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24. Januar 2013
stefan heuer
für satt.org
  Marcus Roloff, im toten winkel des goldenen schnitts. Gedichte
Marcus Roloff, im toten winkel des goldenen schnitts. Gedichte. 72 Seiten, Broschur mit Plakatumschlag. Gutleut Verlag, Frankfurt/Main und Weimar, 2010. 11,00 Euro
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Anthologien stehen bei einigen im Verdacht, ein Sammelbecken der Masse statt Klasse zu sein; immer wieder wird die Kritik geäußert, sie dienten nicht den Autoren, und nur bedingt den Lesern, sondern hauptsächlich den herausgebenden Verlagen: lieber achtzig veröffentlichte Autoren statt fünfzig, schließlich steht bei vielen eine stolze Mutter im Hintergrund, die sämtliche Veröffentlichungen des Nachwuchses sammelt. Manche gehen so weit, Anthologien rundheraus die Daseinsberechtigung abzusprechen.
Ich kann diese Ansicht nicht teilen. Mir dienen Lyrik- und Prosa-Anthologien wie auch Literaturzeitschriften seit je als Fundgrube für Texte, für interessante Autoren und Verlage – ganz davon abgesehen, dass sie gerade Jüngeren die wichtige Möglichkeit bieten, mit ersten Texten an die Öffentlichkeit zu treten und auf sich aufmerksam zu machen; die Zahl der Autoren, die gleich mit einem eigenen Buch debütiert haben, dürfte übersichtlich sein.

Ein ausgesprochen schönes Fundstück der jüngeren Vergangenheit ist der 2010 erschienene Band im toten winkel des goldenen schnitts des 1973 in Neubrandenburg geborenen und im Vorwendesommer in den Westen übergesiedelten Autors Marcus Roloff, auf den ich über eine der zahlreichen von Axel Kutsch herausgegebenen Lyriksammlungen aufmerksam geworden bin.
im toten winkel des goldenen schnitts ist – nach Herbstkläger (Connewitzer Verlagsbuchhandlung, 1997) und gedächtnisformate (2006) – Roloffs drittes Gedichtbuch; es ist, wie der Vorgänger, in der von Sascha Anderson und Bert Papenfuß herausgegebenen „black paperhouse“-Reihe des Gutleut Verlags erschienen. (Beide fungierten schon bei Roloffs Debut als Herausgeber.)
Äußerlich schlicht, hat es eine klare, in hellem Grauton gehaltene Umschlagtypografie und verzichtet auf jeglichen Firlefanz; außergewöhnlich und ansprechend, oder besser: außergewöhnlich ansprechend ist sein vom DIN-Format abweichender, beidseitig bedruckter Plakatumschlag. Er zeigt ein Aquarell von Trevor Gould (sechs Köpfe, die wie abgeschlagen in einem Meer aus Milch zu schwimmen scheinen), und wartet innen mit einer großzügigen Bio-Bibliografie des Autors und ausführlichen Informationen zu „black paperhouse“ auf.
Die Schlichtheit der Aufmachung sorgt dafür, dass nichts von den Gedichten ablenkt, und tatsächlich ist Konzentration ebenso notwendig wie geboten, denn Roloff macht es dem Leser nicht (zu) leicht. Die Gedichte, die auf fünf kurze Kapitel verteilt sind, werfen sich niemandem an den Hals; aber wie die eingangs erwähnten Zeitschriften und Anthologien, ist auch im toten winkel des goldenen schnitts eine formidable Fundgrube – Fundgrube für schön gewählte Titel, steile Einstiege, stimmungsvolle, plastische Bilder, für Passagen mit phonetischem Wohlklang, für stimmige und gleichzeitig überraschende letzte Zeilen.

balcke & heym

überm winter die landschaft durch watte & licht-
schrulle leer. eisiger werder. er wolle den raureif
feiern. wenn er sterbe seien die menschen tot. wie
stottern sei das nur dass nichts hängen bleibe denn
da werfe man ja die silben in eine art doppelten
boden. die welt klappe nach hinten. aber eigentlich
stottere niemand. das sei nur reminiszenz an die
rememorierte gegend zwischen havel & havel.

Es gibt viele schöne, gelungene Szenen, Schnitte, Stills. Ein einziger Kritikpunkt nur: Roloff versieht viele seiner Gedichte mit eingefügten Klammern, die zumeist auf Vorgenanntes Bezug nehmen, es erklären, ergänzen, beziffern. Grundsätzlich habe ich nichts gegen diese Stilistik, gegen Klammern oder Einschübe, ganz im Gegenteil, doch leider neigt Roloff dazu, seine Klammerspiele zu übertreiben, so dass sie zur puren, im Grunde unnützen und überflüssigen Manier geraten. Besonders im Kapitel „WIEPERSDORFER GESPRÄCHE“ wird dies deutlich, wenn sich hinter „mittwoch zwanzig nach acht“ eine Klammer mit „a.m.“ auftut, und Wiepersdorf liegt doch in Brandenburg –; das wirkt dann eher gewollt und deplaziert. Gelegentlich wäre weniger mehr gewesen, wie z. B. beim Gedicht „waten im verdachtsgelände“:

breitscheid- ecke twachtmannstraße altes rosa
(genossennelke) mitgliedschaften (der anderen)
übersprungene klassen (der anderen) seemanns
garn nach schulschluss (sportplatz) im abgestandenen
schlosspark (blablabla) lagen die bäume auf bänken
parataktische fehlleistung & hyperaktive schübe
suspektes schweigen am vorabend & abgefummelte
briefmarken (-sammlung) oder samstags am glambecker
see (ufer) gab es auch kein erwecken (aufstehn)

Wie gesagt, ein einziger Kritikpunkt (zu dem aber auch ein Lektor ruhig etwas hätte sagen dürfen). Im übrigen handelt es sich um einen gut strukturierten, stilistisch homogenen Lyrikband. Von Marcus Roloff wird noch einiges zu lesen sein. Auch den Verlag werde ich gewiss im Auge behalten. – Wenn es sich ergeben sollte, würde ich mich gerne mal mit dem Verfasser des Pressetextes auf ein Getränk zusammensetzen, das verspräche einen unterhaltsamen Abend!