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April 2001
Anne Hahn
für satt.org


Wirklichkeit gehört allen
Ein Protokoll von Anne Hahn.

Am 6.3. 2001 auf den Berliner Seiten der F.A.Z. veröffentlicht

Wirklichkeit gehört allen

Achtundsechziger treffen Neunundachtziger: Die Theorienbildung der Gegnergemeinschaft erreicht einen neuen Höhenpunkt


Ein Geheimtip ist das „Kaffe Burger“, das Lokal des Dichters Bert Papenfuß in der Torstraße, schon lange nicht mehr, aber immer noch finden dort Zusammenkünfte statt, die in ihrem anarchosyndikalistischen Gestus die Zeiten souverän zu überspringen scheinen. Wir dokumentieren in Auszügen das Protokoll der jüngsten dieser Sitzungen aus der vergangenen Woche, in der Bernd Rabehl auf Uwe Radloff und andere Linke aus dem Osten traf. Anlaß war ein Aufsatz Radloffs in der Ost –Berliner Monatsschrift „Gegner“ (vormals „Sklaven“ respektive „Sklavenaufstand“) über die „Stagnation in der Zukunftsplanung unserer Gesellschaft“.

Uwe Radloff liest eingangs aus dem GEGNER- Artikel zur Sozialismus -Frage, zitiert die Ansicht des Kultursoziologen Wolfgang Engler; des absoluten Fehlens einer Chance, „geschweige denn einer Möglichkeit für neuerliche Sozialismusexperimente“ und stellt Rabehl als Protagonisten einer Zeit vor, in der versucht wurde, innerhalb der BRD das gesellschaftliche System in Richtung DDR zu verändern. Frage: „War es richtig, dass damals versucht wurde, die BRD zu verändern?“

Bernd Rabehl berichtet ca. 10 Minuten von den Auffassungen der Antiautoritären im SDS, vom Vietnamkongress des Jahres 1968 und propagiert das „das Recht auf Faulheit“ Paul Lafargues, schließlich fragt er „Woran sind wir damals gescheitert?“- und antwortet; „an Verschwörung, an Dämonie, …an Organisationsproblemen …“

Zwischenruf eines erregten jungen Mannes: „Das Christentum ist eine Kampfvariante des Judentums!“

lautes Stimmengewirr, Michael Stein (u.a. Reformbühne) tritt ans Mikrofon: „ich bin für Sicherheit zuständig heute Abend und bitte darum, erst mal zuzuhören!“

Radloff: „ …es ist ja in diesem unserem Lande so, dass jeder, der Arbeit hat, etwas wert ist, und alle anderen über ihren Wert nachdenken sollten. Da sieht die Zukunft doch so aus, dass es keine Zukunft gibt!“ Lachen im Saal

Rabehl: „ich glaube, mein Beitrag zum Recht auf Faulheit wird etwas missverstanden, es geht eigentlich um andere Denkweisen, um Alternativen, die die Wirklichkeit überlagern könnten …“

Zwischenruf des aufgewühlten jungen Mannes: „Wirklichkeit gehört allen! Vor allem den Faulen und Arbeitslosen!“

Radloff: „na wir, wie wir jetzt hier sitzen, haben wir keine große Perspektive, es sei denn, das Bier geht aus. Aber wir suchen doch eine Perspektive, eine Möglichkeit, die Gesellschaft zu verändern.“

Zwischenruf des gereizten jungen Mannes: „Schwule sollen mir nicht die Welt erklären!“

der Sicherheitsbeauftragte Stein tritt ans Mikrofon: „also, das war jetzt nicht korrekt, wir könnte uns natürlich fragen, sind besonders viele Schwule dumm? Aber das ist wohl ein Thema für einen anderen Abend!“

Klaus Lederer, Stellvertretender Bezirksvorsitzender der PDS in Großpankow, „ich bin schwul, das will ich jetzt mal sagen, und dir,“ zeigt auf den Zwischenrufer „dir hau ich gleich in die Schnauze!“

aufgeregtes Gemurmel, Bert Papenfuß, schreibender Wirt des Burger, weist den Zwischenrufer in die Schranken

Frage einer jungen Frau: „gab es beim Vietnamkongress 1968 Berührungspunkte mit dem „17. November?“

Rabehl: „wir haben damals den Zusammenbruch des Kapitalismus erwartet, einen Bürgerkrieg … Erich Fried las Gedichte vor … Dutschke wollte eine revolutionäre Gruppe aus SDS herausbrechen. Das Attentat auf ihn geschah nicht zufällig, Bachmann hat im Auftrag gehandelt, danach fiel der Laden auseinander. Wenn der Führer herausgeschossen wird, geht der Streit ums Erbe los, das war die Sternstunde für RAF und 2.Juni. Das war die Spaltung -Denunziationen nahmen ihren Lauf, es gab nie wieder eine Einheit, keiner hörte mehr zu, wie man ja auch heute Abend merkt …“

Radloff: „aber ich komme noch mal auf unsere Ausgangsfrage zurück, wie siehst du die Möglichkeit, zu verändern?“

Rabehl: „ich bin alt geworden über den Streit Marx - Proudhon, in der historischen Auseinandersetzung hat Proudohn Recht behalten. Wenn man heute über Sozialismus nachdenkt, sollte man mit Proudhon anfangen, seine Grundgedanken aufgreifen, am Arbeitsprozess beginnen, die Verwahrlosung des Denkens, der Sprache beachten! Man sollte die Gesellschaft über Solidarität verändern, gemeinsame Genossenschaften gründen, an anderen Orten wirken, nicht in der Schule, nicht in der Kneipe.“

Zwischenruf des aufgedrehten jungen Mannes: „die Realität der Ausrottung besteht darin, dass sie existiert!“

Zwischenruf eines lauten Mannes: „ich habe Rabehl in der U-Bahn getroffen, und der wollte mir auf die Fresse hauen!“

Zwischenruf Stein: „hier kriegt niemand was auf die Fresse!“

Rabehl: „ich gebe mich nicht mit dem Mob ab, das weiß jeder.“

Zwischenruf: „aber die Danubia- Rede, ja, ja.“

Papenfuß: „ich habe eine Frage für die Antwort danach. Du hast Rabehl reden lassen, jetzt rede du doch mal!“ weist mit dem Arm auf Uwe Radloff

Radloff: „ich habe den schwarzen Peter, o.k., lasst uns sachlich sein.“

Zwischenruf eines Studenten: „mein Freund schreibt seine Diplomarbeit bei Bodenschatz über ihn! …“ weist mit dem Finger auf Rabehl „ …dieser Sozialdarwinist!“

Zwischenruf: „ was hast du denn für Freunde.“ Lachen

Klaus Schmidt: „na du bist ja ekelerregend dumm.“

kurze Ansprache eines Mannes im Wollpullover: „es gehört Mut zur Feigheit, eh, zur Faulheit mein ich, viele sind zu feige, faul zu sein. Horst Mahler ist ein Eiferer, solche Leute interessieren doch nicht!“

Radloff: „das ist nicht meine Wunschdebatte, Partei ergreifen heißt gleich Eiferer sein, aber man soll nicht die Debatte mit Andersdenkenden meiden!“

Zwischenruf: „dann unterbrich ihn nicht, wir sind hier, um uns zu amüsieren!“

kurzes heftiges Wortgefecht, Schlusswort ist nicht zu verstehen, DJ Henrik Gericke legt sehr laut die Sex Pistols auf, god save the Queen