Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen



April 2004
Lothar Glauch
für satt.org

Vladimir Sorokin:
Ljod. Das Eis

Berlin Verlag 2003

Vladimir Sorokin: Ljod. Das Eis

Übersetzt aus dem Russischen von Andreas Tretner.

Die Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel Ljodbei Ad Marginem, Moskau.

352 Seiten, geb.
€ 22,00
   » amazon

Dünnes Eis

Metaphysische Überlegungen anlässlich der Debatte um "Ljod. Das Eis" von Wladimir Sorokin



Selten ist man von der Übersetzung eines Buches derart beeindruckt, dass man den Übersetzer noch vor dem Autor nennen möchte. Was die Kunstfertigkeit des Romanciers keineswegs schmälern soll – aber Andreas Tretner ist auf dem besten Wege, einmal als Curt Meyer-Clason oder Hans Wollschläger für die übersetzte russische Gegenwartsliteratur zu gelten. Das auch deshalb, weil er zielsicher die strittigsten zeitgenössischen Autoren herausgreift und ihnen eine eigene, kraftvolle Stimme verleiht.

Nach Wiktor Pelewin und Anatoli Asolski hat er nun einen wichtigen Roman von Wladimir Sorokin übersetzt. Und der 48jährige Russe passt sehr gut in diese Reihe: Tretner hat offenbar ein Faible für düstere Weltentwürfe, die den orwellianischen oder gar stalinistischen Repressionsjargon durchdeklinieren. Die Welt, die der gebürtige Moskowiter in "Ljod. Das Eis" entwirft, ist bipolar angelegt, eine Zweiteilung, die an das religiöse Paradigma eines George Walker Bush erinnern könnte: Hier die Guten, da die Bösen. Aber es passt ebenso in das beliebte Strickmuster des Fantasy-Genres, wie es in Tolkiens Elfenepos oder Herberts Saga vom Wüstenplaneten trefflichst dargestellt worden ist.

Eingangs provoziert Sorokin das Entsetzen des Lesers. Es wimmelt von Schiebern, Dealern, Süchtigen, Prostituierten, dass sich der Eindruck aufdrängt, die gesamte russische Gesellschaft habe mit der Einführung des Kapitalismus auch ihren kulturprägenden Familiensinn abgelegt: Ganz Moskau ist zum Soziotop für Singles und Solipsisten geworden, ja schlimmer noch, bei Sorokin irren unzählige tote Seelen durchs Dasein, sinnlose Apparate ohne Auftrag, die sich dem Argwohn und dem Zynismus ergeben haben.

Das schlägt sich auch in der Erzählhaltung nieder: Sorokin wechselt in dem ersten und dritten Teil die Handlungsträger immer wieder aus, so dass jedes Einzelschicksal in dem Gesamtmuster verschwindet. Nur im zweiten Teil konzentriert er sich auf eine einzige Frau, die ihr Leben nacherzählt. Aber auch diese Figur ist kaum als individueller Charakter erkennbar, ihr Lebenslauf wirkt synthetisch, steht vielmehr repräsentativ für ein Sektenmitglied, das sich bis in die oberen Logen der Sekte hinauf gearbeitet hat. Womit in "Ljod" bloß ein einziger, echter Protagonist übrig bleibt: Die Sekte selbst.

Die Sektenmitglieder betreiben einen höchst fragwürdigen Übermenschenkult, denn sie haben sich als Ziel gesetzt, die in den "Fleischmaschinen" eingeschlossenen Seelen von den Toten zu erwecken. Worin sich durchaus eine Art vorgezogenes Jüngstes Gericht erkennen lässt, da bloß wenige Menschen diesen brutalen Initiationsritus überleben – diejenigen, die mit dem Herzen sprechen können. Sie verwandeln sich in dem Augenblick ihrer Erweckung in Supermenschen mit parapsychologischen Gaben.

Herzensangelegenheiten

Das Leitmotiv von "Ljod" ähnelt dem poesiealbumstauglichen Spruch von Saint-Exupéry: "Man sieht nur mit dem Herzen gut", oder gar dem Bestseller von Susanna Tamaro: "Geh, wohin dein Herz dich trägt." Aber kann man Sorokin solche Gemeinplätze abnehmen? Nein, möchte man antworten, nie im Leben wird sich ein altgedienter Provokateur auf das Häkelwerk der Gefühle bescheiden! Folglich kann es nur Ironie sein, wenn der Autor bei einer "Ljod"-Lesung im Roten Salon der Volksbühne anmerkt, dieses Buch sei sein erster Roman, den er nicht mit dem Kalkül des Zerebrums geschrieben hat, sondern mit dem Herzen.

Doch Sorokin weiß auch hier zu verblüffen, denn er meint es ernst. Die Idee zu seinem Buch sei ihm bei einem Japanaufenthalt gekommen. Eines Tages habe er eine Frau beobachtet, die sich über einen Kinderwagen beugte, und als er an ihr vorbeiging, sah er in den Wagen zwei Welpen sitzen, welche die Frau vertrauensselig anstrahlten. In diesem Moment habe er den Kernsatz für sein Buch erkannt: Das, was wirklich spricht, braucht keine Worte.

Hier allerdings entsteht für Wladimir Sorokin ein Problem. Als Schriftsteller nämlich muss er sich zwangsläufig in ein Paradoxon verstricken, sofern er versucht, diese "wortlose Herzenssprache" seinerseits in Worte zu fassen. Dass er dieses unmögliche Unterfangen dennoch in Angriff genommen hat, scheint tiefere Gründe zu haben. Für Sorokin bedeutet "Ljod" tatsächlich eine Abkehr von der Zerebralität seiner früheren Jahre, etwas, das ihn seinerzeit eng mit Durs Grünbein ("Schädelbasislektion") oder Aris Fioretos ("Mein schwarzer Schädel") verbunden hatte.

Doch allen Intentionen zum Trotz ist "Ljod" keineswegs so emotional geraten, wie Sorokin es angelegt hatte. Seine Sprache besticht nach wie vor durch extreme Präzision und ästhetische Schlankheit, von überschwänglicher Emotion keine Spur. Seine Prosa ist ebenso kristallin wie die Äxte aus Eis, mit denen die "Herzensbrecher" ihre Initianten traktieren. Wortverschwendung kann man Sorokin keineswegs vorwerfen. Wortverschwörung schon eher …

Falsche Debatte: Pornografie

In Russland hat "Ljod" heftige Debatten ausgelöst: Pornografie oder große Kunst? Die putinnahe, vaterlandsehrende Jugendorganisation "Gemeinsamer Weg" hat sich zu drastischen Maßnahmen hinreißen lassen. Ihre Mitglieder sammelten die Bücher von Sorokin und anderen vermeintlichen Nestbeschmutzern auf dem Platz vor dem Moskauer Bolschoi-Theater ein und tauschten sie gegen Klassiker wie Bunin oder Tschechow. Sorokins Literatur sei dekadent, todessüchtig und selbstverliebt, anstelle das schöne und tugendhafte Leben zu befördern:
"In schlechter Literatur sterben die Helden nicht für ihre Überzeugungen, fürs Vaterland oder eine reine Liebe, sondern sie gehen an Drogen zu Grunde."

Sie strengten sogar einen Schauprozess gegen den Autor an, womit sie allerdings das Gegenteil erreichten, da sie den Bekanntheitsgrad von Autor und Werk auf diese Weise enorm steigerten. Doch ist "Ljod" tatsächlich der Pornografie zuzurechnen? Gewiss, Sorokin bewegt sich sprichwörtlich auf dünnem Eis. Er beschreibt Sexualität fast ausnahmslos als käufliche Ware, die im Rotlichtmilieu gehandelt wird. Und anders als die Bukowskis oder Roths wählt er nicht zärtliche oder ironische Wortwendungen für deftige Sachverhalte, sondern bedient sich des Vokabulars von medizinischen Atlanten oder Aufklärungsbüchern. Wo etwa findet man in der Unterhaltungsliteratur das männliche Geschlechtsorgan schlicht als Glied, das weibliche als Scheide bezeichnet?

Sorokins Fürsprecher haben für seinen Schreibstil den Begriff "drastischen Naturalismus" geprägt. In diesem provokativen Gestus schildert er nun zahllose sadistische Entwürdigungen, Fremderniedrigungen von Frauen und (indirekt) die Selbsterniedrigungen der Erniedriger, die sich ihr Dasein als Schieber, Dealer oder Zuhälter finanzieren.

Nein, Sorokin lässt sich zu keinen Gefühlswallungen hinreißen. Und eben diese Sachlichkeit scheint von vielen Rezipienten eher pornografisch eingestuft zu werden als schlüpfrige, aber augenzwinkernd-alberne Liebesszenen. Doch richtig, auch bei de Sade finden sich weniger hitzige Lobreden auf die Kunst des Erniedrigens, als vielmehr emotionslose Aufzählungen, die bezüglich der Rekombinierbarkeit körperlicher Öffnungen zu bloßen Rechenaufgaben entarten. Ein wichtiges Kriterium für Pornografie scheint demnach zu sein, wie unterkühlt sie sexuelle Emotionen darstellt.

Wenngleich sich derlei entwürdigende Szenen durchaus im Rotlichtmilieu zutragen könnten, moralisch hinterfragt werden sie von Sorokin ebenso wenig wie seinerzeit von dem verfehmten Franzosen. Allerdings hält Sorokin eine Alternative parat: Die Herzensbrüder und Herzensschwestern der geheimen Sekte. Sie haben keinen Geschlechtsverkehr, sondern liebkosen sich allein mit den Herzen, und nach und nach erlernen sie die 23 Worte aus der geheimen Sprache des Herzens:

"Eure Herzen haben sieben Tage geweint. Es waren Tränen der Trauer und der Scham über ein zurückliegendes totes Leben. Jetzt sind eure Herzen geläutert. Sie müssen nicht länger weinen. Sie sind bereit, in Liebe zu sprechen. Mein Herz wird den euren das erste Wort sagen – in der einzigen Sprache, die es gibt. Der Sprache des Herzens."

Was anfangs als goldene Alternative erscheint, entpuppt sich schnell als Farce (und das ist die einzige herbe Enttäuschung im Mittelteil des Werkes). Die Ideologie der Sektierer fußt auf einer esoterischen Lehre, die genauso gut aus einem der SF-Romanheftchen des Oberscientologen L. Ron Hubbard stammen könnte. Da wird munter von astralen Ursprüngen von 23.000 Seelen gefaselt, welche in den fleischlichen Hüllen der Menschen gefangen sitzen und befreit werden wollen, sowie von dem in Sibirien niedergegangenen Tunguska-Meteoriten, der paranormale Kräfte besitzt und mit dem sich die schlafenden Seelen der Auserwählten erwecken lassen. Weshalb der Himmelskörper nun zur Produktion von Eisäxten genutzt wird, Werkzeuge, mit denen die Sektenmitglieder versuchen, auch die übrigen der 23.000 Seelen zu wecken.

Doch bevor ich die metaphysische Bühne eröffne, möchte ich die erste Debatte abschließen. Sorokin wegen einer angeblich pornografischen Feder vor Gericht zu zitieren, ist allein schon deshalb übertrieben, da der Autor viel ausladender schildert, wie sich Menschen mit ihrem Herzen lieben, von Brustkorb zu Brustkorb, auf eine asexuelle Weise, die der pränatalen Mutter-Kind-Liebe mit ihren zauberhaften Herzschlagduetten stark ähnelt. Wer diesen Kontrast zwischen erotischer und seelischer Liebe verkennt und über die elegischen Gesänge auf die Herzensliebe hinwegliest, der sucht vermutlich nur die Provokation.

Richtige Debatte: Metaphysik

Über einen anderen Punkt aber würde es sich zu streiten lohnen: Die Ächtung des Sexuellen, die Abkehr vom Körper und die strikte, kompromisslose Hinwendung zu dem Spirituellen. Und schlimmer noch, eine Überhöhung der eigenen, privilegierten Seele sogar, welche sich anmaßt, kraft ihrer Herzensbegabung über die unbegabten Seelen zu richten, bzw. diese als unwert zu definieren und gegebenenfalls zu vernichten.

Sorokin erörtert in "Ljod" metaphysische Themen, führt dabei die Traditionen von Dostojewski ("Die Dämonen"), Belyj ("Peterburg", "Die silberne Taube") oder Bulgakow ("Der Meister und Margarita") fort. Allerdings spielt er nicht mit verdeckten Karten. Die Verschwörung selbst wird für den Leser transparent gemacht, anstelle mit immer neuen Andeutungen eine Erotik des Rätselhaften zu erzeugen, wie es die Verschwörungsliteratur seit jeher getan hat.

Auch reicht die Verschwörung in "Ljod" weit über die Grenzen Russlands hinaus – womit Sorokin sich Thomas Pynchon annähert, der in seinen Werken stets die Weltverschwörung thematisiert hat. Nur hat sich US-Amerikaner eher dem Okkulten verpflichtet und ist weit seltener auf das Erleuchtende zu sprechen gekommen (z. B. das kirgisische Licht in "Die Enden der Parabel"). Sorokin hingegen bevorzugt es, Illuminationen zu schildern, Erweckungserlebnisse, für die er hochpoetische Bilder findet.

Die Herzensbrüder und Herzensschwestern in "Ljod" verkulten ihr Erwähltsein und degradieren damit den Rest der Menschheit zu Untermenschen. Sie planen ihre Verschwörung anhand einer radikalen und exklusiven Lehre, folgen deren Absolutheitsanspruch und ordnen ihren Verstand bereitwillig der Doktrin unter. Ein Sektenprofil wie dieses ähnelt nicht nur den Weltuntergangs- und Weltneuordnungsvisionen etwa der Zeugen Jehovas, sondern sogar dem metaphysischen Weltbild der Nationalsozialisten.

Heute mag es in Deutschland üblich sein, im Faschismus vornehmlich die perfide bürokratische Durchführung des Holocaustes zu erkennen. Dadurch wird der Eindruck erweckt, das Regime hätte seinerzeit überwiegend auf die Bereiche Organisation und Effizienz Wert gelegt, das erlösungshungrige und durchaus heiße, gleißende Element des Faschismus aber (welches seine luzideste Ausdrucksform in dem an sich schönen deutschen Wort "Heil" findet) wird zumeist ignoriert. Statt eine kritische Analyse dieses Pathos zu versuchen, begnügt man sich mit einer bereits parodistisch anmutenden Horrorshow, was dann an Chaplins Film "Der Große Diktator" erinnert und die Emphase lediglich als lächerlich oder psychotherapiewürdig kennzeichnet.

Zwar spottete Robert Musil einmal ganz zurecht, "der sichtbar gestaltete Ausdruck hoher Zustände ist dem der Blödheit nicht unähnlich", aber ein hinreichender Grund, um das erlösungsheischende Element im Faschismus übergehen zu können, ist das nicht. Die Lichtspiele zu Nürnberg, die Fackelzüge durchs Brandenburger Tor, die groß inszenierten Johannisfeuer auf dem Lande machen deutlich, dass das Jahrzwölft des Nationalsozialismus nicht nur als finstere Zeit bezeichnet werden kann. Das, was die Ideologie der Faschisten in ihren Anhängern entfesselte, war vulkanisches Feuer und gleißendes Licht. Erst nach diesem Flächenbrand war tatsächlich alles vollständig eingeschwärzt: Eine Welt aus Ruß und Asche.

Es wäre an sich nicht nötig, auf diese heikle Lichtmetaphorik und Heilssehnsucht im Faschismus zu rekurrieren, gäbe es nicht eine gewichtige Parallele zu Sorokins Werk. So beschreiben etwa die "Erwählten" die Lichterscheinung, die sie bei ihrer Erweckung hatten:

"Die Welt schmolz TATSÄCHLICH, zerfiel in Atome, Elementarteilchen. Und unsere Körper schmolzen mit. Das war UNGLAUBLICH angenehm: eine einzige Erleichterung nach Jahrzehnten des Erdendaseins. Von uns blieb immer weniger – und plötzlich waren wir Strahlen von Licht"
oder
"Denn nur denen ist ein wahres Wohlergehen verhießen, die den Tod nicht fürchten, die ihn feiern als die Erlösung, die ihrer Erweckung mit Ungeduld entgegensehen, der Einleitung einer Neugeburt in anderen Welten. Wir alle glänzten auf einmal im Licht …"

Hinzu kommt die frappierende optische Zeichnung der 23.000 Erwählten: Wie ist zu deuten, dass sie alle ausnahmslos den Genotypus des Ariers entsprechen? Wie kommt Sorokin ausgerechnet auf den Mythos vom blonden, blauäugigen, engelshaften Lichtmenschen?

Anleihen beim Faschismus

Es ist gewiss kein Zufall, dass in "Ljod" ausgerechnet der Nationalsozialismus intensiv thematisiert wird. So beschreibt Sorokin ein russisches Dorf unter deutscher Besatzung auf eine Weise, die insbesondere in Russland sehr unbequem sein muss, wenn man bedenkt, dass zum Tag des Sieges am 9. Mai eine ganze Nation unter lautem Lamento ihre kollektive Katharsis begeht, ein Nationalfeiertag, der auch 60 Jahre nach Kriegsende unverzichtbar zu sein scheint.

Sorokin zeigt die deutschen Besatzer als ganz normale Menschen in Ausübung ihrer soldatischen Aufgaben, die sogar noch darangehen, die Infrastruktur verbessern:

"Aber die Deutschen sind da anders: Die lieben die Ordnung. Haben die also gleich als Erstes ihre Klohäuschen hingebaut und ihre Sitzbänke vors Haus, so als gedächten sie hier länger zu bleiben.( …)

Überhaupt war es mit den Deutschen ziemlich lustig. Eigentlich wundert einen das: Deutsche immerhin! Aber die hier waren anders. Zum Lachen. Wir hatten drei bei uns wohnen: Erich, Otto und Peter. ( …)

Komisch waren die! Alle schon an die Vierzig. Otto war dick, Erich klein mit Hakennase und Peter dürr wie eine Bohnenstange, weißblond, mit Brille. Das größte Stinktier von den dreien war Erich: ewig unzufrieden. Mach dies, bring das. Kein Wort zu viel, immer nur Grummeln. Außerdem furzte er für sein Leben gern. Furzend und grummelnd marschierte er durchs Dorf."

Bereits die Allerweltsnamen zeigen es deutlich: Hier treten nicht riesenhafte Siegfrieds oder Knuts auf, sondern normale Männer um die Vierzig. Und sie benehmen sich beileibe nicht wie Übermenschen oder Berufssadisten, sondern schäkern und blödeln, rülpsen und furzen, dass der Eindruck entstehen könnte, hier beschrieben Mallorciner die Horden von deutschen Touristen an ihren Stränden.

Die Hauptfigur im umfassenden zweiten Teil des Buches, ein blondhaariges Mädchen, wird von den Nationalsozialisten nach Deutschland verschleppt, wo es schließlich von Sektenmitgliedern mit dem Eishammer aufgeklopft wird. Auch in dieser Szene wird die ideologische Verbindung der Meteoritensekte zum Ariertum angedeutet.

Im Folgenden wird die Infrastruktur der Sekte geschildert, die transkontinental nach den verlorenen Seelen zu fahnden beginnt. Das wirklich Provokante an "Ljod" ist also keineswegs die Pornografie, sondern der Pathos vom Auserwähltsein, der Fanatismus von Gläubigen, die für ihre eigene Überzeugung sogar andere Menschen töten.

Resümee

"Ljod" lässt so manche Frage offen: Warum teilt Sorokin die Gesellschaft so kategorisch in zwei Klassen, nämlich die der Depressiven und die der Erleuchteten? Warum ignoriert er die breite Mitte, diejenigen, die man als normalen Durchschnitt bezeichnen kann? Ist es eine nicht zu bezähmende Lust am Provozieren? Ein Hang zum Extremen? Oder gar eine tiefe Sehnsucht nach Allmacht, die in dem Werterlösungs-Szenario eines Romans ersatzweise ausgelebt werden kann? Oder aber doch die verzweifelte, hypertroph dargestellte Liebe zur Echtheit des Herzens, ein Versuch, dem Gemüt im 21. Jahrhundert einen neuen Tempel zu errichten?

Selbst Sorokin gewogene Leser monieren das schale Gefühl, das von der Lektüre bleibt, da der Autor die menschenverachtenden Handlungen seiner Protagonisten nie auch nur ansatzweise relativiert. Hier bleibt jeder Leser tatsächlich mit seiner eigenen Moral allein. Eine fruchtbares, mitunter aber auch furchtbares Alleinsein.