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Oktober 2004
Christian Bartel
für satt.org

Michael Schneider:
Der Traum der Vernunft

Roman eines deutschen Jakobiners
KIWI, Köln 2001

Michael Schneider: Der Traum der Vernunft - Roman eines deutschen Jakobiners

700 S., € 9,90
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Michael Schneider:
Der Traum der Vernunft
Roman eines deutschen Jakobiners


1789 hockt der junge Beethoven im überfüllten Hörsaal der Universität zu Bonn und lauscht den Ausführungen eines unerhört progressiven Professors, den Kurfürst Max Franz in einem Anfall schöngeistiger Liberalität mit einem Lehrstuhl für die "schönen Wissenschaften" bedacht hat.
Dieser Eulogius Schneider, 1756 in Wipfeld geboren, hat zu diesem Zeitpunkt schon eine beachtliche Laufbahn als akademischer und geistlicher Störenfried absolviert. Erst kürzlich hatte Herzog Karl Eugen von Württemberg seinen vormaligen Hofprediger aus dem Amt jagen müssen, da dieser sich allzu deutlich im Ton vergriffen hatte. Denn galt es zwar auch unter beinharten Reaktionären als durchaus schick, sich in hochgelehrten Disputationen mit den kritischen Geistern der Aufklärung zu erhitzen, so galt es doch als durchaus unschicklich, wenn diese den behüteten Raum des reinen Geistes verließen und sich der Politik zuwandten. Eben das tat der feuerköpfige Priester, der sich erkühnte, in der Ode "Auf die Zerstörung der Bastille" die gewaltsamen Umwälzungen im Nachbarland aufs Innigste zu begrüßen. Geh doch nach drüben, maulten die braven Bonner, die Liberalität hatte ein Ende und Bonn wurde wieder beinahe so reaktionär wie Köln. Schneider dagegen machte sich auf ins elsässische Straßburg und wurde revolutionärer Politiker. Zwischen den Mühlsteinen der äußeren wie inneren Feinde der Republik wird Schneiders idealistische Humanität jedoch langsam aufgerieben und gegen Ende seiner Laufbahn zieht er als "accusateur public" hinter einer zerlegbaren Guillotine durch das Elsaß, bis er schließlich selbst einer Intrige des Saint Just und der Guillotine zum Opfer fällt.

Der Autor Michael Schneider, ehemals Lektor im Verlag Klaus Wagenbach und politischer Publizist, hat das wendungsreiche Leben des Eulogius Schneider zu einem dickleibigen Roman verarbeitet, der sowohl als Ideenroman wie auch als Fallstudie zu lesen ist. Den fiktiven Biographen Jakob Nepomuk Brenner, Freund und stiller Sympathisant Schneiders, läßt er als gealterten Zeitzeugen in der restaurativen Metternich-Ära von Größe und Irrtum der Revolution erzählen. Brenner schöpft aus der eigenen Erinnerung, aus den nachgelassenen Tagebüchern Schneiders sowie denen seiner Frau Sara und so wird aus der Charakterstudie unter der Hand eine Verteidigungsrede des "Blutsäufers vom Elsaß", in dessen kurzer Amtszeit nicht weniger als 31 Todesurteile gefällt wurden.

Dem Schriftsteller Schneider geht es natürlich darum, wie aus dem empfindsamen Freigeist ein Bluthund der Revolution werden konnte: es ist die Geschichte einer allmählichen Radikalisierung, einer Regression von der Toleranz zu einer in gnadenlosem Kampf gehärteten Freund-Feind-Dichotomie, die Geschichte des hysterischen Amoks einer bedrängten Idee, die sich im Terror zu verteidigen suchte. Diese Geschichte ist unglaublich klug erzählt. Das revolutionäre Pathos Schneiders, die altersmelancholische Resignation des Erzählers und besonders die lebenskluge Sophisterei des Adeligen Merville, mit dem Schneider seine letzten Wochen in einer Zelle verbringt, das alles ist gekonnt nachgefühlt und maßvoll antiquiert erzählt. Der Autor mischt recht kühn die gewundene Diktion des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts mit lakonischem Erzählerton, in Einzelfällen wirkt das sonderbar, steigert aber die Lesbarkeit des 700-Seiten Wälzers ungemein.

Schneider entwirft ein detailreiches und lebenssattes Tableau der Französischen Revolution, ohne freilich die Geschichte und Entwicklung seiner Hauptperson aus den Augen zu verlieren. Zu Paß kommt dem Autor dabei die Belesenheit und Bildungsbeflissenheit des sich im Wortsinne heranbildenden Bürgertums dieser Zeit, sie alle kannten ihren Rosseau und Voltaire und so wirken auch die Diskurse und Referate, die Schneider oft im Gespräch inszeniert, überzeugend und selten ermüdend. Es war eben die Zeit der großen Entwürfe und Debatten. Etwas zum Nachteil gereicht dem Buch dagegen die schlampig inszenierte Generalbeichte, die der verurteilte Schneider gegenüber seiner Frau Sara ablegt. Kurz vor Schluß liefert der Autor psychologische Ursachen nach, die in ihrer naiven Geradlinigkeit dem komplexen Charakter der Hauptfigur nicht gerecht werden. Die politischen Mechanismen des revolutionären Räderwerks und der halsstarrige Positivismus der jakobinischen Ideologie, denen der Autor ungleich mehr Platz einräumt, bilden ein wesentlich glaubwürdigeren Antrieb dieser Lebensgeschichte und werden vom politischen Autor Schneider mit Bravour vermittelt. Der Roman des deutschen Jakobiners Schneider ist aufgeklärtes Edutainment, spannender historischer Roman und Anatomie einer politischen Idee.