Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen



März 2006 Tobias Lehmkuhl
für satt.org

Ror Wolf:
Gesammelte Fußballhörspiele

Intermedium Records, München 2006

Cover

4 CDs, 241 Min.
   » amazon

Symphonie
in sieben Sätzen
Ror Wolfs Fußballhörspiele
lassen den Ball fliegend laufen

So rasant ist kaum ein Fußballspiel, und selbst mit den schnellen Schnitten heutiger Musikvideos können Ror Wolfs Fußball-Hörspiele aus den 70er Jahren durchaus mithalten. Sie legen ein Tempo vor, das nur wenige Radio-Produktionen seither eingeholt haben. So dauert etwa Wolfs „Rückblick auf große Tage“, ein Zusammenschnitt der WM 1974, gerade einmal 22 Minuten. Dabei hat der Autor die Schnipsel aus Radio- und Fernsehkommentaren so geschickt aneinandergefügt, dass der innere Zusammenhalt des Stücks niemals gefährdet scheint. Als gäbe es einen Grundpuls, an dem sich die Abfolge der O-Töne orientiert, einen festen, wenn auch komplexen Rhythmus, nach dem alle Sprach- und Geräuschfragmente gegliedert sind.

Auf dieses Presto-Stück folgt in der nach einem Vierteljahrhundert nun endlich erhältlichen Sammlung sämtlicher Fußballhörspiele Ror Wolfs das, wie es dem Thema angemessen ist, moderat gehaltene „Die alten Zeiten sind vorbei“. Diese Collage nun setzt sich aus Expertenmeinungen zusammen – nicht aus jenen der Kommentatoren an den öffentlich-rechtlichen Mikrofonen, sondern aus denen der treuen Rentner, die fleißig jedes Training ihrer Mannschaft besuchen und derweil babbeln, was das Zeug hält. Ror Wolf, muss dazu gesagt werden, ist Mainzer und darüber hinaus eingefleischter Eintracht Frankfurt-Fan. Und so erklingen die Expertenmeinungen, die er für drei der sieben zentralen Hörspiele eingeholt hat, im weich-warmen Singsang seiner hessischen Heimat.

O-Ton-Collagen werden Wolfs Fußball-Hörspiele auch genannt. Collage aber scheint ein viel zu gemütlicher Ausdruck zu sein für diese akustischen Feuerwerke. Gleichwohl haben sie die Radiokunst revolutioniert. So viel und so frech eingesetzter Original-Ton, das gab es im deutschen Rundfunk bis dahin nicht. Derart ausgewogen und aufeinander abgestimmt, ist dabei eine Symphonie in sieben Sätzen entstanden. Noch heute gilt vielen das schlüssige Arrangement von O-Tönen als die hohe Kunst des Radio-Machens. Einem Romancier ist es zwar möglich, den Leuten aufs Maul zu schauen. Was diese Mäuler aber wirklich von sich geben, dass hört man eben nur im Hörspiel.

Natürlich haben O-Töne auch, gerade beim Fußball, einen hohen Spaß-Faktor. Kommentatoren, die 45 Minuten am Stück frei reden müssen und nie wissen, was auf sie zukommt, verzapfen dementsprechend eine Menge Unsinn. Manchmal geben sie auch Dummheiten von sich, auf die nicht jeder kommen würde. Meist aber sind ihre Ausrutscher, Entgleisungen und Gedankenlosigkeiten der Erregung des Augenblicks geschuldet, der raschen und geradezu unbewussten Redetätigkeit.

Auf diese Weise kommen die schönsten Fußballweisheiten zustande. Auch in Wolfs Hörspielen finden sich einige: „Was Elfmeter ist, muss Elfmeter bleiben“ lautet eine davon. Doch geht es Wolf keineswegs nur um Pointen; die unterlaufen ihm eher nebenbei, wenn auch zuhauf. Er will anderes. Zweierlei nämlich: Er möchte die sprachliche Gestalt des Fußballspiels erfassen. Seine Hörspiele bilden eine Art akustisches Wörterbuch. Von Sätzen und ganzen Satzfolgen bis zu einzelnen Wörtern und bis in die kleinsten Partikel der Sprache hinein hat Wolf aus unzähligen Fußballübertragungen Motivketten destilliert, die in ihrem Zusammenklang das gesamte Spiel zu erfassen scheinen. Es sind vielfach die immergleichen sprachlichen Einheiten, die einem auf diese Weise in unendlicher Variation vor Ohren treten. Sie sind gleichwohl von einer ganz eigenen Poesie: „der Ball rollt“, „der Ball klatscht“, „der Ball rutscht“, „fliegend läuft der Ball“, „der Ball krachte gegen die Latte“.

Wolf möchte, zweitens, auf diesem Weg das Fußballspiel immer wieder erlebbar machen, eine Art akustisches Ur-Hörspiel zur Verfügung stellen, eine Essenz dieser magischen 90 Minuten, die alles enthält, was es in zwei Halbzeiten zu sagen und zu fühlen gibt.

Das Ohr am Lautsprecher drängt sich der Eindruck auf, dass es sich nur auf diese Weise verlohnt, sich mit Fußball kreativ auseinanderzusetzen: Als Hörspiel. Die vielen Fußballgeschichten und Fußballgedichte, die dieser Tage in Hörbuchform veröffentlicht werden, kommen dem Charakter des Spiels längst nicht so nahe. Ein Fußballspiel vor Ohren zu führen, dazu ist die Lesung von Prosasätzen oder gar Versen und Strophen denkbar ungeeignet. Das wilde hin und her und kreuz und quer eines Spiels fügt sich weder in den linearen Ablauf einer Geschichte noch in den regelmäßigen Rhythmus gereimter Zeilen. Die komprimierten, gemixten und übereinander gelegten Tonschnipsel kommen der Komplexität und zugleich der spielerischen Leichtigkeit des Fußballs erheblich näher. „Da gibt es Unklarheiten, aber das war wohl klar.“

Ror Wolfs zwei erste Hörspiele – „Warum nicht ein wahres Wort, dort, wo es angebracht ist?“ – muss man allerdings als noch unausgereifte Etüden bezeichnen. Und sein letztes, aus Anlass der Gesamtausgabe produziertes Stück, als enttäuschenden Nachklapp, dem abgeht, was Wolfs Arbeiten aus den 70er Jahren so auszeichnet: Die enorme Musikalität und der spielerische Ernst ihrer Dramaturgie. Dazu gehören auch die Schiedsrichter-Beschimpfungen in „Merkwürdige Entscheidungen“, der Kampf mit der Technik in „Schwierigkeiten beim Umschalten“ oder „Cordoba, Juni 13 Uhr 45“, die Engführung von deutscher und österreichischer Kommentierung des WM-Spiels Deutschland-Österreich 1978. Sie sind ein wahrer Gewinn. Auch für Deutschland.