Die my Love
(Lynne Ramsay)
Originaltitel: Die my Love, Kanada 2025, Buch: Enda Walsh, Lynne Ramsay, Alice Birch, Lit. Vorlage: Ariana Harwicz, Kamera: Seamus McGarvey, Schnitt: Toni Froschhammer, Musik: Raife Burchell, Lynne Ramsay, George Vjestica, Production Design: Tim Grimes, Art Director: Amanda Nicholson, Kostüme: Catherine George, mit Jennifer Lawrence (Grace), Robert Pattinson (Jackson), Sissy Spacek (Pam), LaKeith Stanfield (Karl), Nick Nolte (Henry), 118 Min., Kinostart: 13. November 2025
Meine Herangehensweise an diesen Text (und damit an den Film) ist sehr individuell. Es geht mir darum, mein erstes (langsames, stückweises und keineswegs komplettes) Begreifen des Films zu schildern. Ohne dabei alles auszuplaudern. Gleichzeitig werde ich darüber hinausgehen, indem ich auch schildere, was ich bei der späteren Rezeption der Romanvorlage noch zusätzlich herausgefunden habe (oder auch nicht). Und wie die Umsetzung des Buchs in einen Film Probleme aufbrachte, die man filmspezifisch angehen musste. Dabei kommen dann auch Vermutungen auf, wie das den Stoff verändert hat. Manches mag auf der Strecke geblieben sein, anderes war vielleicht eine (positive?) Ergänzung, im Kern beschreibe ich aber ein Mischwesen zwischen Film und Roman, mit Überlappungen und Auslassungen.
Ich würde nicht empfehlen, sich den gesamten Text hochaufmerksam schon vor Sichtung des Films einzuverleiben. Lest so lange, bis ihr das Gefühl habt, dieser Film klingt für eure individuellen Erwartungen an ein Filmerlebnis interessant. Gebt dem Film aber noch die Chance, seine eigenen Zauber auf euch wirken zu lassen (falls ihr den Roman schon kennt, seht ihr ohnehin einen ganz anderen Film, als ich es tat). Nach dem Film könnt ihr dann gerne den Text zuende lesen, und vielleicht erfahrt ihr dadurch mehr, vielleicht wollt ihr dann den Roman auch noch lesen. Und es kann auch sein, dass ihr andere Theorien habt als ich. Es geht hier nicht darum, wer mehr und / oder besser verstanden hat, sondern um das immersive Erlebnis, das man aber nach dem Film noch erweitern kann.
Der Film beginnt damit, dass ein junges Paar (Jennifer Lawrence als Grace, Robert Pattinson als Jackson) in ein älteres holzlastiges Haus auf dem Land (USA) einzieht. Die Kamera behält längere Zeit den Blick einer architektonischen Hausachse bei (man sieht immer wieder einen Gang, der durch ca. drei größere Räume zur Haustür hinführt, durch die die beiden das Haus betreten haben) und man bekommt ein Gefühl dafür, wie die beiden sich mit dem Haus vertraut machen.
Dann kommt unerwartet harte, laute Metal-Musik und man sieht einen nächtlichen Wald, der sich offenbar eigenmächtig entzündet. Zur Metal-Musik gibt es jetzt eine Sexszene (vielfältige mentale Verknüpfungen sind hier möglich), dann wieder der brennende Wald - und zu diesem kleinen audio-visuellen Inferno wird der Filmtitel Die my Love eingeblendet. Dann wieder ausgelassene Stimmung und Wackelkamera bei der häuslichen Leidenschaft des Paares.
So wird den Zuschauenden mal kurz der Boden unter den Füßen weggezogen, man weiß, das muss alles etwas zu bedeuten haben, aber zumindest hat man ein erstes Gefühl dafür, dass in diesem Film schreckliche Dinge geschehen könnten.

Foto: Kimberly French © MUBI. All rights reserved.
Es folgt dann eine schnelle Abfolge, die (nebenbei, aber deutlich) zeigt, dass das Paar mit einem Sohn beschenkt wird. Jennifer Lawrence ist erst noch schwanger, dann taucht das Baby auf, und man feiert, dass es ein halbes Jahr alt ist. Hierbei erkennt man, dass Grace sich seltsam benimmt. Mal zieht sie wie in der berühmten Szene aus Gladiator durch ein Feld, lässt aber nicht ihre Hand über die Pflanzen wandern, sondern ein bedrohlich wirkendes Messer. Sie legt sich auf dem Boden und masturbiert, sticht mit dem Messer in die Erde, und lässt es unangenehm nahe neben dem Kleinkind liegen. Dann singt oder tanzt sie mit bei einer von einer wohl von Alvin & den Chipmunks intonierten Fassung von Let's Twist Again. Gracies depressive Grundstimmung zeigt sich auch in ihrer Feststellung zur für die Halbjahres-Party gekauften Torte: "It's too sweet, a real mum would have baked a cake (herself)".
Nach dieser Vorstellung des jungen Paares macht der Film einen zeitlichen Sprung zurück, der mir nicht sofort bewusst war. War ich nicht aufmerksam genug gewesen? Ich weiß es nicht. Aber weil ich vorerst keinen Grund sah, wieder zurück in der Zeit zu springen, spielte ich eine Zeitlang mit dem Gedanken, dass Grace und Jackson vielleicht ein zweites Kind bekommen haben, und die Erzählung das verschwundene ältere Brüderlein irgendwie elliptisch außen vor lässt (was auch irgendwie spannend, aber auch ein bisschen krank wäre).
Doch dann begriff ich, dass der Grund für die zweite "Erzählrunde" war, dass man zunächst nichts über die Hintergründe von Gracies Verhalten erfuhr, und das jetzt nachgeholt wird. Das ist auch eine Möglichkeit, bei den Zuschauenden erst größeres Unverständnis und dann eine langsam einsickernde Erkenntnis entstehen zu lassen.
Wobei da keinesfalls vorgegeben ist, wer aus dem Publikum sich wie weit hinter Grace stellt. So wie die Figuren im Film unterschiedlich verständnisvoll auf Grace reagieren, so lässt auch der Film eine kontroverse Spaltung des Publikum zumindest zu.
Dass Grace ein Problem hat, ist offensichtlich. Aber vielleicht sind es auch mehrere. Die postnatale Depression wird thematisiert, die Langeweile, die daraus resultiert, dass ihr Mann sie für lange Strecken allein lässt, und die sich ums Kind, die Haushaltsführung und schließlich auch noch um einen jungen Hund, der ebenfalls erzogen werden muss, kümmern soll.

Foto: Seamus McGarvey © MUBI. All rights reserved.
In Matate, Amor, der Romanvorlage der Argentinierin Ariana Harwicz (die ich in deutscher Übersetzung las, weil ich nach einem Gespräch mit einer aufgeweckten Agenturdame das Gefühl hatte, das Buch habe eine sehr lyrische Herangehensweise, bei der mir meine Muttersprache trotz erfolgreichem Englischstudium dienlich sein könnte) haben die Figuren keine Namen, die Frau ist die Erzählerin, und das ganze spielt wohl in der französischen Provinz, die Frau stammt aber woanders her. Ich kann kein Spanisch, aber ich fragte mich schon hier und da, inwieweit die gerade geschilderten Details im Original vielleicht deutlicher klar werden, wenn ich einen Großteil davon nicht auf der Buchrückseite gelesen hätte, wäre mir einiges womöglich sehr verspätet oder gar nicht klar geworden. Ich mag deshalb aber nicht die deutsche Übersetzung kritisieren (vielleicht gab es französische Sprachbrocken, die einfach ins Deutsche übertragen wurden), denn ich habe auch schon Bücher wie William Faulkners The Sound and the Fury oder Alan Moores The Voice of the Fire gelesen, bei denen man sich das Verständnis als Leser hart erarbeiten musste.
Dass die Erzählerin hier quasi das Buch selbst geschrieben hat, ist selbsterklärend, und wenn das, was sie erzählt, irgendwie seltsam ist, erkennt man beim Lesen, dass sie mindestens das ist, was man einen "unreliable narrator" nennt. Abgesehen vom Thema der postnatalen Depression, das in Buch wie Film klar thematisiert wird, kann man an manchen Stellen darüber nachdenken, was sie irgendwie falsch darstellt (oder sich Dinge falsch zusammenreimt), wo sie eher Träume oder Halluzinationen schildert... oder sie in ihrer Funktion als Autorin etwas fiktivisiert. Das sind einfach Möglichkeiten dieser Erzählerfigur, die manchmal auch in die Perspektiven anderer Figuren schlüpft.
Im Film gibt es keinen voice-over oder ähnliches, wodurch die Erzählerfigur nicht auf ähnlich direkte Weise definiert wird. Aber auch ohne Lesen des Romans begreift man im Film, das irgendwie die Sichtweise von Grace gezeigt wird (auch, wenn es mal Szenen gibt, in denen sie nicht zu sehen ist). Was im Film hinzugefügt wird, ist das Thema der "Great American Novel", eines bekannten Mythos unter Romanautoren. Wer die Schriftstellerei ernst nimmt, der will auch irgendwie einen (US-)Roman verfassen, der längerfristig eine Rolle spielt. So was wie Moby Dick, Gone with the Wind, To Kill a Mockingbird oder Catcher in the Rye. Natürlich gelingt das den wenigsten, aber auch Grace verfolgt diese Ambitionen (das abgelegen liegende Haus soll ihr vermutlich auch dabei helfen). Doch schon schnell wird klar, dass man sie nicht schreiben sieht, und sie bekennt auch freimütig, dass sie dieses Ziel nicht mehr verfolgt.
Unabhängig davon kann man Grace aber auch im Film wie eine Autorin hinter der Filmerzählung sehen, das wird im Verlauf des Films immer deutlicher. Schon die Szene mit dem brennenden Wald will dem Publikum ja irgendwas mitteilen, und ich finde, dass man dahinter nicht nur die Regisseurin oder Ariana Harwicz vermuten kann, sondern auch die Hauptfigur im Film, um die sich ja auch alles dreht.
Wo Film und Buch hier für mich verschmelzen, ist zum Beispiel der Zeitsprung im Film, der mich anfänglich verwirrt hat (man begreift dann auch, dass nicht alles klar chronologisch erzählt wird, Grace ist unglücklich und erinnert sich an frühere, vermeintlich glücklichere Momente, die sie mit prägten). Im Buch, das keine Kapitel, aber durch fünf, sechs Leerzeilen erkennbare Sinn-Abschnitte hat, beginnt einer davon mit diesen Worten:
"BEI MEINER LETZTEN ERINNERUNG an die Schwangerschaft ist es Weihnachten, die ganze Familie meines Mannes, aus noch verloreneren Käffern wie diesem gekommen, ist da." (S. 18)
Der Zeitsprung ist also, unabhängig davon, wie durchdacht ich ihn als Filmkniff eingeschätzt habe, 1:1 so im Buch vorhanden. Eine andere Stelle, die ich auch aus dem Beginn des Film beschrieben habe, ist im Buch deutlich vielsagender. Das Buch beginnt so:
"ICH LEGTE MICH AUF DAS GRAS zwischen umgestürzten Bäumen, und die Sonne, die auf meiner Handfläche brannte, gab mir das Gefühl ein Messer zu halten" (S. 5)
Etwas später heißt es dann:
"Die Sonne wirft den silbrigen Reflex des Messers in meiner Hand zurück und blendet mich." (S. 7)
Und dann
"Ich lasse das Messer auf der versengten Wiese liegen, ich hoffe, dass es, wenn ich es finde, nach einem Seziermesser, nach einer Feder, einer Nadel aussieht." (S. 7)
Im Film ist das Messer eine klare Gefahr für jedes Mitglied der kleinen Familie, wenn es vielleicht zwei Meter neben dem Kleinkind achtlos liegengelassen wird, ist nicht völlig ausgeschlossen, dass das Kind da hinkrabbelt und sich verletzt, wodurch Grace ihre Mutterpflichten grob verletzt.
Im Buch ist das Messer mehr eine Idee, aber dabei genau so gefährlich. Wenn die Erzählerin sich so ein Messer imaginiert und es quasi wo ablegt, wo sie es wieder aufnehmen kann, dann weiß man nicht sicher, ob es das Messer jetzt vielleicht doch gibt, aber man weiß, dass die Person, die mit einem, ob imaginiertem oder realem, Messer, ihrem Mann und Sohn auflauert, dabei aber harmlos wirken will (so wird es im Kern beschrieben, ich kann ja nicht das ganze Buch abschreiben), selbst dann gefährlich ist, wenn sie aktuell kein Messer in den Händen hält. Denn es ist ja nicht so schwer, sich entsprechendes zu besorgen.
Auffallende Unterschiede zwischen Buch und Film sind der Spielort (beides rückständige Gegenden, in denen Leute wohnen, die Schrotflinten besitzen) oder der Umstand, dass im Film fast alle Figuren Namen haben, während es im Roman die Schwiegermutter, den Nachbar oder den "Gatterich" gibt (ein Suizid in der Familie von Jackson wure im Roman nur von einem Nachbarn vollzogen, die außergewöhnliche Methode bleibt aber die selbe). Prägender finde ich z.B., dass die Erzählerin im Roman offensichtlich von hoher Bildung ist, und in der Familie, in die sie einheiratete, niemanden hat, mit dem sie sich auf diesem Level unterhalten kann (was auch zu ihrer allgemeinen Frustration, dass sie jetzt als Hausfrau und Mutter "funktionieren" soll, beiträgt). Jennifer Lawrence ist durchaus kein Dummchen, aber diese Nuance der Original-Figur geht verloren, abgesehen von der (reichlich unbestimmten) Great American Novel findet man nicht mal ansatzweise etwas in dieser Richtung.

Foto: Kimberly French © MUBI. All rights reserved.
Mal zurück zum Film. Ein schöner wiederkehrender Punkt, bei dem man sich nicht sicher sein kann, wie viel Grace imaginiert - und inwiefern sie vllt. auch Sachen erkennt, die man ihr immer wieder ausreden will, ist ihre Eifersucht. Sie sitzt mit dem Kind zu Hause, Jackson fährt jobmäßig übers Land. Einmal gibt es eine Szene, wo sie mit ihm telefoniert, während er in einer Raststätte ist. zwischen den beiden wird hin und her geschnitten, auf Jacksons Seite sieht man auch eine Kellnerin, die ihn anspricht, mit Worten, die man falsch auslegen könnte. Sofort sieht Grace vor ihrem geistigen Auge, wie Jackson sie mit dieser Kellnerin betrügt. Was dem Filmwissenschaftler mit viel Erfahrung mit dem Thema "unreliable narrator" an dieser Stelle auffällt: Grace kann die Kellnerin nicht durchs Telefon sehen, die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Person kennt, erscheint ungeheuer unwahrscheinlich, aber beim imaginierten Seitensprung (ich sehe keinen Grund für eine andere Interpretation) weiß Grace quasi, wie diese Kellnerin aussieht.
Der Film schult einen im Grunde darauf, dass man auf solche Details achtet.
Mehrfach im Film spricht Grace Jackson auf scheinbar immer wieder frische Kondompackungen im Handschuhfach an. Jackson erklärt, dass die einem (nie eine Rolle spielenden) Freund gehören, mit dem er sich quasi die Nutzung des Autos teilt.
Eine Sache, die ich im Film besser finde als im Buch, ist ein mysteriöser Motorradfahrer, der öfters das haus umfährt, wenn Grace allein zu Hause ist. Die beiden treffen sich dann auch, aber ich interpretiere diese Figur eher als imaginiert. Oder als ein Narrationsteil mit Traumlogik (zu Uni-Zeiten habe ich auch mal Freuds Traumdeutung mit den Fachbegriffen der Verschiebung und Verdichtung* gelesen, die hier gut passen). Im Film gibt es einen drastischen Autounfall mit einem Pferd, das sich dann aufrappelt und weggaloppiert. Die selbe Szene gibt es auch im Buch, aber da erlebt man den Unfall nicht so extrem brutal, die Filmszene wirkte auf mich irreal. Mit dem Motorradfahrer gibt es eine Szene, wo Grace der bisher eher fremden Person aufträgt, sich ein Messer ins Gesicht zu stechen, was dieser auch macht. Pferd wie Motorradfahrer haben dadurch eine ähnliche Verletzung, beide sind viril, schwarz, stehen für Geschwindigkeit, für mich bot sich da die Interpretation an, dass beide miteinander zusammenhängen.
*Zu Uni-Zeiten hatte ich mir den Freud preiswert in einer englischsprachigen Ausgabe besorgt, wodurch die Fachbegriffe mir nicht so vertraut sind. Er spricht ja zum Beispiel auch vom "Unbewussten", was heutzutage aber oft zum "Unterbewussten" wird. Auf Englisch isset glaube ich "subconcious", das fordert dann manchmal, wenn man mit Wissen statt Halbwissen angeben will, aber die selben Fehler macht wie die Halbwissenden.
Den Motorradfahrer gibt es auch im Roman, da wird er nur nicht so deutlich visuell eingeführt und ist eher ein Nachbar, der auch eine größere Rolle spielt (selbst, wenn die zum Teil auch imaginiert sein könnte). Eine Kindheitserinnerung, die auch (etwas anders) im Buch auftaucht, erzählt im Film von einem Tag am Stand, als die sehr kleine Grace einfach mit einem etwas größeren Mädchen mitgegangen ist und dann vermisst wurde (Grace fand's aber toll). Im Film gibt es mal eine Szene an einer Tankstelle oder Raststätte, wo eine andere Minimalfamilie mit einer gehbehinderten Tochter auftaucht und es eine minimale Interaktion mit Grace und Jackson gibt. Irgendwie sieht der Familienvater aus wie der Motorradfahrer, und die Tochter erinnerte mich an das etwas ältere Mädchen. Das gab in Sachen Traumlogik für mich alles perfekt Sinn. Dass der Nachbar im Roman auch eine Frau hat, macht das im Nachhinein etwas kaputt, aber für mich sind der Motorradfahrer im Film und der Nachbar im Roman irgendwie klar unterscheidbare Figuren, egal, wie viele Szenen mit dem Kerl auch schon im Roman vorkommen. Im Film wird daraus trotzdem etwas ganz anderes.
Ich könnte noch viel über den Roman sprechen, über die Schwiegermutter, die Obsession mit der Glastür, den Hund. Ich will das Buch gar nicht klein reden, aber es gibt im Film viele tolle Ideen, die Dinge aus dem Buch leicht anders drehen, und der Film wurde durch die Buchlektüre für mich nur noch besser. Es gibt auch Details im Film, die ich nicht im Ansatz zurechtdeuten kann, aber das ist völlig in Ordnung.
Dieses Zwischending zwischen Konfetti und Lametta, das man aus TV-Shows kennt, aber auch oben im ersten Bild sieht, taucht bei der Hochzeitsfeier von Jackson und Grace auf. Ich mag mich irren, aber in drei Szenen ist es einmal rot, einmal golden und einmal bunt. Solche Indizien helfen einem, vieles im Film zu hinterfragen und auf mehr zu achten.
Eine ganz seltsame Szene zeigt Grace zum Beispiel, wie sie mit dem Kinderwagen eine Straße entlang wandert. Am Straßenrand steht ein Trailer / Wohnwagen, an dem sie unmittelbar vorbeigeht, und der sich bewegt, als hätte drinnen gerade jemand Sex. 20 Minuten später taucht der Wohnwagen noch mal auf, die Tür steht offen, und auf einer Tafel wird für "Tarot Reading" geworben. Bei solchen Kleinigkeiten kann man drüber nachdenken, ob und was sie bedeuten, ob die Regisseurin und ihre zwei Co-Autorinnen (darunter Alice Birch, die auch an Lady Macbeth mitarbeitete) damit etwas Konkretes aussagen wollten, oder ob sie alles einfach etwas geheimnisvoller machen wollten.

Foto: Kimberly French © MUBI. All rights reserved.
Eine Kernthese zum Film, die ich bereits direkt nach dem Film geäußert habe, und hier noch mal aufgreifen will, betrifft ein Notizbuch, das Grace mit sich herumträgt. Dass dies außen illustriert ist mit den Einzelbildern eines galoppierenden Pferdes, die Eadweard Muybridge mal im späten 19. Jahrhundert aufgenommen hat (beim Filmstudium gehört das zum Standardwissen), ist offensichtlich kein Zufall. Das Notizbuch ist zum einen einer der zwei visuellen Verweise auf Gracies Schriftstellerambitionen, man kann es aber auch als mögliche Inspiration für die Pferdeszenen sehen. Zum dritten deutet das Notizbuch zumindest an, dass Grace vielleicht so bewandert in Kunstgeschichte ist wie die Erzählerin im Buch. Und es unterstützt meine Theorie, dass man analog zur Erzählerin als Autorin Grace auch als "Regisseurin" des Films sehen kann (natürlich implementiert durch die eigentlichen FilmemacherInnen).
Zum Abschluss will ich noch ein Element erwähnen, dass die Regisseurin im Medium Film sehr gut eingesetzt hat, um den Buchinhalt noch zu erweitern und zu intensivieren. Das sind die Songs, die im Film vorkommen. Es gibt einen kleinen Streit zwischen Jackson und der nach und nach ihre eigene Stimme durchsetzenden Grace, was die Vor- und Nachteile von Gitarrenrock gegenüber klassischer Musik angeht (noch ein gut versteckter Hinweis auf Gracies Bildungshintergrund). Was die beiden aber sehr verbindet ist das Duett, das sie auch zu ihrem Hochzeitslied gemacht haben: "In Spite of Ourselves" von John Prine und Iris Dement, ein eigentümliches Lied über die Stärke einer Partnerschaft trotz gewisser Macken beider Partner.
Hier zwei schöne Textpassagen, die jeweils von ihr bzw. ihm gesungen werden:
"He ain't got laid in a month of sundays.
Caught him once and he was sniffin' my undies."
bzw.
"She thinks all my jokes are corny.
Convict movies make her horny"
Dieser Song sagt auch viel darüber, wie Jackson seiner Frau beisteht, obwohl er eigentlich nicht versteht, was in ihr vorgeht.
Über Grace und ihre Welt sagt eine Szene viel aus, die einen Waldspaziergang mit "Little April Shower" unterlegt, dem bekanntesten Song aus Disneys Bambi, der hier romantische Naturklischees evoziert, die schön einen culture clash entstehen lassen zur Art, wie Grace sich teilweise "wider der Natur" benimmt (bzw. halt einfach ihre eigene Natur auszuleben versucht).
"Kooks" von David Bowie und "The Clapping Song (Clap Pat Clap Slap)" von Shirley Ellis sind zwei weitere prägnante und gut ausgesuchte Songs. Im Nachspann läuft sogar eine Version von Love will tear us apart, die Lynne Ramsay selbst singt. Zu diesen Titeln habe ich jetzt aber keine durchdachte Interpretation im Umfeld der Szenen, in denen sie gespielt werden, die ich aus dem Hemdsärmel zaubern kann.
Dieser Text ist schon viel zu lang geworden (und ich hatte noch einiges wieder rausgekürzt), als Unterstützung von Gesprächen über diesen sehr interessanten Film sollte es genügen.