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8. November 2016
Meinolf Reul
für satt.org
  Antje Rávic Strubels Episodenroman »In den Wäldern des menschlichen Herzens«
Antje Rávic Strubel, In den Wäldern des menschlichen Herzens. Episodenroman. 272 Seiten, gebunden. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 19,99 Euro
» Verlag


Du musst dein Leben gendern.

Antje Rávic Strubels Episodenroman
In den Wäldern des menschlichen Herzens

Antje Rávic Strubel ist in den letzten Jahren u.a. als Übersetzerin Joan Didions und Lucia Berlins hervorgetreten, sie hat „Gebrauchsanweisungen“ für Schweden sowie für Potsdam und Brandenburg verfasst, denen in diesen Tagen eine fürs Skifahren folgen wird.
Im Frühjahr erschien ihr neuer Roman, In den Wäldern des menschlichen Herzens. Es ist, erstaunlich genug, ein Liebesroman. Aber die Rollen darin sind anders besetzt.
Erzählt wird von René, Emily, Leigh, Faye, Ute und einigen anderen, die alle Reise- und Abenteuerlust antreibt: Die dreizehn Romankapitel führen in Städte und Landschaften Schwedens, Finnlands, der USA und Deutschlands. „Der Anfang von etwas“, die erste Episode, ist ein schönes Beispiel literarischer Mimikry. Strubel lehnt sich bis in Einzelheiten an Hemingways Erzählung über das Zerbrechen einer Beziehung, „Das Ende von etwas“, an. Das Entlieben ist bei Strubel aber nicht die Hauptsache, sondern ein Symptom. Das eigentliche Problem bei Katja und René ist, dass sich bei Katja eine bestimmte „Körperlogik“ nicht mehr einstellen will. Unterhalb der Textoberfläche arbeitet ein neues Programm, dessen Code nicht mehr nur binär strukturiert ist. Das gibt die Zielrichtung des Romans vor, nämlich einen persönlichen Ort „jenseits der Kartographie“ von Männlichkeit und Weiblichkeit zu finden.
Zentrum dieser Arbeit an der „Koordinatenfreiheit“ ist der Körper als Fremd- und Eigenkonstrukt. Strubel führt seine Fragilität vor, so als wolle sie fragen: Und davon soll alles abhängen? Die Figuren zerfließen vor Hitze, erstarren vor Kälte, mal verschluckt sie die Schwärze der Nacht, mal der Wüstenboden. Oder sie werden per aufgeklebtem Bart oder Verhüllung verzweideutigt, oder einer Zergliederung und Neukonstruktion unterzogen, so wie in der mechanistischen Beschreibung eines Hochleistungssportlers.

Strubel verwendet innerhalb der großen Form des Romans die kleine Form der Paargeschichte (die Paarkonstellation wird nicht strikt gehandhabt) und kombiniert sie mit ebenso knappen wie eindrucksvollen Landschaftsbeschreibungen. Die Natur dient hierbei auch, eher beiläufig, als externalisierter Prospekt innerer Befindlichkeiten. Das Motiv der Grenze oder Kontur, mitsamt der Implikationen und Komplikationen von Respektierung, Überschreitung, Auflösung, Entgrenzung, Zusammenlegung, wird von Strubel variantenreich aufgegriffen und als Fragestellung an die Protagonisten zurückgespielt: „Wozu haben wir das Individuum erfunden, wenn wir seine Möglichkeiten vereiteln?“ Die fixe Idee, festlegen und einordnen (und einnorden) zu müssen, so legt Strubels Roman nahe, hat sich mittlerweile vielleicht erledigt und es ist Zeit für fluide Ideen. Allein, die Grenze – im Sinne auch einer Definition des Selbst und des anderen – wird zum Streitfall, wo Freiheitswunsch und Machtanspruch aufeinandertreffen. Die Freiheit des Einzelnen, theoretisch unbestritten, wird in praxi nicht unbedingt gutgeheißen, unter Umständen gar als Bedrohung wahrgenommen und bekämpft. Auch davon erzählt Strubel.

Nicht zuletzt erprobt der Roman eine Sprache des Begehrens jenseits des heterosexuellen Modells. (Queerer) Sex, Sinnlichkeit, erotische Spannung werden gefeiert und auch als heilsam erfahren. In „Hotel Advokat“ findet der Sex im Kopf statt, die Erzählung selbst blendet ihn aus. Eine soeben vergangene oder unterbrochene Liebesgeschichte wird halb überdeckt, eine neue erzählt, eine dritte vorbereitet. Diese Bewegung und Verwandlung des Liebens, der Genuss, die Herausforderung und der Verdruss daran, zieht sich durch den ganzen Roman. Sie selbst ist nicht episodisch, sondern fundamental und dauernd.

Mit In den Wäldern des menschlichen Herzens ist Antje Rávic Strubel ein sprachsinnlicher Roman gelungen, der als dezidiert literarischer genderpolitischer Debattenbeitrag gelesen werden kann.

Die Episoden: Der Anfang von etwas – Der weiße Felsen – Im Delta – Schnee auf den San Bernardinos – Sonnenbucht – Hotel Advokat – Nachtwache am See – Blühende Wüste – Ohne Mühe fallen – Letzte Gäste – Schwebende Bäume – Fiskbutik – Der Kirschbaum am Ende des Gartens