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28. Juni 2014
Anja Kümmel
für satt.org
  Nancy Hünger, Wir sind golden, wir sind aus Blut
Nancy Hünger, Wir sind golden, wir sind aus Blut.
Ein Familienalbum. 80 Seiten, gebunden.
Mit 12 Fotografien von Andreas Berner.
Edition Azur, Dresden 2014. 19,00 Euro
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Traumataerzählung.
Wir sind golden,
wir sind aus Blut

von Nancy Hünger

„Es ist nirgendwo so schön wie daheim“, muss Dorothy in „Der Zauberer von Oz“ denken und dabei die Hacken ihrer magischen Halbschuhe dreimal zusammenschlagen, um zurück nach Kansas zu gelangen.

Nicht zufällig zieht sich das sprachliche Motiv des Hacken-Zusammenschlagens wie ein Refrain durch Nancy Hüngers neues Werk Wir sind golden, wir sind aus Blut. Jedoch wird schnell klar, dass bei Hünger die Rückkehr nach Hause keineswegs Sicherheit oder Geborgenheit bedeutet, sondern vielmehr ein Hineinfallen in dunkle Unterhöhlungen und schwelende Wunden.
„Ein Familienalbum“, so lautet der Untertitel des schmalen, aber hochintensiven Bandes, der im Frühjahr 2014 bei Edition AZUR erschien. Schaut man sich deren eher lyriklastiges Programm an, liegt die Frage nahe: Ist das nun Kurzprosa? Oder ein Langgedicht mit 26 Strophen? Die kurzen, poetisch rhythmisierten Textsplitter, durchsetzt mit 12 Fotos, entziehen sich einer eindeutigen Kategorisierung.

„Wir sind über 30 und stehen in unseren Kinderschühchen, stehen im Sonntagsstaat rauchend auf dem Schindanger, der eigentlich ein Garten ist“, fasst die Autorin die ganz und gar unidyllischen Familientreffen zusammen, die die Erinnerungsspirale ihres Erzähl-Ich in Gang setzen.
Sinnliche Eindrücke regen das Gedächtnis an: Das Zirpen der Grillen, der Gestank einer verwesenden Amsel hinter dem Ehebett der Eltern, und natürlich immer wieder jene Farbe, die sich im Titel wiederfindet – das Gold der Felder, das goldene Schimmern im russischen Birnenschnaps. Neben der Ich-Erzählerin gibt es einen Bruder und zwei Cousins, deren Identitäten fließend und durchlässig erscheinen. Die Erzählstimme ist also eigentlich kein „Ich“, sondern häufiger noch ein „Wir“. Ist es der Bruder oder der Cousin, der „im Stubenkrieg fiel“? – „Wer weiß schon, wo hier der Anfang ist. Wie viele hier überhaupt zugegen usw. über die kleine Bühne schwanken“. Wichtig ist einzig das Nicht-Alleinsein, die mindestens Dreisam-, besser noch Viersamkeit, um den „Schmerzproviant“ zu teilen und so erträglich zu machen.

Eine chronologisch geordnete Geschichte des Kindheitsleidens dieses „Wir“ bietet Hünger nicht. Genau wie die Fotos, die sie zusammen mit dem Grafiker Andreas Berner in einem Abrisshaus fand und für das Buchprojekt aufarbeitete, weist die Erzählung Lücken, Überlagerungen und blinde Flecken auf. Anstatt jedoch diese Beschädigungen zu retouchieren, bleiben sie bestehen, werden gar zum Gravitationszentrum, das Hünger virtuos mit Sprache umkreist.

Wiederkehrende Themen – so viel erfährt man – sind Alkoholismus und Arbeitslosigkeit, hilfslose Mütter und überforderte Väter, die sich abwechselnd autoritär oder suizidal gebärden. All das umrahmt vom Getuschel des Dorfes, bis hin zur Ächtung: „asoziales Pack“. Immer wieder tauchen mit Sprachlosigkeit gedeckelte Geheimnisse auf – wie etwa das fremde Mädchen, das eines Tages vor der Tür steht und den Vater sehen will, jedoch sofort von der Großmutter wieder hinausgeworfen wird. Regelmäßig erfolgt die Anweisung an das „Wir“, ihre Koffer zu packen, die Habseligkeiten aufzuzählen, zu entscheiden, was lebensnotwendig ist. So entsteht das Gefühl einer permanenten Fluchtbewegung, eines Auf-dem-Sprung-Seins, das sich bis hinein in den Schlaf und die Träume zieht.

Diese existenziellen Erschütterungen versucht Hünger mit sprachlichen Motiven greifbar zu machen, die sich wie in einer musikalischen Komposition in Variationen wiederholen. Wie etwa das Sonntagskleid, das mal „aus weißer Angst fest vernäht ist“, dann wieder mit roten Tupfen übersät, die eine geheime Sprache sprechen. Oder die verfremdeten Anspielungen an Volkslieder, Märchen und Kinderspiele: „Der Rest ist schwarzbraun wie die Haselnuss, der Rest ist ein hölzernes Dunkel, das sich dichter und dichter um uns schnürt“.

Dass es zu Hause eben nicht am schönsten ist, belegen die verhassten Jubiläen, Hochzeiten und Geburtstage, bei denen selbst diejenigen, deren Sonntagsstaat nun aus zerrissenen Jeans besteht, sofort wieder in die repressiven Strukturen der Kindheit zurückfallen. An der Rollenverteilung hat sich nichts geändert – das „Wir“ sitzt am Katzentisch; neben ihnen wird ungeniert über sie hergezogen wie über nicht anwesende Dritte.

„Wir sind über 30, machen mit unseren Hacken klick-klack und kommen nirgendwohin“, könnte als resigniertes Resümee verstanden werden. Oder eben auch als Aufforderung, mittels Sprache zum Schmerzkern vorzustoßen und diesem durch Benennung den Schrecken zu nehmen. Nancy Hünger (Jahrgang 1981) nähert sich in Wir sind golden, wir sind aus Blut – ebenso wie auch schon ihrem Vorgängerwerk Halt dich fern – der poetischen Erinnerungsarbeit auf feinfühlige und neuartige Weise. Bleibt zu hoffen, dass ihr in den nächsten Jahren im deutschsprachigen Literaturbetrieb die Aufmerksamkeit zuteil werden wird, die sie verdient.