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Februar 2005 Ilse Kilic
für satt.org

STEILE LISTEN

Warum Listen? Mit einer Liste kannst du nie verloren gehen! Eine Liste wirkt durch den Anschein von Ordnung, den sie dem Leben gibt, als Beruhigung. Eine Liste ermöglicht leicht, sich Rechenschaft zu geben über aktuelle und ehemalige Vorhaben (abhaken, durchstreichen: erinnern – wiederholen – durcharbeiten). Eine Liste ermöglicht den unterschiedlichsten Wörtern und Wortarten, sich auf einem Blatt Papier zu begegnen. So trifft die Liste unweigerlich eine Aussage über etwas, was die Listenerstellerin nicht in Vergessenheit geraten lassen wollte, zum Beispiel: milch, brot, christine, aspirin, katze. Die Liste ist zugleich auch poetische Form, und, die Arten möglicher Listen sind überaus zahlreich, sodass eine Liste aller Listen eine spannende, aber unendliche Geschichte wäre.

Mehrere Bücher sind mir heuer in die Hände gefallen, die sich, teils auf theoretische, teils auf literarische Art und Weise, mit dem Thema "Liste" beschäftigen, nach der Bedeutung der Liste in Text und Leben fragen. "Die Kunst der Liste" von Jacques Roubaud (Edition Isele 1998) ist eines davon. Jacques Roubaud, Mitglied von Oulipo, der Werkstatt für potentielle Literatur, nähert sich dem Thema auf listige Art und Weise. Er listet Möglichkeiten der Liste auf und gibt dabei auch einen spannenden Einblick in die Welt von Oulipo, stellt Bezüge her und definiert Liste als Form und Inhalt. Das dünne Bändchen ist zweisprachig (französisch/deutsch) und erfreut durch liebevolle und schlichte Gestaltung. Wer mehr über Oulipo wissen möchte, dem sei das Buch "Viel Spaß mit Haas" von Astrid Poier Bernhard (Sonderzahl 2003) ans Herz gelegt, sowie, natürlich, weitere literarische Werke von u. a. Jacques Roubaud.

Unter dem Titel "Listenweise" hat Thomas Ballhausen im Verlag der Pudel 2004 einen Band herausgegeben, der sich ebenfalls mit Poetik und Poesie der Liste befasst. Hier finden sich die verschiedensten Autoren, Autorinnen und dem entsprechend die verschiedensten Zugänge zur "Listen-Idee". Das Vorwort des Herausgebers versucht zwar, einen Einstieg in diese ziemlich wild geratene Sammlung von Texten zu geben, dennoch wird nicht wirklich klar, was nun eigentlich die Verbindung eines Textes mit der Idee der Liste ausmacht. Spannend und rhytmisch sind die "ottotexte" von Herbert J. Wimmer, schön die Texte von Margret Kreidl, die sich unter dem Titel "Das Gesicht ist ein Begriff" versammeln, schön ebenfalls jene Texte, die dem Alfabeth nachspüren (Margret Kreidl und Regina Hilber), lustig die Idee von Alexander Edelhofer, einen Text aus Listen von Songtiteln zu bauen – der die Absicht erläuternde Zwischentext ist jedoch nur halb (so) lustig, fraglich indes, was das Wartezimmer vor und nach dem Aidstest (Xaver Bayer) für eine Rolle spielt und, aber – ich möchte mir an dieser Stelle einen Hinweis auf die im Verlag Der Pudel erschienenen "202 Zweizeiler" erlauben. Diese treten als Liste auf, ja, sie sind eine Liste, die auf ihrer Unvollständigkeit beharrt. Ein Blick auf die Homepage von die Pudel lohnt sich auch in diesem Sinne.

"Die Kunst, Listen zu erstellen" heißt das von François Jullien herausgegebene Listenbuch (Merve Verlag 2004). Durchwegs handelt es sich bei den Texten um Übersetzungen aus dem Französischen. Der Fokus dieses Büchleins liegt auf chinesischer und japanischer Listen-Tradition und, in der Tat, die Komplexheit und die Heterogenität der Listen, die unter anderem die japanische Hofdame und Autorin Sei Shonagon in ihrem "Kopfkissenbuch" (geschrieben um das Jahr 1000) erstellt, machen diese zu etwas sehr Speziellem. Spannend auch die Liste der Griffe und Spielweisen der chinesischen Laute, wobei ein grundsätzlicher und vielschichtiger Zugang zu Klang und seiner Verbindung zu verschiedenen Wahrnehmungsebenen aufgebaut wird.

"Mit einer Liste kannst du nie verloren gehen", schreibt, wie ich mich zu erinnern glaube, der Autor Raymond Federman, dessen Buch "Alles oder Nichts" (Greno Verlag 1986) ich hier herzlich empfehlen möchte. Ja, auch in diesem Buch geht es um Listen, die angelegt werden. Die Liste wird einerseits als literarische Form erforscht und andererseits wird auch die Hilfestellung, die sie dem Leben und dem Überleben geben kann, unter die Lupe genommen.

Übrigens: Wer sich dafür interessiert, wie es möglich ist, in einem Buch alle Rastplätze auf der Strecke Paris-Marseille unterzubringen und wie dieses Buch trotzdem oder deswegen ein ganzes Universum eröffnet, dem sei das Buch "Die Autonauten auf der Kosmobahn" von Julio Cortàzar (Suhrkamp 1996) ans Herz gelegt, und, je mehr ich an die Liste denke, die Idee der Liste reflektiere, umso öfter entdecke ich die Liste. Sie erscheint als Wahrnehmungsform der Welt, und, ja, alles Beschriebene ist Teil dieser Liste aller Listen. Da verwandelt sich der Satz: "Ich glaube an die Liste erst, wenn ich sie sehe" in den Satz "Ich sehe die Liste erst, wenn ich an sie glaube." Und, natürlich, nicht vergessen: milch, brot, christine, aspirin, katze.