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8. Oktober 2013
Robert Mattheis
für satt.org
  William Boyd, Eine große Zeit
William Boyd, Eine große Zeit. Roman. Aus dem Englischen (Schottland) von Patricia Klobusiczky. 448 Seiten, broschiert. Berlin Verlag, Berlin 2013. 9,99 Euro
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Die Welt muss oulipoetisiert werden. Über William Boyds Roman Eine große Zeit (co-starring Harry Mathews)

Harry Mathews ist ein bedeutender, wenn auch weitgehend übersehener Autor. Anhänger des Oulipo (das Akronym steht für Ouvroir de littérature potentielle, Arbeitskreis für potentielle Literatur, eine 1960 ins Leben gerufene Vereinigung von Schriftstellern und Mathematikern, der neben anderen Raymond Queneau und Italo Calvino, in späteren Jahren auch Oskar Pastior angehörten) vertritt er einen spielerischen Literaturbegriff, wie ich vorsichtig formulieren würde – vorsichtig, weil diese spielerische Herangehensweise vermutlich sehr viel mehr Realität einfängt als jeder Hardcore-Realismus oder -Verismus es vermöchte. (Mathews war mit Niki de Saint-Phalle verheiratet, was ja auch etwas über seine stilistischen Vorlieben verrät.) Ein bisschen erinnert sein Schreiben, jedenfalls soweit es seinen Roman Tlooth betrifft, an Jorge Luis Borges. Dass er so offenkundig Humor hat, dürfte seiner Rezeption in Deutschland nicht dienlich gewesen sein.

Zu seinen Freunden und Weggefährten gehören Großkaliber wie Georges Perec, John Ashbery und James Schuyler, und dass Raymond Roussel einer seiner wichtigsten Einflüsse war, hat Harry Mathews für alle Zeiten dagegen gefeit, in die Bestsellerlisten katapultiert zu werden. Mit seinem Spätwerk My Life in CIA, in dem Mathews fingierte, er sei CIA-Mitarbeiter gewesen, löste er dann in klassisch avantgardistischer Manier noch die Grenzen zwischen Literatur und Leben auf, denn diese gefaketen Memoiren hatten für ihn offenbar Konsequenzen im realen Leben, von denen ich leider nichts Genaueres weiß; wen’s interessiert: das Internet, diese von Insomnia befallene Plaudertasche, spuckt bekanntlich alles aus.

Tlooth ist dereinst sogar ins Deutsche übersetzt worden, als Zlahn war es im März Verlag lieferbar, aber heute ist es natürlich längst vergriffen. Fast alle deutschen Bücher von Harry Mathews sind inzwischen vergriffen, sogar die Zigaretten im Suhrkamp Verlag. Dank des Verlags Dalkey Archive besteht jedoch wenigstens die Möglichkeit, Tlooth in der Originalfassung zu lesen (was man ohnehin immer tun sollte, schon klar). Ich hab’s getan. Und ich kann sagen: Es ist wirklich eine merkwürdige Lektüre!

1

Aber davon soll heute nicht die Rede sein. Heute soll die Rede sein von einem Roman von William Boyd, seinem neuen Roman, genauer gesagt: Eine große Zeit, was eine sehr freie Übersetzung ist von Waiting for Sunrise. Als ich den Roman (kürzlich ist er als Taschenbuch erschienen) in einer Buchhandlung in Prerow erwarb, beglückwünschte die Buchhändlerin mich zu diesem spannenden Spionagethriller, und etwas irritiert nahm ich zur Kenntnis, dass der Klappentext William Boyd zum legitimen Nachfolger von John le Carré erklärte.

Moment mal, dachte ich. Es ist nämlich so, dass ich auf William Boyd zum ersten Mal Anfang der Neunziger stieß, also im letzten Jahrhundert, damals als Verfasser eines rororo-Taschenbuchs mit dem Titel Die neuen Bekenntnisse – ein Buch, das ich geliebt habe, das ich mehrfach las, das ich bis heute in Ehren halte, ein stilistisches Meisterwerk, glänzend übersetzt von Friedrich Griese. „Ein Citizen Kane’ in Romanform“, wie der Daily Telegraph ganz richtig urteilte.

Ich bin Boyd seitdem immer aus dem Weg gegangen, vielleicht getrieben von der Angst oder der Ahnung, dass seine weiteren Werke dieser ersten Begegnung nicht würden gewachsen sein, dass meine schönen Erinnerungen dem Abgleich mit der neueren Realität nicht standhalten könnten ... aber vor der Entscheidung stehend, am Darßer Strand entweder Jeffrey Eugenides zu lesen oder Timur Vermes, entschied ich mich für William Boyd.

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Die Irritation über die klappentextliche Genre-Zuordnung von Boyds neuem Roman, kann ich nach kurzer Analyse sagen, rührt daher, dass wir in Deutschland den literarisch anspruchsvollen, den nicht nur intelligent und spannungsvoll konstruierten, sondern auch den Erfordernissen eines Kunstwerks genügenden Roman eigentlich nicht kennen. Bei uns ist man als Autor entweder Handwerker, und dann legt man auch auf die Insignien des Berufs Wert, pflegt also eine gewisse Ungepflegtheit, eine eckige Bauernschläue, deren natürlicher Feind die Eleganz ist, oder man ist Künstler, und das heißt dann: Romantiker. Ein solcher gibt sich dem Roman ganz hin, verzichtet also auf Dinge wie Plot und elaborierte, ambitionierte Personenfindung zugunsten einer gewissen ganzweltlichen Dunkelheit des Stils.

Gibt es bei uns einen John le Carré? Ich weiß es nicht, mir ist keiner bekannt. Die Mischung aus weltkluger Raffinesse und Lust am Erzählen ist offenbar nicht sehr deutsch. Denken oder Schwärmen – wir bringen das hierzulande nicht zusammen. (Wir können allenfalls an Der Schwarm denken.)

Liegt es daran, dass im Deutschen der Graben zwischen dem normalen und dem hohen Sprachgebrauch zu tief ist? Oder ist der Grund wirklich in unserer zutiefst provinzlerischen Realitätsfeindschaft zu suchen, die wir selbst als „Romantik“ verklären? Fehlt uns eine mondäne, nicht sofort ins kommerziell Vulgäre abgleitende Cleverness?

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Nun, ich darf sagen, dass ich mit Eine große Zeit eine große Zeit hatte. Obwohl sonst eher ein vorsichtiger Leser, schlang ich das Buch nur so in mich hinein, zumeist auf einer bequemen Couch gelagert. Und obwohl Charme, gute Schreibe und kunstvolle Handlungsführung dafür sorgten, dass ich den Durchgang durch die knapp 450 Seiten reibungslos bewältigte, blieb doch ein Zweifel – ein Nabokov’scher Zweifel, wenn ich so sagen darf. Der russisch-amerikanische Großromancier ist ja dafür bekannt, dass er seine Romane, vertrackte fiese kleine Trickkisten, so gebaut hat, dass dem nicht 100-prozentig aufmerksamen Leser das Wesentliche entgeht. (Damit diesem das überhaupt bewusst wird, hat Nabokov auch gleich Nachworte von Dieter E. Zimmer eingebaut.) Und ich hatte, als ich die Lektüre von Eine große Zeit beendete, das Gefühl, auch dem Geheimnis dieses Buches nicht wirklich auf den Grund gekommen zu sein. Ich hätte mich jedenfalls über ein paar Hinweise von Dieter E. Zimmer gefreut.

Der Roman fängt mit einem „du“ an, und in der Zweite-Person-Singular-Ansprache wird er auch beschlossen. Du beobachtest auf den ersten Seiten zufällig, wie der Held der Geschehnisse, Lysander Rief, in Wien einen Park verlässt. Du folgst dem jungen Mann, neugierig geworden wegen dessen Hutlosigkeit, lässt jedoch sofort von ihm ab, als er sich durch einen Zeitschriftenkauf als Brite zu erkennen gibt. – Möglicherweise ist das britischer Humor, möglicherweise Symbolismus, der Kritiker ärgern soll. Von nun an aber klebt die Kamera bis zum Ende an Lysander Rief, filmt in sauberer Er-Perspektive, die von scheinbar nahtlos sich einfügenden subjektiven Ich-Aufzeichnungen interpunktiert wird, über seine Schulter.

Lysander Rief ist Schauspieler, Sohn eines berühmten, inzwischen aber gestorbenen Mimen namens Halifax Rief (höre nur ich da die „hell“ heraus?).

Zum Schluss wird das Du wieder in den Zeugenstand gerufen, es soll einen älteren, jetzt fremd gewordenen Lysander Rief observieren, einen anonymen Schauspieler, der sich beeilt, nach dem Ende seiner Vorstellung nach Hause zu kommen. Diese Eile hat ihn der Erste Weltkrieg, hat ihn eine Agentengeschichte, hat ihn dieses Buch gelehrt!

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Boyds Eine große Zeit spielt am Vorabend des Ersten Weltkriegs, also ist der Titel wohl streng ironisch zu lesen. Das Buch ist ein verschachteltes Spiel um Verrat von Geheimnissen und Menschen.

Der Plot, in reißerischer Darbietung: Lysander Rief lässt sich auf eine Affäre mit der Muse eines bekannten Wiener Malers ein. Diese erhebt die falsche und verleumderische Beschuldigung, er habe sie vergewaltigt, um ihrem jähzornigen Lebensgefährten ihre Schwangerschaft zu erklären.

Skandal!

Der junge Schauspieler wird in der britischen Botschaft interniert, man ermöglicht ihm die Flucht, aber nur, um ihn später für zwei heikle Spionagemissionen zu verpflichten. Er soll Doppelagenten enttarnen und muss dabei feststellen, dass seine Mutter in das schmutzige Spiel verwickelt ist ...

Der Kerngedanke (und Stein des Anstoßes der Handlung) ist der so genannte „Parallelismus“. Entwickelt wurde dieser von einem Kollegen von Dr. Freud, einem gewissen, fiktiven und fiktionalen, Psychoanalytiker namens Dr. Bensimon. Beim Parallelismus handelt es sich um ein im Prinzip ganz einfaches Verfahren, heute würde man vermutlich von NLP, Neurolinguistischem Programmieren, sprechen: Denke dir die Vergangenheit schön! Mit entsprechender Arbeit an den Gedächtnis-Engrammen können auch traumatische Erlebnisse in reine Idyllen umgemünzt werden.

Strukturell betrachtet, ist der ganze Roman in gewissem Sinne eine Analyse. Das beginnt schon mit dem Namen des Protagonisten: Lysander Rief (dessen Mutter tatsächlich Anna heißt, wie in Annalysander – oh, Mr Boyd hat Humor, ja, ja) kommt zu Dr. Bensimon mit einem Problem, das ihn heute zum Pornodarsteller in einem schicken skandinavischen Roman prädestinieren würde: Er kann nicht kommen. Das ist insofern problematisch, als der junge Schauspieler mit einer Kollegin verlobt ist, der Dame seines Herzens aber diesen Tort, nämlich das Ausbleiben seiner Befriedigung, nicht antun möchte. (Nicht besonders postmodern gedacht, könnte man einwenden.)

Sein Leiden wurde lehrbuchmäßig ausgelöst durch ein schockhaftes Erlebnis, als nämlich seine Mutter ihn im Garten fand, beim Masturbieren eingeschlafen, mit dem erschlafften Glied noch in der Hand. Er erhob, um den mangelhaften Zustand seiner Bekleidung zu erklären, die falsche und verleumderische Behauptung, der Gärtnersohn habe sich an ihm vergangen.

Skandal!

Man schenkte ihm Glauben und warf den dreisten Bengel raus.

Später verwendet Rief die in der Therapie bei Dr. Bensimon erworbenen parallelistischen Methoden, um einen anderen traumatischen Moment, als er im Schützengraben (vermutlich) zwei Deutsche mit einer Handgranate tötet, mit einem freundlicheren Szenario zu überschreiben.

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Jetzt zu den Unklarheiten, meine Damen und Herren: Geht die Story wirklich so auf, wie Lysander Rief sie für sich und uns entwickelt? Oder übersieht er das Wesentliche? Sind wir aufgefordert, unsere Version der Ereignisse, die der Realität näher kommen mag, aus dem Nebel des Geschehens herauszuschälen? Dafür spricht, dass immer wieder aus Riefs therapiebegleitenden Aufzeichnungen zitiert wird. Was sind diese aber anderes als Produkte eines Parallelismus, also einer Schönfärberei der unerträglich rauen, brutalen und banalen Wirklichkeit? Ich bin mir nicht sicher, aber die ganze Zeit tickert einem beim Lesen dieser überaus elegant und spannend geschriebenen Story der Verdacht durchs Gehirn: „Da stimmt doch was nicht!“ Und wirklich sagt Boyd selbst, der übrigens auf die Idee zu diesem Roman kam, als er in Wien wohnte, um einen Artikel über den Maler Egon Schiele zu schreiben, im Gespräch mit einer Zeitung: „So etwas wie objektive Wahrheit gibt es nicht, das wissen wir ja. Wir können für subjektive Wahrheiten einstehen, aber alles andere ist Ermessenssache.“

Boyds Stil ist elegant und weltmännisch, flott auf unseichte Art, gewieft und ausgewogen, schön, auch schön eingängig. Der Mann ist wirklich ein Filmemacher in Worten, da hat der Daily Telegraph absolut Recht. Boyd ist ein Orson Welles in Worten, aber auch ein Alfred Hitchcock in Worten, der es liebt, mit seinem Publikum zu spielen, immer ein paar Schritte voraus zu sein. Eine große Zeit bietet feinsten psychoanalytischen Suspense.

Abschließend noch einmal ein kurzer Schlenker zu Harry Mathews, der ein Autor ist, den ich Ihnen auch empfehlen möchte. Ich habe gerade die Lektüre von The Journalist begonnen, das sich nach Tlooth ausnimmt wie eine Übung in Realismus – aber mit doppeltem Boden, doppelter Tagebuchführung, dem Verdacht, dass dem Chronisten seiner Alltäglichkeiten das Wesentliche entgehen könnte, das falsche Spiel nämlich, das er, selbst ein amouröser Falschspieler, von seiner Umgebung zu gewärtigen hat ... Na ja, lesen Sie es lieber gleich selbst!