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Oktober 2003
Timo Berger
für satt.org


Attaque 77:
Trapos

(Live CD)
Übersee (EFA) 2003

Attaque 77: Trapos

Erscheinungsdatum:
10. Oktober 2003
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Attaque 77:
Cana

Smd Wol (Sony) 2002

Attaque 77: Cana
   » amazon

   » attaque77.com


»Schließlich arbeiten wir hier«
Die argentinischen Stadionpunker
von Attaque 77 triumphieren
im Lindenpark, Potsdam
(3. Oktober 2003)



Freitagabend in Babelsberg. Nebelschwaden hängen tief in den Straßen, dann fängt es an zu regnen. Es ist kalt und feucht wie in Buenos Aires im Winter. Der argentinische Präsident Néstor Kirchner hat vor kurzem einen geplanten Berlinbesuch abgesagt. Sein Land steht bei deutschen Schuldnern so hoch in der Kreide, dass er befürchten musste, die Tango 01, das Präsidentenflugzeug, könnte gleich nach der Landung gepfändet werden. Die Band Attaque 77 hat keine Angst um ihr Equipment und den Tourbus, sie sind schon zum zweiten Mal hier. So lautetet ihre Botschaft auch nicht Schuldenstreichung, sondern ganz klassisch, 77er eben: »¡Punk es revolución!«. Attaque 77

Die vier Jungs aus Lanús, einer Millionenstadt im Speckgürtel von Buenos Aires, sind zurzeit auf Europatournee. Gestern Kiel, heute Potsdam, morgen Düsseldorf. Wie Rockbands vom Format von Bersuit Vergabat und Los Fabulosos Cadillacs füllen sie in ihrer Heimat Stadien. Doch während diese höchstens in Madrid auftreten, tingeln Attaque 77 durch kleine Clubs in der deutschen, italienischen und spanischen Provinz, spielen vor dreißig, fünfzig, mal zweihundert Leuten, auf Festivals. Und haben Erfolg: »Das Publikum hier mag uns«, erzählt der Sänger der Band, Ciro Pertusi, nach dem Konzert im Interview. Andere Hardcore Acts wie Fun Peöple hätten »Aufbauarbeit« geleistet, das europäische Publikum auf die ungewohnten, weil punkigen Klänge aus Südamerika eingestimmt. Während Fun Peöple aber in besetzten Häusern nächtigen, bestehen die Musiker von Attaque 77 doch auf ein bisschen Komfort. »Squats in allen Ehren, aber das wäre nicht unser Ding«, meint Ciro. »Ein Hotelzimmer muss sein, schließlich arbeiten wir hier.«

In Buenos Aires fährt Ciro nur noch Fahrrad. Im Bus, im Zug, überall stürzten sich kreischende Teenies auf ihn. In Europa spielen, das bedeutet von Null anfangen. »Jeden Applaus, den du hier bekommst, den hast du dir verdient.« Wie zu Anfang ihrer Karriere, 1988, als ihre erste Platte erschien. Der Ruhm ließ nicht lange auf sich warten: Schon die zweite Scheibe gewann drei Mal Platin. Ihre Musik ist eingängig und kraftvoll. »Punk Melódico« heißt das Genre, mit denen ihre Fans die Musik beschreiben. Attaque 77 bedienen sich bei den Ramones und The Clash, mischen den »Geist von 77« mit Pop, Reggae und Ska. Am Freitag gab es als Zugabe sogar »No me arrepiento de este amor«, einen Klassiker der viel zu früh gestorbenen Cumbia-Königin Gilda.

Puristen, die im Sound von Attaque Verrat am Punk heraushören, hält Ciro entgegen: »Wir haben unser eigenes Verständnis von Punkrock.« Punk wie in Europa ist in Südamerika nicht vorstellbar. Es gibt einfach nicht so viele Punker. Dennoch, auf die Frage, was für ihn dann ein argentinischer Punker ist, erklärt Ciro: »Der muss nicht rumlaufen wie ein Punker, die Leute, die von den Banken um ihr Geld betrogen wurden, die ihre Arbeit verloren haben, deren Rente gekürzt wird, und die protestieren, das sind alles Punker.«

Auch das Publikum im Lindenpark ist gemischt: Exil-Argentinier, Schülerinnen mit Piercing und Nietengürteln, Oi-Skins. Gustavo, 28, würde in Buenos Aires nie auf ein Konzert der Band gehen. »Ich komme aus Florida bei Buenos Aires, einem noblen Villenvorort wie Babelsberg« gesteht er und prostet mit einer Florida Boys Dose, einer kohlensäurefreien Brause aus dem S-Bahn-Getränkeautomat. Später als Attaque einige ihrer größten Hits spielen, singt Gustavo sogar ein wenig sehnsuchtsvoll mit. Dabei wollte er, als er in den Lindenpark kam, gleich wieder gehen: Die Vorband Volxsturm schmetterte das Lied »Skinheadgirl«, das Publikum johlte »Oi, oi, oi«. Doch ein Besucher mit Attaque-T-Shirt klärte ihn auf: die Skins kämen alle aus der Punkszene. »Red Skins?«, fragte Gustavo zur Sicherheit nach. »Sí, señor« beruhigte ihn der Fan.

Es ist schon nach Mitternacht, als Attaque endlich auf die Bühne kommen. Sie spielen ein schnelles, energetisches Set. Gerade Mal eineinviertel Stunden. Zwischen den kurzen Songs, eine Lektion argentinischer Flüche, artige Dankesworte auf Deutsch, Covers von den Ramones, Bob Marley und eine Hommenage an die Verschwundenen und den Subcomandante Marcos. Die Stimmung ist gut. Eine runde Sache. Hoffentlich verirren sich in Zukunft mehr südamerikanische Bands in den Lindenpark. Es wäre Potsdam zu wünschen.