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August 2003
Anne Hahn
für satt.org

Arabella Edge:
Der Unmensch

Aus dem Englischen von Heike Steffen
marebuchverlag, Hamburg 2003

Arabella Edge: Der Unmensch
348 Seiten, geb.
EUR 22,90
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Die süße Macht des Tötens

Ein Roman um den Apotheker Jeronimus Cornelisz von Arabella Edge

"Meine Kindheit hallte wider vom Flüstern der Stimmen. Die Dienstboten glaubten, ich sei vom Monde gezeugt, geboren im dreizehnten Monat. Wie die Ammen mich fürchteten …" Dies sind die ersten Zeilen eines atemberaubenden Romans, der seinen Leser in einen düsteren Sog zieht, ihn nicht ruhen lassen wird, bis das Schreckliche vollbracht ist.

Arabella Edge, in London geboren und einst Literaturdozentin in Bristol, erfuhr bald nach ihrer Übersiedlung nach Australien im Jahre 1991 vom Schicksal des Apothekers Jeronimus Cornelisz, der beim Untergang des niederländischen Flaggschiffes Batavia 1629 eine grauenvolle Rolle spielte. Das Schiff der niederländischen Ostindien Companie war im Oktober 1628 von Amsterdam aus in See gestochen, mit unermesslichen Schätzen an Bord, zwei Begleitschiffen und Soldaten zum Schutz der Fracht. Ziel war die niederländische Kolonie Batavia.

Vor der Westküste Australiens erleidet der Dreimaster zu Beginn des Jahres 1629 Schiffbruch, die Überlebenden werden mit dem Beiboot auf ein unbewohntes Eiland übergesetzt, der Schiffer, ein paar Matrosen und der Kommandant fahren mit selbigem Boot in Richtung Batavia weiter, um Hilfe zu holen. Der Apotheker bringt inzwischen, unbemerkt auf dem Schiff zurückgeblieben, seine Phiolen und Fläschchen mit allerlei wichtigen, heilsamen wie tödlichen Substanzen, in Sicherheit und beobachtet die Gestrandeten. Nachdem wir bis zum Schiffbruch die Geschichte des Protagonisten und Ich-Erzählers durch episodenhafte Erinnerungen erfahren, setzt nun eine tagebuchartige Aufzählung der Ereignisse ein. Ähnlich den Aufzeichnungen eines Marquise de Sadé beginnen die Kapitel mit der Erwähnung des angebrochenen Tages.

Am vierten Tag vertraut sich der Apotheker den Fluten an, um sich zu der in Sichtweite befindlichen Insel hinüber treiben zu lassen. Dort angelangt, wird er Dank seiner Intelligenz und rettend nützlichen Ratschläge bald zum Kommandanten der Insel ernannt und beginnt, seine teuflisches Regime zu errichten.

"Einzig und allein ich, Jeronimus, habe einen Plan. Einzig ich denke an die Zukunft, an das Schiff, das uns zur Rettung kommen und unsere Insel im Niedrigwasser sichten wird. Die Matrosen, die an Land rudern. Meine neuen Meuterer, wie sie die Musketen anlegen. Schnell, sauber, sicher. Wenn es vorüber ist, werde ich eine Uniform tragen, steif und gestärkt, von jungfräulichem Weiß, und ich werde einen Schiffer anmustern, der mich mit Hilfe der wandernden Sternbilder zur Elfenbeinküste segelt."

Jeronimus, von größenwahnsinnigen Plänen getrieben, reduziert die Zahl der etwa 150 Schiffbrüchigen durch die (angebliche) Besiedlung umliegender Eilande. Dazu ist die extreme Beeinflussung der Überlebenden nötig, eine Vorspiegelung von falschen Hoffnungen und eine machtvolle Position, die blinden Gehorsam abfordert. Immer tiefer verstrickt sich Cornelisz in die Höhenflüge der Macht, blendet Freund und Feind und betäubt sich und die Handvoll getreuer Jünger mit Gewaltorgien und Morphiumpfeifen. Wie er die Liebe der weißhäutigen und ewig misstrauischen Lucretia zu gewinnen versucht, rührt den Leser zunächst. Wie eine Königin quartiert der wahnsinnige Apotheker seine "Gattin" in der Kommandantenhütte ein. Doch die Verweigerung der Schönen hat entsetzliche Konsequenzen.

Was sich der Vorstellung des Menschen entziehen will, aber durch Jahrtausende hinweg in Extremsituationen des Terrors und der Diktatur vielfach exerziert wurde und wird, erzählt Edge aus der kranken und selbstverliebten Sicht des Apothekers. Sprachlich sehr gelungen und dramatisch sauber durchkomponiert, zieht uns das Buch zunächst auf die Seite des Mörders, verfallen wir dem Blut- und Machtrausch eines wahnsinnigen Erzählers. Schaudernd lesen wir von Exekutionen und Missbräuchen, von Schwalben, die ihre Schwingen durch die Gischt schlagen und etwas in den Schnäbeln tragen: "Eine Wolke von Seeschwalben steigt in Spiralen in die Luft. Anscheinend streiten sie um Fischeingeweide, die wie blassrosa Wimpel aus ihren Schnäbeln flattern. Ich kann nicht umhin, die erbarmungslose Pracht ihres Fluges zu bewundern. Sie kreischen und hacken aufeinander ein, während sie auf uns zufliegen. Ein zäher, blutiger Fetzen Haut plumpst in den Teller meiner Gattin. Bei ihrem Schrei fährt Wouter zusammen. Ich nehme den fleischigen Knorpel auf die Gabel. Bemerkenswert. Das Ohrläppchen, von einer einzelnen Perle durchstochen, ist unversehrt. Ich erinnere mich gut an sie, sie war mollig und weich wie Eva …"

Mit dem Erschrecken über die Blutgier, die zunehmende Entmenschung des Protagonisten, wächst die Angst um die Überlebenden auf dem südlichen Eiland. Wer wird es schaffen, dem Wahnsinn und der Wasserknappheit zu entkommen? Wird ein rettendes Schiff am Horizont erscheinen? Und Lucretia, die stolze Schöne, wird sie die Tortur überstehen?

Genug, lesen Sie selbst die unglaubliche und doch authentische Geschichte des Apothekers Cornelisz, die sich, will uns nach der Lektüre scheinen, nur so abgespielt haben kann, wie Arabella Edge sie tiefgründig schildert und wie Heike Steffen sie wunderbar und präzise übersetzt hat!