllung gegangen. Die Soundscapes, wie aus einem düsteren Filmsoundtrack – ein Markenzeichen J.G.’s Seitenprojekt namens Steroid Maximus und die seltsamen exotischen Klangteppiche, bekannt von den Werken seiner Manorexia sind in das Foetus Universum eingedrungen. Überhaupt ist das Cineastische auf der Scheibe sehr stark ausgeprägt. Der Kopf liefert bizarre Bilder zum Sound: ein Rummelplatz mit Karussells, die sich schnell drehen, alles scheint friedlich und vollkommen normal zu sein, aber der Zuschauer ahnt bereits, dass der Schein trügt. Gleich wird dort etwas ganz schreckliches passieren. So könnte man in etwa das auf Französisch gesungene, chansonähnliche "Mon Agonie Douce" beschreiben. Langsam wird man sich sicher: J.G. muss der längst verschollene, paranoide jüngere Brüder von Edith Piaf sein.

Doch auf "Love" jagt ein Highlight das nächste. "Aladdin reverse" zeigt deutlich, dass Thirwell nicht nur als Musikschreiber, sondern auch als Texter äußerst begnadet ist. Vor einigen Jahren gab der Künstler in einem Interview bereitwillig zu, sich von der New Yorker Rapszene inspirieren zu lassen, momentan tut er es jedoch nicht mehr, da es ihm irgendwann zu langweilig wurde. Die orchestralen Parts inmitten des Stücks erinnern stark an "Bad day in Greenpoint" von dem bereits erwähnten Nebenprojekt Steroid Maximus, die geloopten Gitarrenriffe bringen dagegen das Bild einer wilden Achterbahnfahrt vor des Hörers innerem Auge (ein anderes Bild das sich zum selben Zeitpunkt vor dem inneren Auge der Rezensentin breit macht, ist Trent Reznor persönlich, wie er sich in den Hintern beißt, weil er sie nicht zuerst erfunden hat). "Miracle" lässt die Beklommenheit der eben gehörten Stücke für einen kurzen Moment vergessen, sogar das omnipräsente Spinett klingt plötzlich gar nicht bedrohlich. Doch bereits das nächste Lied "Don’t want me anymore" bringt uns zurück auf den schonungslosen Höllentrip durch den Klangkosmos des Meisters. Und bitte: keine Angst davor – seine Version der Hölle ist einer der interessantesten Plätze im ganzem Universum! Übrigens, Begriffe wie "Hölle", "bedrohlich" oder "düster" lassen vielleicht ein gruftiges Dark Wave-Album vermuten. Nichts der gleichen … Lassen Sie sich durch diese Wortwahl nicht irreführen. Der Mensch mit der scheinbar multidimensionalen Musikwahrnehmung hat zwar auch in dieser Szene einige Anhänger, doch mit Gothic hat das Klangoutput von J.G. verdammt wenig zu tun.

Eine kurze Verschnaufpause wird uns Sterblichen nochmals gegönnt. "Blessed evening" ist eins der eingängigsten Tracks auf dem Album. Die Foetus-Einsteiger mögen sich bitte auf seiner Seite www.foetus.org das dazugehörige Video (unter der Regie von Karen O von den Yeah Yeah Yeahs gedreht) dringend ansehen.

Eine kleine Überraschung, auch für den hartnäckigsten Thirlwell-Fan, ist "Thrush" – ein Duett mit Jennifer Charles von Elysian Fields. In dem Song geht es endlich, wer hätte es gedacht, um Liebe, aber irgendwie ein wenig anders, als sich es der Ottonormalverbraucher vorstellen könnte und das ist wiederum gewiss keine Überraschung. Somit ergibt sich gerade eine gute Gelegenheit, um auf den Albumtitel zurückzukommen. Obwohl sie sich manchmal in musikalischer Hinsicht sehr stark voneinander unterscheiden, haben alle Longplayer, die J.G. Thirlwell als Foetus herausgebracht hat, etwas gemeinsam. Sie alle sind mit einem Wort mit vier Buchstaben benannt. So hieß z.B. sein letztes Studioalbum "Flow" und das dazugehörige Werk mit Remixen "Blow". Die Albumtitel betrachtet Thirwell als eine Art Karmaeingebung. Bei "Love" gab der Meister jedoch zu, dass er mit dem Wunsch nach Liebe vorsichtig sein müsste, da sie bekannterweise ein zweischneidiges Schwert sei.

Der Silberling endet mit dem grandiosen, fast neun Minuten langen "How to vibrate" und lässt den Hörer völlig ungeduldig auf das ebenfalls versprochene, dazugehörige Teil mit "Love"-Remixen warten.

Bombastisch, orchestral, klaustrophobisch, multidimensional, beklemmend, düster, durchgedreht, idiosynkratisch – einem halbwegs wortgewandten J.G. Thirlwell-Kritiker können, wenn es um die Beschreibung der Musik seiner Majestät geht, die Adjektive so schnell nicht ausgehen. Den Meister persönlich schert es wahrscheinlich herzlich wenig.

Die Rezensentin freut sich dagegen darauf ihre Uneasy Listening-Plattenbesprechung mit einem passenden Zitat von den berühmtesten Söhnen Liverpools abschließen zu können: "all you need is Love, Love is all you need …" meine Damen und Herren. Die Hölle wartet auf Sie.