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30. Mai 2010
stefan heuer
für satt.org
Andreas Altmann: Das zweite Meer. Gedichte

Die Fruchtbarkeit des zweiten Meeres – Andreas Altmann und sein Blick auf das Wesentliche

Ich schaue nicht viel Fernsehen, und auch im Kino bin ich (vielleicht zu) selten anzutreffen. Was mir an Filmzitaten parat ist, passt auf einen postkartengroßen Zettel. Einer der auf diesem Zettel verewigten Zelluloidschnipsel zeigt Charlie Sheen in Hot Shots, wie er ein Buch liest. Ein Mann tritt an ihn heran und erkundigt sich nach dem Titel des Buches, welcher "Große Erwartungen" lautet. Auf die Frage, wie es ihm denn gefalle, sagt Sheen: „Ich habe mir mehr davon versprochen!“

Nun, im Gegensatz zu anderen Kollegen lese ich nur selten vorab Rezensionen zu Büchern, die ich zu besprechen gedenke, vor allem nicht vorsätzlich, aber im Fall von Andreas Altmanns neuem Lyrikband "Das zweite Meer", erschienen im Frühjahr 2010 beim Leipziger Poetenladen, habe ich es durch Zufall getan. Dem Rezensenten, der diesen Gedichtband auf einem Literaturportal besprochen hat, muss es offensichtlich ähnlich ergangen sein wie Charlie Sheen, zumindest zeigte er sich enttäuscht ob der reduzierten Sprache, der übersichtlichen Wortfelder und wenigen Wortneuschöpfungen. Und in der Tat: eine reduzierte Sprache, mit der Altmann seine Leser konfrontiert, manche Wörter scheinen sich gar mantragleich zu wiederholen, schleichen sich möglicherweise sogar selbst in die Gedichte: boden, baum, licht, regen, augen und schritte in konsequenter Kleinschreibung. Experimentelle Wortneuschöpfungen sucht man vergebens, doch meiner Ansicht nach zieht der Rezensent daraus die falschen Schlüsse, wenn er dies negativ beurteilt, führt Altmanns reduzierte Wortwahl doch in eine Intensität, die in ihren stärksten Passagen den Blick auf das Wesentliche freilegt, auf das Fruchtbare. Die Verknappung sorgt für eine Eruption von Substanz, die auf musikalischem Gebiet an frühe Alben von The Cure erinnert, allen voran "Pornography", auf dem Smith sein Songwriting derart reduzierte, dass nur wenig ohne fundamentale Begriffe wie night, blood, mirror oder dead über die Bühne ging - und auch auf deutschsprachigem und zugleich lyrischem Terrain muss nicht lange gesucht werden, um eine Tradition der Reduktion zu benennen.

Macht die Reduktion Altmann zu einem "altmodischen" Dichter? Nein, tut es nicht, und sein Verzicht auf Experimente und Anglizismen stört mich nicht, vielmehr erfreue ich mich an dem, was seine Kunst zu einem Großteil ausmacht: Die Wiedergabe einer subjektiven Realität in Einzelbildern und Einzelheiten, aus denen er ein Ganzes zu formen vermag. Altmann transkribiert eine Momentaufnahme, ist dabei exakt und detailverliebt, gibt wieder und eröffnet Räume, hat aber gleichzeitig genug Vertrauen in seine Leserschaft, um sie nicht über die Schwelle schubsen zu müssen. Und wie unnötig wäre das auch, denn nur zu gerne folgt man ihm in "seine" Landschaften. Diese bestehen zu einem gewissen Teil aus naturalistischen, vertraut wirkenden Bildern (in den pappeln spinnt der wind weißen flaum; und an anderer Stelle: ein steg aus findlingen führt durch den uferschlamm zum meeresarm) - statisch könnte das werden, trocken und angestaubt wie der Landschafts-Kalender in so manchem Gästezimmer. Doch der Autor bricht die drohende Starre, indem er seine Landschaft personifiziert. Mal geschieht dies still und leise (der sommer ist ein schlafendes tier im weißen fell, das im eigenen schatten liegt. manchmal nachts wechselt es seinen platz. dann kann es regen geben), an anderer Stelle dramatisch (das klopfen des spechtes an der grenze zur nacht klingt schüssen ähnlich, die ihre erinnerung verfehlen) oder gar bedrohlich (und trotzdem streift ein heller schatten seine haut in meinen augen ab).

Nicht nur, dass es sich bei "Das zweite Meer" um eine großartige Betitelung für einen Gedichtband handelt, das titelgebende Gedicht fasst auch alle Stärken von Andreas Altmanns Lyrik exemplarisch zusammen:

das zweite meer

um den sandsee schwimmen küstenspiegel.
die scherbenblätter wurzelloser bäume treiben
im steinfeld, das am ufer in den boden wächst.
der wind drängt leichtes licht durch ihre schatten.
festgeflogen hängen laute möwen in der luft.
die baumruinen zeichnen sich im himmel,
der das land berührt. an ihnen fließt die luft
in strömen. ich höre noch das dröhnen aus den
goldnen trichtern. und seh den spatz am tubarand
für einen augenblick verweilen als sie schwieg.
und jemand leise, leiser deinen namen spricht
als wärs sein echo. die feder liegt im wasserlaub
und zupft mit trocknen spitzen an den augen
wimpern. sie hat sich gerade erst im seegras
netz verfangen. früher hätt ich sie befreit.

Ein homogener Gedichtband auf hohem Niveau, welcher dem Leser auf die ohnehin bereits üppige Portion an Vielfältigkeit und Sorgfalt mit dem Cover die Sahne on top kredenzt: in komplementären Rot- und Grüntönen gehaltene, mit Buntstift fixierte Hirsche, die sich als stilisierte Körper wie Wasser und Luft (eben: das zweite Meer) elementar gegenüberstehen – manchmal kann es so einfach sein!


Andreas Altmann:
Das zweite Meer. Gedichte

Poetenladen, Leipzig 2010
96 Seiten, Hardcover, 15,80 €
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