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September 2003
Gerald Fiebig
für satt.org


dhy50
Compilation 12“LP
Dhyana Records 2003

dhy050

Mitwirkende Künstler in alphabetischer Reihenfolge:
Alexdee, Anemone Tube, Jean Bach, Bantu Mantra, Big City Orchestra, F. S. Blumm, Brandstifter, Cinise, Derek Deprator, Deison, Doghouse, Dronaement, Dystronic, Elektrischer Walfisch, Ersiees, El Retardo, Beta Evers, Die Frucht, Fuego, die grenzlandreiter, Hate To State, Ilse Lau, Intrauterin Alliance, Istari Lasterfahrer, Jesus Jackson, Kitty Empire, Kpt. Michigan, Minmae, Modulator, Guido Möbius, Morose, Sascha Müller, Nazis From Mars, Nhlsm, Onq, Panzerboy666, Para.Mecium, Pichismo, Thorsten Propeller, Rose For Bohdan, Rumpeln, Shitkicker, Die Stinos, Swagger, Tarkatak, Tesendalo, Troimucha Croupisuldos, Trouby, Troum, Unmono, Der Unsichtbare, Dr. Vril, Wardrobe Memories, Die Welttraumforscher, Wartoys, Westernhero, Yacøpsae, Harald Sack Ziegler & Deep

   » dhyanarecords.com


New Songs with different meanings: dhy050



They always ask for lots of songs
But no more than 2’50 long
So I write ‘em some
Nick Lowe, I Love My Label


Big City Orchestra
Big City Orchestra



Onq
Onq

Schallplatten erzählen keine Geschichten, sie enthalten Geschichte. Die auf ihnen gespeicherte Musik kann für so starke Identifizierungsmomente im Leben sorgen, dass nicht nur das Hören von Schallplatten (die immer noch gleich klingen, aber eine völlig andere Bedeutung haben können, wenn aus „unserem Lied“ plötzlich die Vergegenwärtigung eines schmerzlichen Mangels wird: „the same old song with a different meaning", wie die Four Tops das nannten), sondern sogar ihre reine materielle Anwesenheit auf das Leben des Schallplattenhörers zurückwirken (wie beim Protagonisten von Nick Hornbys Roman High Fidelity, dem das Sortieren der Plattensammlung zur Deutung der damit verbundenen vergangenen Erlebnisse dient). Das kann freilich auch für Musik auf CDs oder Kassetten gelten, doch gewinnt die Materialität der Schallplatte eine eigene Bedeutung, gerade weil die CD zum Standardformat geworden ist, das auch uralte Aufnahmen in remasterten Versionen in einer Art ewiger Gegenwart verfügbar zu machen scheint: Hip-Hop-DJs wie Rock Raider, minimalistische Produzenten wie Thomas/Esther Brinkmann und Installationskünstler wie Philip Jeck machen die Materialität der Schallplatten, die Rillen, die Kratzer, die Sprünge, das Rauschen zu eigenständigen Bedeutungskomponenten. Wenn sie Musik samplen, sind die Samples nie nur Zitate früherer musikalischer Werke, die in einem von Schöpfergeist und Copyright definierten Kosmos künstlerischer Ideen existieren – nein, durch das Rauschen, das sie eben nicht herausfiltern, sondern durch Sractches und gelooptes Rauschen absichtsvoll zu Gehör bringen, geben sie den Platten eine physische Präsenz, die die Musik in der Welt verortet: Diese Musik ist auf dieser Platte, und ich höre sie zu dieser Zeit an diesem Ort. Dass sich daran durch vielfaches Hören nichts ändert, macht genau die Aura aus, die die Schallplatte durch die Etablierung der CD gewonnen hat – und erst recht gegenüber den körperlosen Download-Dateien.
Das Rauschen der Schallplatte vergegenwärtigt uns auch, dass das musikalische Kunstwerk stets mehr ist (denn es ließe sich vielleicht noch besser spielen als auf dieser Aufnahme) und zugleich weniger (denn live gespielt ist es immer vergänglicher als in einer Aufnahme) als diese Aufnahme, womit die Aufnahme immer eine Entscheidung und einen Kompromiss darstellt – wie alles im Leben. Die CD erscheint demgegenüber vom banalen Glamour der Professionalität umgeben, der den verlogenen Anschein erweckt, Reibungslosigkeit sei das Normale.

Schallplatten erzählen keine Geschichten, sie enthalten Geschichte. Die schlicht mit der Katalognummer dhy050 betitelte Jubiläums-Compilation des Labels Dhyana Records enthält die Geschichte des Labels (und zugleich seine Zukunft?), indem sie 50 Stücke von 50 Künstlern präsentiert, die auf dem Label seit seiner Gründung 1996 veröffentlicht haben oder aber mit dem Label und seinen Künstlern in freundschaftlichem Kontakt stehen. Insofern die Platte keine Best-of-Blütenlese aus dem noch käuflich zu erwerbenden Backkatalog des Labels unternimmt (wie das bei einem kommerziell arbeitenden Label zu einem solchen Anlass normal wäre), verkörpert sie den konstruktiven Austausch, der in den besten Momenten jene nichtkommerzielle Indie-Szene prägt, in der Dhyana Records floriert – eine Szene, in der Autorenrechte und Copyrightkontrolle nicht zählen, weil man seine Platten ohne Profitmarge selbst macht und diese daher nie ganz in ihrem Warencharakter aufgehen, sondern immer auch das Moment einer Gabe bewahren (in dem Sinn, wie Jochen Bonz diesen Begriff von Lacan auf die Popkultur anwendet). Wenn man Jost Smiers folgen will, der in seinem Buch Arts Under Pressure den überzogenen Copyright-Schutz als lähmend für die Kunst kritisiert, erklärt u.a. diese Abwesenheit von GEMA-Verträgen und sonstigen Wertmechanismen die beispiellose Dichte an experimenteller Kreativität, die sich auf dieser Platte in unzähligen akustischen und elektronischen Spielarten von Country bis Musique concrète zeigt – und das alles gelingt in Stücken, die maximal zwei Minuten lang sind.
dhy050 feiert nämlich die eigene Geschichte, indem die eingangs beschriebene Materialität der Schallplatte gefeiert wird – durch eine Besonderheit, die auch auf einer CD simulierbar ist (die beigefügte Bonus-CD, die wegen der vielen hochkarätigen Einsendungen aus Platzgründen nötig wurde, beweist es), deren Idee aber untrennbar mit der technischen Beschaffenheit einer Schallplatte verbunden ist, weil auf einer Schallplatte jeder Stereokanal von einer eigenen Rille dargestellt wird: Auf dhy050 sind der linke und der rechte Stereokanal strikt getrennt, und mit dem Balanceregler kann man von einem Stück zu einem gleich langen, aber meist gänzlich anders klingenden hin- und herschwenken – „create your own bastard-pop-mix".

Dass die alphabetisch nach Künstlern sortierte Playlist auf dem Cover aus technischen Gründen völlig von der Reihenfolge der Platte abweicht, macht die Suche nach Titel und Interpret der gerade gehörten Musik zu einem labyrinthischen Spiel, das den Indie-Gedanken von Dhyana erfahrbar macht: Was zählt, ist die Musik, nicht das marketingtechnisch im Vorfeld platzierte Etikett des Künstlernamens, der einem schon vor dem Hören signalisiert: „Das hast du gut zu finden". Wo die Liebe des Hörers hinfällt, liegt ganz in der Beziehung zwischen ihm und der Musik. Um herauszufinden, woher die schöne Musik kommt, um die eigene Plattenhörerbiografie mit ihr zu identifizieren, bedarf es eines gewissen Maßes an Mitarbeit, an Liebesmüh – was dieser Vinyl-Gabe angemessen ist, deren Preis nicht die Kosten des Projekts für das Label deckt und die im wahrsten Sinne ein labour of love des Labelmachers darstellt. Eine Liebesmüh, die allerdings für keine der beteiligten Seiten vergeblich ist, sondern im Gegenteil immer wieder neue wunderbare Entdeckungen ermöglicht, nach denen man sagen kann: „I love my label".

dhy050 kann bestellt werden bei dhyana@dhyanarecords.com