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16. März 2012
Jörg Auberg
für satt.org
  Miriam Bratu Hansen: Cinema and Experience. Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, and Theodor W. Adorno.
Miriam Bratu Hansen: Cinema and Experience. Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, and Theodor W. Adorno. Berkeley: University of California Press, 2012. 380 Seiten, Hardcover 70 US-Dollar, Paperback 29,95 US-Dollar, E-Book 29,95 US-Dollar.
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IN DEN KRIEGSZONEN DER MODERNISIERUNG

Miriam Bratu Hansen reflektiert die Beziehung von kritischer Theorie und Kino im digitalen Zeitalter

Kurz bevor sie ihren langen Kampf gegen den Krebs verlor, konnte die Filmhistorikerin Miriam Bratu Hansen ihr Buch Cinema and Experience über das Verhältnis von kritischer Theorie und dem Medium Film, mit dem sie sich zeit ihres Lebens beschäftigt hatte, fertigstellen. 1949 in eine Familie jüdischer Überlebender des Holocausts in Offenbach geboren, studierte sie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, wo sie mit einer Arbeit über Ezra Pound promovierte, ehe sie in die USA übersiedelte. Dort lehrte sie an mehreren renommierten Universitäten und beschäftigte sich in ihrem Buch Babel and Babylon (1991) mit dem Kinopublikum in der Zeit des Stummfilms,

Cinema and Experience, das Magnum Opus ihrer wissenschaftlichen Karriere, beschrieb sie als Versuch der Zwiesprache oder Konversation mit drei Hauptvertretern der »klassischen« Kritischen Theorie – Siegfried Kracauer, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno – in ihrer Auseinandersetzung mit dem Kino, das nicht allein aus künstlerischen Gründen einen dominanten Platz in der Kunst des 20. Jahrhunderts einnimmt. Im ersten Teil ihres Buches folgt sie den Spuren Siegfried Kracauers in den 1920er Jahren, als die Ausbildung einer amerikanisch geprägten Massenkultur die Oberflächenwelt der Weimarer Republik mit ihren »Lichtspielpalästen« bestimmte, der »Kult der Zerstreuung« die Auflösung einer umfassenden Erfahrung und eine zunehmende Unwirklichkeit der gegenwärtigen Wirklichkeit bewirkte und die monströse Massenornamentalik autoritäre Tendenzen in der deutschen Gesellschaft verstärkte. Für Kracauer war der Film ein »materieller Ausdruck« einer spezifischen historischen Erfahrung im Rahmen einer von fordistischen Produktionsweisen bestimmten zerstückelten Strukturierung der Realität, in der die Individuen »ein Leben in den Kriegszonen der Modernisierung« führten, wie es Hansen umschreibt. Kracauer verurteilte die Bilderflut und den Drang nach Zerstreuung keineswegs aus einer kulturkonservativen Perspektive noch erlag er einem unkritischen technologischen Fortschrittsoptimismus. Vielmehr betrachtete er es als Aufgabe des Intellektuellen, die Oberfläche als Denkfläche zu erfassen, die arbiträr zusammengewürfelten Dinge der Massenkultur zu sammeln, zu registrieren und zu archivieren, als »Lumpensammler« zu agieren, um schließlich eine Demokratisierung des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Lebens in Form einer individuellen Selbstbestimmung zu ermöglichen. Zugleich nahm er die Gefahr der Faschisierung der Gesellschaft wahr, in der das neue Heer der Angestellten zur willfährigen Beute der Vollstrecker des neuen autoritären Regimes wurde.

Im zweiten Teil wendet sich Hansen dem utopischen Moment zu, den das Kino in den 1930er Jahren zu repräsentieren schien, als Walter Benjamin in seinem bahnbrechenden Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« den Film als das fortgeschrittenste technologische Medium der Zeit darstellte und die Herausbildung einer kollektiven Subjektivität heraufbeschwor, obgleich sein eklektisches Filmwissen sich in erster auf die filmische Avantgarde der 1920er Jahre bezog. Die historische Erfahrung, die er in Künstlern wie Dziga Vertov oder Joris Ivens am Wirken sah, war zu dieser Zeit durch den Stalinismus abgeschnitten, und Hansen streicht die Fragwürdigkeit der Politisierung der Kunst heraus, die Benjamin als antifaschistisches Programm verstand. Zugleich weist sie auf die Bedeutung der Micky-Maus für Benjamin hin. Während in der nationalsozialistischen Propaganda diese Disneyfigur für die »Verniggerung« der deutschen Volkskultur stand, besaß sie für Benjamin subversive Züge. »Mickey Mouse sprach Benjamin als eine kosmische, transnationale, posthumane (oder posthumanistische) und vielleicht transsexuelle Fantasie an«, unterstreicht Hansen. Dennoch ist diese Figur in der Endfassung des Reproduktionsaufsatzes gänzlich verschwunden.

Für Adorno waren die Figuren aus der kapitalistischen Disney-Fabrik in erster Linie Mittel, um sadomasochistische Mechanismen der Massenkultur zu verstärken. Damit knüpfte er zum einen Kracauer an, der eine regressive Bewegung von der Rebellion zur Unterwerfung beschrieb; zum anderen reflektierte er Benjamins Denken in antithetischen Positionen, wobei ihm die Widersprüche in der Massenkultur (die bis heute in die digitale Medienkultur hineinwirken) nicht verborgen blieben. Leider ist der dritte Teil über Adorno der schwächste Teil in Hansens Versuch der Konversation, denn hier wiederholt sie lediglich Diskussionen, die in den 1980er Jahren in Zeitschriften wie Telos oder New German Critique geführt wurden und sich als fruchtlos erwiesen. »Aus jedem Besuch des Kinos komme ich bei aller Wachsamkeit dümmer und schlechter wieder heraus«, notierte Adorno in seinen »Reflexionen aus dem beschädigten Leben« (Minima Moralia, 1951). Auch wenn seine Auffassung zum Film kaum so eindimensional, wie ihm seine Gegner gern nachsagen, hatte er dennoch nicht viel für dieses Medium übrig. Der Versuch Hansens, aus verstreuten Stellen in der Dialektik der Aufklärung, der Ästhetischen Theorie und einzelnen Essays der 1960er Jahre eine kohärente Filmästhetik Adornos zu konstruieren, ist zwar aller Ehren wert, doch versucht diese Art der »Konversation« dem Kritiker ein Denken überzustülpen, gegen das er sich wohl selbst verwahrt hätte. Schon Leo Löwenthal hatte sich in der Verteidigung seines Freundes Adorno gegen den zudringlichen »Charakter talmudischer Auseinandersetzungen« gewendet, mit der sich ehemalige Schüler dem Werk des Lehrers näherten.

Im letzten Teil ihres Buches beschäftigt sich Hansen schließlich mit »Kracauer im Exil«, wobei sie dessen Werk Theorie des Films (1960) aus der Entstehungsperspektive beschreibt. Als Kracauer in Marseille auf seine Passage in die USA wartete, überbrückte er die Wartezeit mit seinem »Filmprojekt« im Angesicht des Todes. Anders als Walter Benjamin konnte Kracauer dem Untergang entfliehen, bezahlte aber sein Projekt zur Errettung der Wirklichkeit mit dem Spott der Kritiker wie Pauline Kael, die ihn ob seiner »germanischen Pedanterie« verhöhnte, während ihm Filmwissenschaftler wie Dudley Nichols einen naiven Realismus vorwarfen. Etwas abrupt endet Hansens Buch mit der – aus heutiger Perspektive – historisch wirkenden Theorie des Films, wobei sie auch nicht die Veränderung in Kracauers Schreibweise – vom offenen, kritischen Ton der Feuilletontexte zur geschlossen, akademisch wirkenden Form der Spätwerke – thematisiert. Zudem schien sie der Bedeutungstiefe der englischen Sprache zu misstrauen: Oft verwendet sie die ursprünglichen deutschen Begriffe, um schließlich nach einer adäquaten englischen Bedeutung zu suchen. Beispielsweise wird in den Übertragungen der deutsche Begriff »Stehkragen-Proletarier« mit dem englischen Ausdruck »white-collar worker« übersetzt, wobei jedoch das autoritäre Moment des deutschen Exemplars verloren geht. So ist das Buch auch in seiner sprachlichen Reflexion – trotz einiger Abstriche – ein herausragender Beitrag zur kritischen Theorie im digitalen Zeitalter.