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Februar 2007
Martin Jankowski
für satt.org

Aus New York (noch) nichts Neues
Benjamin Kunkels Roman „Unentschlossen“


Benjamin Kunkel:
Unentschlossen

Roman. Aus dem Englischen
von Stefanie Röder
Bloomsbury Berlin, 2006


Benjamin Kunkel: Unentschlossen

320 S., € 19,90
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Dwight Wilmerding aus New York ist 28, hat ein Philosophiestudium abgeschlossen und arbeitet im Service-Callcenter eines internationalen Pharmaunternehmens. Er hat hin und wieder hübsche Freundinnen, die er allerdings nicht so überzeugt liebt wie die Schriften Otto Knittels, eines angeblich großen deutschen Philosophen (hinter dessen Zitaten aus dem fiktiven Werk Der Gebrauch der Freiheit sich vor allem Ideen Martin Heideggers verbergen). Sein Problem seit Kindheitstagen ist seine ständige Unentschlossenheit: Dwight Wilmerding weiß so selten etwas mit sich und seinem Leben anzufangen, dass er, wie schon als kleiner Junge, vor dem gedeckten Tisch zu verhungern droht. Mit dieser auch uns wohl vertrauten „keine Ahnung“ und „einerseits-andererseits“-Haltung der ewig im Vorläufigen Verharrenden erscheint er ein Prototyp derer, die man in Deutschland seit einer Weile auch gern „Generation Praktikum“ nennt. Weil Dwight nun im Dienst aus Versehen eine streng vertrauliche Email seines Chef erhalten und diese, ohne sie zu lesen, vorläufig abgespeichert hat, verliert er überraschend seinen Job und muss sich nun entscheiden, was er mit seinem Leben weiter anfangen will. Das übliche „mal sehen“ genügt angesichts der existenziellen Krise nicht mehr. Ein Mitbewohner seiner Slacker-WG empfiehlt ihm schließlich ein brandneues Produkt aus der Pharmaforschung, ein Phsychopharmakon, das Wilmerdings chronische Entscheidungsschwäche, die Abulie, angeblich heilt. Diwght entschließt sich (!), es zu nehmen und mit dieser kleinen Hilfe zu einem entschlossenen Menschen zu werden.

Deutsche Bildungssplitter scheinen hip zu sein unter amerikanischen Jungintellektuellen und exotisch (»Während dieses wütenden Anfängerkurses über Unterentwicklung, den sie mir wie zum Spaß gab, bemerkte ich bei einem zufälligen Blick in den kurzen Tunnel ihres T-Shirt-Ärmels, als sie sich mit der Tram in die Kurve legte, dass sich Brigid die Achseln nicht rasierte, eine in meinen Augen herrliche Nachlässigkeit, und echt germanisch.«). Benjamin Kunkels Debütroman hält etliche interessante Passagen für uns deutsche Leser bereit, nicht nur, wenn der 33-jährige Magazinjournalist die Ideen großer deutscher Philosophen in zumeist leichtverdaulichen Splittern von Hegel, Kant und Marx bis Heidegger auf den Prüfstand des amerikanischen Großstadtalltags im 21. Jahrhundert stellt. Im Schlafzimmer der Schwester des Haupthelden etwa findet sich anlässlich aufschlussreicher Therapiesitzungen à la Freud, die die ältere Schwester für ihren verunsicherten Bruder abhält, ein altes DDR-Propagandaplakat an der Wand, dass der Gier des Kapitalismus eine entschiedene Antwort entgegensetzt; etwas, wozu Dwight Wilmerding nicht in der Lage ist - vorerst. Wir erfahren im Gespräch der Geschwister unter anderem Erstaunliches darüber, wie der Mauerfall auf die jüngere Generation der Amerikaner wirkte: „Weißt du noch, wie uns die Erwachsenen gefragt haben, was wir später mal werden wollen? Hattest du nicht auch immer das Gefühl, du sagst nur ihnen zu liebe irgendwas? Und dann der Schock, als die Mauer fiel und wir auf halbem Weg zur Prep School plötzlich einsehen mussten, dass es doch etwas gab, worauf man sich vorbereiten musste. Aber man hatte keine Pläne für das spätere Leben – gar keine. Wir konnten uns das Erwachsenwerden nicht vorstellen, weil die Zukunft jederzeit ausfallen konnte.“ Dass der Kalte Krieg und die ständige Möglichkeit einer atomaren Apokalypse derart intensiv nicht nur das Lebensgefühl in Leipzig oder Berlin, sondern auch von ganzen Generationen in New York geprägt hat, ist eine in ihren Konsequenzen bis heute durchaus bemerkens- und bedenkenswerte Beobachtung. Von etlichen derart treffenden Erkenntnissen ist die New-York-Ebene des Romans durchsetzt, so dass beim zunehmend begeisterten Leser der Verdacht aufkeimen muss, es hier mit einem genau gezeichneten neuen Generationenporträt der Nach-9/11-Ära zu tun zu haben.

Doch dann wird schon die Reflexion des Attentats auf das World Trade Center auf die Gäste und Bewohner der New Yorker WG des Haupthelden seltsam verschenkt – außer dass sie das Attentat aus einer studentischen Couchorgie mit Kuschelsex und Ecstasy herausreißt und in den folgenden Tagen viel geweint wurde, erfahren wir nichts darüber, was sich im New Yorker Lebensgefühl ändert, obwohl die Protagonisten des Buches allesamt mittendrin leben. Und dann verlässt uns mit den immer spärlicher werdenden Otto-Knittel-Zitaten allmählich auch die Tiefe der Handlung und statt genauer Beobachtung übernimmt eine überdrehte Reiseschilderung aus dem Dschungel von Ecuador die Oberhand. Zunehmend krankt der exzellent angelegte Roman (den Maik Söhler im Titelmagazin für seine seichten Stellen nicht ganz zu unrecht als „Linkskitsch“ bezeichnet hat), an der altbekannten Krankheit gesellschaftskritischer Denkprodukte seit Marx: Exzellent und scharfsinnig in Beschreibung und Analyse ärgerlicher gesellschaftlicher Ist-Zustände, aber komplett unbrauchbar in der Formulierung - ganz zu schweigen von der Ausführung - einer ernstzunehmenden Alternative.

Was der New Yorker Linksintellektuelle Benjamin Kunkel uns in Teil 1 seines Romans über New York vor und nach dem 9. September 2001, die innere Verfassung seines jungen weißen Mittelklasse-Haupthelden und dessen Lebens-, Arbeits- und Familienverhältnisse erzählt, ist scharf beobachtet und brillant geschrieben - große Literatur, die in Sound und Inhalt zuweilen durchaus an Salingers „Fänger im Roggen“ oder Douglas Couplands „Generation X“ heranreicht (womit manche Rezensenten aus den USA das Buch euphorisch verglichen). Die in Teil 2 des Buches geschilderte Bekehrung des New Yorker Slackers Dwight Wilmerding zum „demokratischen Sozialismus“ mittels Kaktussaft aus dem Urwald von Ecuador allerdings ist zumeist schlecht geschriebener Stand-up-Schwachsinn fürs linksurbane Universitäts-Prekariat, der in dieser Form wohl nur in den USA für Aufsehen sorgen kann. (Vielleicht kann ja die Rosa-Luxemburg-Stiftung Kunkel mal für ein heilsames Talk-Show-Wochenende mit den alten und neuen Granden unserer zukunftsträchtigen Partei des Demokratischen Sozialismus an die Volksbühne nach Berlin einladen?)

Hier werden sämtliche Standard-Topoi der jüngeren amerikanischen Literatur von „Suche nach der Wunderdroge“ bis „Abrechnung beim Highschool-Klassentreffen“ durch den Fleischwolf eines delirienden Pseudodiskurses gedreht. Politisierende Dialoge statt der zu erwartenden Handlung übernehmen den Text (- was wird aus der verschwundenen Email, was mit der Familie etc.?), lediglich die Rückblenden nach New York sind nach wie vor brillant. Was an Tiefe, Beobachtungsgabe und genialen Formulierungen im Teil 1 für genussvolles Weiterlesen sorgt, gerät in Teil 2 über die konstruierten Klischee-Charaktermasken (die geheimnisvolle Erlöser-Blondine und der entwurzelte Dritte-Welt-Fremdenführer) komplett in Vergessenheit und endet in jeder Hinsicht im literarisch unentschlossenen Irgendwo. Schade - muss man angesichts des fesselnden, witzigen und chancenreichen Settings ausrufen, das vorher so bewundernswert aufgebaut wurde. Benjamin Kunkel ahnt wohl selbst, dass die Entwicklung seines Helden am Ende dieses Entwicklungsromans nicht überzeugen kann, denn er lässt ein WG-Mitbewohner des Haupthelden am Schluss des Buches ganz treffend bemerken: „ …so was macht man heutzutage nicht mehr. Man fliegt nicht mehr nach Lateinamerika, nimmt dort psychedelische Drogen und erlebt mit einer braun gebrannten Göttin des internationalen Sozialismus die sexuelle Befreiung.“ (Dergleichen kann z.B. der Altmeister psychedelischer Spaßutopien Tim Robbins viel besser, siehe seinen zuletzt auf Deutsch erschienenen Roman „Villa Inkognito“, Thomas Pynchon halten wir in diesem Zusammenhang einmal ganz raus.)

Dem 1973 geborenen Kunkel, Havardabsolvent für Literatur sowie Begründer und Redakteur des Magazins n+1, ist mit seinem Debütroman ein Bestseller gelungen, der auch in Europa große Beachtung fand. Allein die Startauflage der US-Taschenbuchausgabe lag bei über 100 000 Exemplaren, es gibt mittlerweile fast 20 Übersetzungen. Die New York Times schrieb ihre Besprechung begeistert im Sound Holden Caulfields. Die deutsche Kritik äußerte sich bisher verhaltener. Gelobt wird bei uns die Übersetzungsarbeit von Stefanie Röder, die witzige und überzeugende Entsprechungen für Kunkels phantasievolle Formulierungskunst findet und erfindet, lediglich bei den stehenden philosophischen Begrifflichkeiten muss man Ungenauigkeiten anmerken, die einige von Kunkels Anspielungen verschenken (so wird Kants „allgemeines Gesetz“ des kategorischen Imperativs zur „Regel Nummer eins“ etc.). Doch die Sprache sowohl des Originals als auch der Übersetzung sind durchgehend erfrischend, unprätentiös und lebendig.

Der Stolz des Helden, am Ende ein politisch-korrekter Schlaffi in problematischer ecuadorianischer Aussteiger-Idylle geworden zu sein („ …Er ist nämlich Schlaffi und Sozialist.“ „Das Wort Schlaffi habe ich ihr beigebracht“, sagte ich stolz.) wirkt kaum ironisch, eher hilflos und unfreiwillig komisch. Der erste Teil des Buches hat bewiesen, dass der Autor etwas zu sagen hat und hervorragend schreiben kann, solange er beobachtet und beschreibt - und nicht predigt, indem er seine Charaktere zu durchschaubaren Marionetten macht. Benjamin Kunkel hat sich leider nicht zu einem überzeugenden „Ende“ für seinen Haupthelden entschließen können. Herr Kunkel, bitte einen zweiten Versuch. Wir freuen uns drauf!