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2. Juni 2020
Meinolf Reul
für satt.org

Haus, das ganz Tür ist
Monika Rincks neue Gedichte

Denn geht es nicht allein: um das Entkommen, mithilfe einer Mischung
aus Mischungen von Übermut und Vorsicht, mit hineingemischtem Licht?
Monika Rinck, „Das Prinzip der Operette“

 

„Übermut tut selten gut“, sagt das Sprichwort. Alle Türen, Monika Rincks jüngster Gedichtband (2018) – der erste seit Honigprotokolle (2012) – , ist so ein seltener Fall.
Hochgemut beginnt es („Die reine Affirmation“), fatal endet es: „Die Toten“.
Das weckt natürlich Zweifel, ob die Affirmation so rein ist wie behauptet.
Und auch die Toten haben sich vielleicht nur hingelegt. Das würde zur Operettenwelt passen, die den konzeptuellen Hintergrund des Bandes bildet. Doch nicht alle Gedichte tanzen in der Reihe.

  Monika Rinck: Alle Türen

Monika Rinck, Alle Türen. [75] Gedichte.
104 Seiten, Klappenbroschur. kookbooks, Berlin 2018
19,90 Euro (= Reihe Lyrik Band 63)



„Bei Alle Türen habe ich versucht, eine Operettenästhetik sprachlich zu verwirklichen, sowohl auf der formalen Ebene wie auch in der Überfülle – mit waghalsigen Wiederholungen arbeitend und auseinandergezogenen, musikalisierten Worten“, sagt Monika Rinck im Gespräch mit dem Kollektiv PRÄ|POSITION.

Operettenhaftes zeigt sich zum Beispiel in den ubiquitären Türen: Theatertüren, die sich mit „Kawatz“ öffnen, angelehnte, klappernde, verriegelte, versetzbare, überflüssig gemachte Türen – sogar über dem Kopf getragene Türen als Schattenspender in der Wüste. Vorzugsweise die nicht schließende, die nicht ausschließende Türe wird bedichtet.

Operettenstaat und -volk, Quadrillen, Couplets und Terzette, Federboas, Frisöre, Tenöre, Mannequins im Schulterstand: Bilder eines großen Spektakels, kulminierend im herrlich überdrehten Exposé einer Rinck-Operette, mit den Akteuren „Pionier“, „Parkdeck“ und „Gasthaus in der Auvergne“, die miteinander um die „Schöne“ rivalisieren. Ein „Tambourmajor“, „blutrünstige Kiffer in Rostkutschen“, ein „Ballett der Pilze“ – sie alle stürmen die budenzauberfunkelnde Bühne des Gedichts und werden auf fünf quirligen Seiten so hochgepitscht, dass einem bunt vor Augen wird.

Vielfältig die Themen, die unter dem Zeltdach dieser Komischen Oper zusammenlaufen.
Das lyrische Ich träumt von einer – vielleicht nur geträumten – Textstelle bei Elke Erb und hält Zwiesprache mit der Seele, ängstigt sich vor rasenden Autos und blickt auf die Arbeitsmigranten, die bei Unterbezahlung Flughäfen auf Hochglanz polieren und Sorge tragen für den von den Reisenden entsorgten Müll, lenkt überhaupt die Aufmerksamkeit auf das Aufeinanderprallen von Reichtum und Armut – speziell am Beispiel von Los Angeles, wo Alle Türen entstand – und lässt keinen Zweifel daran, dass die Verhältnisse anderswo kaum besser sind. Es fragt, ob Tiere Personen sind (ja, sind sie), leiht sein Ohr dem je eigenen Klang der Meere wie dem „hochkante[n] Streifen des getrockneten Laubs“ und spricht von den Verwüstungen der Erde, den heutigen und den kommenden, alarmiert, doch nüchtern im Ton.

NACH DER ZERSTÖRUNG

Nach der Zerstörung
werde ich mein halbzertrümmertes Parkdeck
einfach weiterbetreiben und mütterlich
das Wasser von der Plattform kehren.

Als ich das nächste Mal daran vorbeikomme,
bin ich schon nicht mehr da.

Das war nach der Zerstörung.

Im kapitel „konkrete poesie“ erscheint die groteske figur eines „marp“, ein sonderbares wesen, wohl um ein paar ecken mit den geschöpfen eines morgenstern, eines schwitters verwandt, und ganz bestimmt mit ringelnatzens. monika rinck gesellt dem marp eine frau hinzu, der einfachkeit halber „frau“ genannt, und schickt sie beide in abenteuer der sprache (und der sprachphilosophie), so witzig wie geistvoll.
Das „Konkrete“ der Überschrift könnte als eingedeutschtes concrete (Beton) gedeutet werden, denn immerzu wird hier etwas angemischt, hochgezogen und niedergerissen, nicht zuletzt „die aus meterhohem Gussbeton / im winterlichen Garten errichteten Worte.“
Sollten diese Gedichte vielleicht auf einen Kneipen-Spaß zurückgehen? Gedichte schreiben, in denen bestimmte Wörter vorkommen müssen, Styropor, Blitzzement, Speichel? Ein spielerisches Moment jedenfalls ist zu erkennen, und wie immer so ein Wettbewerb ausgegangen sein mag, die Dichterin nimmt die Hürden mit Bravour.

Die Gedichte in Alle Türen – zwischen Zweizeiler und Langgedicht – sind durchgehend reimlos und haben Strophenform, variabel gehandhabt: meist lockere Fügungen, freier als man es sonst bei Monika Rinck kennt, mit einzeln stehenden Versen, eingerückten Worten, Kursivierungen, Versalien (kaum), Leerzeilen, auch Trennungssternchen, Lücken, die vielleicht eine Stille anzeigen oder ein Stocken, einen Richtungswechsel. Daneben bildet die absatzlose Strecke über eine Dreiviertelseite eher die Ausnahme. Interpunktion unauffällig, nur hier und da aufgedreht mit drei, vier, fünf Ausrufungszeichen hintereinander oder mit drei Fragezeichen, die den Leser großäugig fragend anzuschauen scheinen, so wie die selbstlenkenden Autos in Luxusgegend „irgendwie rollig“ unterwegs sind.

Alle Türen ist eine Komödie mit tragischen Noten, vergleichbar einem großen Papierdrachen-Lach-Wein-Gesicht. Vor allem die lachende Seite wird uns zugeweht, doch die Traurigkeit scheint durch, und umgekehrt. Auf herzerfrischende, kunstvoll 'verhampelte' Weise hat Monika Rinck hier nichts weniger als ein Werk der Revolte geschaffen, ein Buch zur Stunde.

„Der ästhetische Widerstand gegen Zerstörung und Selbstzerstörung / sollte heiter sein.“