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17. März 2016
stefan heuer
für satt.org
  Marie T. Martin, Woher nehmen Sie die Frechheit, meine Handtasche zu öffnen? Kleine Prosa.
Marie T. Martin, Woher nehmen Sie die Frechheit, meine Handtasche zu öffnen? Kleine Prosa. Mit Bildern von Ulrike Steinke. 80 Seiten, Hardcover, Farbdruck. poetenladen Verlag, Leipzig 2015. 18,80 Euro
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Kleine Prosa ganz groß
Marie T. Martins Einblicke in eine durchwühlte Handtasche

Ich gestehe: Nur selten lese ich ein Buch zusammenhängend von vorne nach hinten, beginne nur selten mit der ersten Seite und ende mit der letzten. Bei Romanen, okay, aber bei Kurzprosa, Sachbüchern oder Gedichten eigentlich nie. Ich gehöre zur Spezies der neugierigen Blätterer und Befummler, lese zunächst die biografischen Angaben, dann die weiteren Buchempfehlungen, die sich am Ende der meisten Bücher finden, flaniere durch Kapiteleinteilungen und vorhandene Illustrationen, wende mich den Widmungen und Danksagungen zu und widme mich dann erst dem eigentlichen Lesen. Ich schlage das Buch an einer beliebigen Stelle auf und schaue, ob der dort befindliche Text mich mitnimmt – ein auf Zufälligkeit und/oder Intuition beruhendes System.

Bei Woher nehmen Sie die Frechheit, meine Handtasche zu öffnen? von Marie T. Martin, einer im März 2015 im Verlag des poetenladens erschienenen Sammlung „kleiner Prosa“ (ein Buch, das dringend noch vorgestellt werden muss, bevor in Kürze die Neuerscheinungen 2016 auf den Markt drängen), war dies nicht anders. Nachdem ich das Drumherum studiert hatte, schlug ich das Buch an irgendeiner Stelle auf und las:

Nur schneiden bitte, sagte ich, einfach die Spitzen schneiden, aber der Friseur hatte ein paar neue Farben bekommen, die er unbedingt ausprobieren musste. Er hatte gehört, dass ich neuerdings mit dem Busfahrer ausging, und dachte, eine neue Farbe könne die Abende ganz anders erhellen. Nein, wollte ich widersprechen, das ist nicht nötig. Er war schon dabei, die Farbe mit einem dicken Pinsel aufzutragen. Aber ach! Wegen unvorhersehbarer chemischer Reaktionen wurden die Haare orange. Der Friseur war untröstlich. Er tat, als raufe er sich die Haare, dabei hatte er kaum noch welche, er rief ein paar Götter an und machte eine neue Kanne Kaffee. Er lud mich zu einer großen Familienfeier ein und bot an, den nächsten Haarschnitt umsonst zu machen. Man hat ihn nach einer solchen Fehlleistung schon weinen sehen.

Mit diesem seltsamen Friseur hatte sie mich: Nur Sekunden später war ich wieder Zivildienstleistender, ließ mir aus einer Laune heraus eine Kupferfärbung in die damals noch schulterlangen Haare massieren. Auch meine Haare wurden (zur Freude aller Beteiligten) orange – nur dass es bei mir nicht an unvorhersehbaren chemischen Reaktionen gelegen hatte, sondern daran, dass wir nach dem Auftragen erst stundenlang Karten und anschließend zu nachtschlafender Zeit Rugby auf dem Flur des Wohnheims gespielt und die Farbe in meinen Haaren schlichtweg vergessen hatten …

Aber nicht nur der Friseur, auch das restliche Personal in Marie T. Martins Miniaturen ist „ein wenig anders“: blasse, „wie frisch geschlüpft“ wirkende Männer, die mit sich selbst zusammenfaltenden Fallschirmen im Garten landen; Schaufensterfiguren, die sich als lebendige Frauen entpuppen; Onkel Holger, der des Nachts durch die Dachluke klettert, um die Sternbilder zurechtzurücken; eine ältere Frau, die mitsamt ihrem Sitz durch den Boden einer Straßenbahn bricht und weiter bis in das glühende Innere der Erde; ein Junge, der einen Ball gegen eine Hauswand wirft und damit (analog zum flügelschlagenden Schmetterling) Weitreichendes auslöst; ein Beifahrer, der sich während der Fahrt derart ausdehnt, dass das gesamte Auto auseinanderfliegt; ein im Ofen nächtigender Bäckerei-Azubi ... Ich könnte noch lange weitermachen, beende diese Aufzählung aber mit dem Kontrolleur der Zeiten:

Der Kontrolleur der Zeiten hat ein weißes Rad. Es gibt acht Zeitabschnitte auf seinem Rad, eine Nadel zeigt drauf: die Zeit der hellgrünen Knospen und die der leichten Hände, die der blühenden Wiesen und des starken Rückens, die der glühenden Farben und die des Abschieds, die der weißen Hügel und die des Übergangs. Manchmal lässt er die Nadel zu lange auf einem Abschnitt stehen, dann möchte man sich ständig verabschieden und weiß nicht, warum.

Mehr als seltsame Personen also, allesamt, die hier aufgeboten werden. Gegenstände mit magisch anmutenden Eigenschaften und metamorphosierende Lebensmittel kommen noch hinzu.

Ohne mit Marie T. Martin näher bekannt zu sein (die ich bislang hauptsächlich als Lyrikerin wahrgenommen habe: an vielerlei Stellen las ich ihre Gedichte und unser einziges reales Treffen fand beim Lyrikpreis in Meran statt), wage ich zu behaupten, dass es sich bei Woher nehmen Sie die Frechheit, meine Handtasche zu öffnen? um ein sehr persönliches Buch handelt, auch wenn Vieles durch Fragmentierung entzeitigt und verfremdet wurde und ins Surreale spielt. – Bereits das erste Kapitel, „Kennen wir uns?“, dient als autobiografische Standortbestimmung. Ob als Schleckermaul in der Bäckerei, als Kleinkind auf dem Arm der Mutter oder die in der Handtasche wühlende Frau aus der Titelgeschichte, die den Verlust ihres Personalausweises als Chance begreift, frei von Formalien sie selbst zu sein: an vielen Stellen schimmert über kurz (nicht lang!) persönliches Erinnern durch die Zeilen; später, bei familiären Passagen, in denen eine Mutter und vor allem eine Großmutter auftaucht, noch deutlicher.

Ausstattung und Aufmachung sind – wie immer beim poetenladen Verlag – erstklassig. Ulrike Steinke liefert Bilder, welche die Texte in ihrer Nähe spiegeln und begleiten, kinderbuchartig und, nicht trotz, sondern wegen ihrer farbigen Flächigkeit, ganz wunderbar. Mein Lieblingsmotiv: Ein Mann mit langen grauen Haaren, der einem auf einem gemütlich aussehenden Sofa liegenden Goldfisch (den ich vor dem Lesen der dazugehörigen Geschichte für eine orange Robbe gehalten hatte ...) aus der Bibel vorliest. Große Klasse!

Woher nehmen Sie die Frechheit, meine Handtasche zu öffnen? überzeugt mit seiner gut ausbalancierten Melange aus frischen Bildern, Schalkhaftigkeit, Ernst und Melancholie. Ein tolles Buch, dessen Texte lange nachwirken.