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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




10. März 2009
Martin Jankowski
für satt.org
Stewart O’Nan: Alle, alle lieben dich

Lieder für die, die fehlen

Stewart O’Nans stiller und großartiger
Roman „Alle, alle lieben dich“

Ein junges Mädchen verschwindet in dem Sommer, bevor sie das Haus ihrer Eltern verlassen und aufs College gehen will, auf dem kurzen Weg zu ihrem Job und taucht nie wieder auf. Zurück in der verträumten amerikanischen Kleinstadt Kingsville, irgendwo im tiefsten Ohio, bleiben drei verwunderte Freunde, ihre Eltern, die kleine Schwester und ein Hund. Wo ist Kim? Ist sie abgehauen, hatte sie einen Unfall, wurde sie entführt oder war es ein Verbrechen?

Was geschieht, wenn ein Mensch ohne Erklärung verschwindet, kann man in Stewart O’Nans Roman „Alle, alle lieben dich“ nachlesen. Kim hatte keine Feinde, jeder mochte sie und es gab keinen erkennbaren Grund von zuhause abzuhauen. Leise und ohne jede Effekthascherei entwickeln sich die Abgründe dieser Geschichte. Die Wochen vergehen und wir werden Zeugen dessen, was Kims Verschwinden bei denjenigen bewirkt, denen sie fehlt. In ruhigem, aber unaufhaltsamem Rhythmus wächst von unseren Augen das überzeugende Bild eines verstörenden Geschehens. Schließlich fragt man sich, was schlimmer wäre: Dass man eine Leiche fände, oder dass Kim plötzlich quicklebendig wieder auftauchte. Und man beginnt, mit den Figuren dieses Romans zu bangen.

Mit glasklarer Sprache und ohne jede Umständlichkeit der Handlung entsteht eine fast dokumentarische Atmosphäre. Bald hat man das Gefühl, die handelnden Personen mit ihren Eigenarten und ihrer inneren Logik ebenso gut zu kennen wie Kingsville, dieses Musterstädtchen des christlichen weißen Mittelstandes, das es ganz ähnlich auch in Nordrhein-Westfalen oder Oberfranken geben könnte. Die Geschichte, so erklärte der Autor, wurde von einem realen Fall inspiriert; im klein gedruckten Nachsatz dankt er einer Familie, „die mit diesem wahr gewordenen Altraum fertig werden“ musste. Konsequent entwickelt O’Nan sein ungewöhnliches Erzählmuster: Dadurch, dass der Leser den Fortgang der Handlung ausschließlich aus der Perspektive und auf dem jeweiligen Erkenntnisstand aller involvierten „Hinterbliebenen“ verfolgt, d.h. die Aufklärung des „Falles“ eben nicht aus Sicht der Polizei oder eines anderen ermittelnden Dritten miterlebt, entsteht eine Art des Mitfieberns, die literarisch und empathisierend zugleich wirkt - weil sie uns, statt wie üblich zum außenstehenden Voyeur, zum emotional Beteiligten werden lässt, der die Geschichte auf Augenhöhe mit den Figuren wahrnimmt. „Songs for the missing“ heißt das Buch im Original, Songs für Vermisste, Lieder für die, die fehlen. Kompliment an den Übersetzer Thomas Gunkel, der O’Nans Sprache knapp und schnörkellos in wunderbar flüssiges Deutsch übertragen hat.

Wie schon in seinem Roman „Engel im Schnee“, der ihm Anfang der Neunziger in Deutschland eine begeisterte und vielschichtige Lesergemeinde einbrachte, schafft es Stewart O’Nan mit diesem meisterhaft gebauten Buch erneut, präzise Porträts „ganz normaler“ Leute zur Grundlage literarischer Hochspannung zu machen; er zeigt, dass der Thrill nicht trotz des präzise beobachteten Gesellschaftsdramas funktioniert, sondern eben weil er daraus besteht; dass er gerade wegen dieser großen Lebensnähe so eindringlich wirkt. Wenn literarische Etikettenvergabe hier nicht überflüssig wäre (und es in Deutschland mit Jan Costin Wagner nicht längst einen seelenverwandten Meister literarisch anspruchsvoller Spannung gäbe), könnte man einigen ehrgeizigen deutschen Schriftstellerkollegen spöttisch zurufen: Da habt ihr ihn - den relevanten Realismus.



Stewart O’Nan:
Alle, alle lieben dich

Rowohlt 2009
410 Seiten, 19,90 €
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