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17. Juni 2019
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Measure of a Man (Jim Loach)


Measure of a Man
- ein fetter Sommer
(Jim Loach)

USA 2018, Dt. Titel: Measure of a Man - Ein fetter Sommer, Buch: David Searce, Lit. Vorlage: Robert Lipsyte, Kamera: Denson Baker, Schnitt: Dany Cooper, mit Blake Cooper (Bobby Marks), Donald Sutherland (Dr. Kahn), Danielle Rose Russele (Joanie), Judy Greer (Lenore Marks), Luke Wilson (Marty Marks), Liana Liberato (Michelle Marks), Beau Knapp (Willie Rumson), Luke Benward (Pete Marino), Sam Keeley (Jim Smith), Brian Faherty (Sheriff Rumson), 100 Min., Kinostart: 13. Juni 2019

Normalerweise bin ich darauf bedacht, Filme nicht kaputtzuspoilern, aber in diesem Fall ist eine Entwicklung des Film so prägend für den Film und meine ganze Herangehensweise an das Material, dass es mir wirklich schwer fällt, bestimmte Sachverhalte nicht konkret auszusprechen.

Beim Film handelt es sich laut Presseheft (eines der seltsamsten Pressehefte, die ich in meinem Leben je gesehen habe) um »eine bewegende coming of age Memoire« (da schüttelt es jeden, der nur ein wenig Respekt für die deutsche Sprache - oder Zugriff auf einen Duden - hat). Bei solchen Filmen gibt es oft eine Moral - oder zumindest eine Frage, die sich der Zuschauer während oder nach dem Film stellen kann, um das Gesehene zu verarbeiten.

Diese Frage kann in diesem Fall nur lauten: »Was sind die schlimmeren bullies...? A oder B?« Und anstelle der beiden Buchstaben folgen zwei Minderheiten der Bevölkerung, die man nicht unbedingt in solch einen direkten Vergleich setzen sollte, wenn man kein ausgeprägtes Vergnügen dabei empfindet, mit Anlauf in Fettnäpfchen zu treten. Zwar gibt es zwischen diesen Bevölkerungsgruppen auch eine Schnittmenge, aber sie ist nicht unbedingt naheliegend (wie etwas bei Holzfällern und Tischlern) und der Film macht auch nichts aus dieser provokanten Gegenüberstellung - außer beim Publikum alle Alarmglocken schellen zu lassen.

Ich warne an dieser Stelle: ich werde die beiden Minderheiten in diesem Text beide benennen, sie spielen eine unterschiedlich große Rolle im Film, die Analogie drängt sich aber auf, weil es im Film um zwei Personen und ihre Beziehung zueinander geht: um den 14jährigen übergewichtigen Bobby (Blake Cooper) und den zunächst sehr hartherzig gezeichneten Dr. Kahn (Donald Sutherland), um dessen Garten sich Bobby während seines Sommerurlaubs kümmern will.

Ich habe den Film gesehen, fand ihn auch nicht generell misslungen, aber die kaum versteckte Kernaussage des Films, über die zwei Arten von bullies, brachte mich derart auf, dass ich noch am Tag der Pressevorführung die Romanvorlage zum Film bestellte. Leider kam die mit etwas Verspätung und ich beendete das Buch erst am Tag, als der Film bereits seinen deutschen Starttermin hatte. Normalerweise hätte ich die Kritik auf Grundlage des »halb gelesenen« Buches erstellt, aber in der Startwoche hatte ich generell viel um die Ohren, und im Endeffekt bin ich sehr froh, dass ich das Buch zuende lesen konnte, weil gerade die letzten dreißig Seiten äußerst unterschiedlich von dem sind, was man im Film zu sehen bekommt.

Measure of a Man (Jim Loach)

© 2019 Kinostar Filmverleih GmbH

Ihr seht schon, es führt auf einen Vergleich von Buch und Film heraus. Der Film spielt im Jahr 1976, das Buch ist aus dem Jahr 1977. Aber: One Fat Summer von Robert Lipsyte spielt eigentlich im Jahr 1954, also zu einer komplett unterschiedlichen Zeit. Das sind schon Details, die dem durchschnittlichen Filmkritiker (oder Kinozuschauer) nicht automatisch zuteilkommen. Im Film gibt es eine prägnante Szene, in der Bobby von einigen größeren Jungen übel mitgespielt wird. Im Kern findet sich die Szene auch im Buch. Willie Rumson, nach dessen Vorfahren einst der Rumson Lake benannt wurde, ein idyllisches Feriengebiet, mag die Sommerurlauber nicht. Willie mag so gut wie niemanden nicht (doppelte Verneinung bringt einen gleich in einen angemessenen Sprachduktus), aber besonders auf diesen dicken kleinen Jungen, der ihm seiner Meinung nach den Gartenjob bei diesem alten Juden abgeluchst hat, kann er so gar nicht ertragen. Und deshalb »entführt« er Bobby zusammen mit einigen der Herumtreiber, mit denen er so die Gegend terrorisiert (es ist von Vorteil, wenn die örtlichen Ordnungshüter von Mitgliedern des Rumson-Clans durchdrungen sind), und setzt ihn auf einer Insel ab, nachdem er ihn noch um seine Kleidung gebracht hat.

So allein im nächtlichen Regen auf einer Insel festzuhängen, ist schon etwas traumatisierend, aber im Film ist es unübersehbar, dass der 1976er-Willie wohl John Boormans Deliverance (dt. Titel: Beim Sterben ist jeder der Erste, 1971, mit Burt Reynolds) gesehen hat - und die Szene, in der Ned Beatty von einigen Hinterwäldlern vergewaltigt, spielt Willie im Ansatz mit Bobby nach. Insbesondere das Filmzitat »Let me hear you oink, piggy!« scheint es ihm angetan zu haben.

Ich komme jetzt zum ersten Spoiler, aber wer bis hierhin mitgelesen hat, braucht jetzt auch nicht mehr die Scheuklappen hochzuziehen: Bobby erkennt zu einem späteren Zeitpunkt des Films, dass Willie und einer seiner guten Freunde sich offensichtlich sehr nahe stehen - und daraus wird eine ganz seltsame Wandschrank-Schwulen-Geschichte, die bei Willies Mobbing von Bobby eine wichtige Rolle spielt: denn jetzt weiß Bobby etwas, womit er Willie unter Druck setzen könnte. Macht er zwar nicht, aber man spürt, dass Willie sich jeden weiteren seiner Schritte etwas genauer überlegt.

Measure of a Man (Jim Loach)

© 2019 Kinostar Filmverleih GmbH

Kommen wir jetzt zu Dr. Kahn: nicht nur sein Name und sein Mercedes zeugen von seiner Herkunft. Nachdem er Bobby mit Drangsalierungen anderer Art (einen Juden zu einem Geizhals zu machen ist auch die cleverste aller Ideen, die man als Autor so haben kann) zu einem passablen Gärtner machte und der Junge zumindest im Roman einiges an Gewicht verlor (im Film fällt das eher sehr subtil aus und wird auch nicht durch konkrete Maßeinheiten verbalisiert wie im Buch), gibt er ihm auch einige Ratschläge, wie man mit bullies umgehen muss, um sich ihrem Einfluss zu entziehen. Selbiges macht übrigens auch der Vorzeigesportler Pete Marino, der mit Bobbys geringfügig älterer Schwester Michelle eine kleine Affäre hat.

Und an einem Punkt des Films sieht man dann eine Tätowierung auf Dr. Kahns Unterarm: seine persönlichen bullies waren offensichtlich die Nazis, aber irgendwie ist er ihnen entkommen...

Wie gesagt: Zwischen Nazis und heimlichen Schwulen gibt es eine Schnittmenge, die zumindest für einen Film von Rosa von Praunheim ausreichte. Aber was zum Henker hat sich Drehbuchautor David Searce (A Single Man) dabei gedacht, den Roman so umzudeuten???

Wo es eigentlich um die Entwicklung von Bobby geht (die Ersatzvater-Beziehung hat man auch für den Film dazuerfunden - wenn man schon Donald Sutherland besetzt, soll der ja auch was zu spielen haben!), hat man jetzt also dieses äußerst fragwürdige Statement darüber, wer alles so prädestiniert dafür ist, seine Leben damit zu bereichern, andere zu unterjochen und zu verängstigen. Ganz tolle Kiste! (Das war jetzt sarkastisch.)

Measure of a Man (Jim Loach)

© 2019 Kinostar Filmverleih GmbH

Naja, ich habe ja nach dem Film das Buch gelesen, weil es mich einfach interessiert hat, wie viel davon man schon in der Vorlage findet. Das Buch, laut Presseheft mehrfach ausgezeichnet, ist übrigens weniger durch den Autor bekannt, sondern durch eine Herausgeberin (den Namen habe ich mir nicht aufgeschrieben, nirgendwo auf oder im Buch steht er geschrieben - und ich habe eine Ausgabe von 2004), die dafür bekannt war, in ihren Büchern nicht immer nur die Erlebnisse vorbildlicher Knaben und Mädels beschreiben zu lassen. Irgendwo umschrieb man ihr damals fortschrittliches Vorgehen als »good books for bad children«.

Abgesehen von der unterschiedlichen Zeit, in der Buch und Film spielen, fällt auf, dass Bobby im Roman auch der Erzähler ist, er erzählt alles aus seiner Perspektive: Seine Gewichtsprobleme, seine Tagträume, seine Ansichten. Im Roman fällt Bobby etwa positiv dadurch auf, dass er Schwarzen gegenüber keine Vorurteile hat. Und er beschreibt auch die Bigotterie seiner Umwelt bei diesem Thema. Da gibt es zwei konkrete Szenen, die im Film ersatzlos gestrichen wurden, u.a., weil das halt 1976 nicht so ein wichtiges Thema war wie 1954.

Measure of a Man (Jim Loach)

© 2019 Kinostar Filmverleih GmbH

Die ganze Schwulenkiste ist im Roman nicht vorhanden, wenn man jetzt von der konkreten Handlung ausgeht. Keine aufgedeckte Affäre, keine gespielte Vergewaltigung. Aber: One fat summer, und nicht immer kann man den Entstehungszeitpunkt des Buches als alles erklärende Entschuldigung hervorkramen, hat echt ein Problem mit dem Thema Homosexualität. Das äußert sich in vielen Facetten: Bobby versteckt seinen übergewichtigen Körper, er beneidet andere Jungs um ihre wohlgestalteten, muskelbepackten Körper (auch, wenn er Fantasien davon hat, unsichtbar durch die Mädchenumkleide zu spazieren). Willie, der im Roman auch ein paar Freundinnen hat (die Bobby mit einer peinlichen Oberflächlichkeit oft auch mal auf Aknenarben etc. reduziert), scheint auch nicht besonders queer. Aber er unterscheidet in seinem Hass auf alle Minderheiten kaum zwischen Juden, »faggots« oder Amerikanern, deren Nachnamen vielleicht auf europäische Vorfahren schließen lassen (Pete Marino ist für ihn ein »guinea«, habe jetzt nicht extra das Slang-Lexikon bemüht, den Tonfall kann man auch so einordnen).

Und in einem Moment bemüht er einen Satz, der sich bei mir festsetzte. Zu Bobby sagt er nämlich außer »Your ass belongs to me« auch noch (Jobsituation im Hinterkopf behalten): »Your ass is grass, and I'm a lawnmower!« (habe das Zitat nicht wiedergefunden, aber ich glaube, er setzt da tatsächlich noch ein »faggot!« hintendran...)

Die schrecklichste aller Seiten im Buch ist aber Seite 84. Vielleicht inspirierte die auch den Drehbuchautor zur generellen Umdeutung und wenn man sich Mühe gibt, kann man das Ganze auch als einen Befreiungsschlag auslegen, aber für mich zementierte Folgendes auch einfach die Meinung, dass der Film zwar sehr fragwürdig ist bei manchen seiner Ideen (wie gesagt, im Kern fand ich ihn nicht komplett misslungen, aber der Nachgeschmack ist schon übel), aber das Buch, das übrigens auch gern als besonders fortschrittlich umschrieben wird, »seiner Zeit voraus« etc., ist hier und da auch zum Kotzen. Nun das längere Zitat:

»I really didn't enjoy listening to baseball games, but I never told to many people besides Joanie, who thought they were a big bore, too. Especially if you're a lousy player like me and have to pretend you're a big fan or the other guys call you a fag. All real men are supposed to love baseball. For a while I thought there was something wrong with me, not even liking baseball, but them I figured it this way: if all you have to do to prove to be a regular guy is pretend you like baseball, memorize some batting averages and argue that Joe DiMaggio is better than Ted Williams then it isn't a real test. I saw a war movie once were a German spy git away with his disguise for a long time because he knew the score of every World Series game ever played. All the real American soldiers thought he was a great guy. They finally caught him because he didn't know Legs Diamond was a gangster. He thought it was the nickname of a movie actress. Well, at least he wasn't a fag, just a phoney.«

Der Begriff »fag« (oder »faggot«) wird im Buch ein wenig entfernt von der Kernaussage »Homosexueller« benutzt, es gibt halt echte Männer und »fags«. Wenn man ein Nazi ist (oder German spy, same difference!), aber wenigstens kein »fag«, dann wird das sogar noch positiv herausgestellt? Wie gesagt, ich könnte kotzen. Und das ist die Identifikationsfigur, der Erzähler. In J.D. Salingers Catcher in the Rye, dem vielleicht besten young adult Buch, das in diese Kategorie »good books for bad children« reinpassen könnte, sind die phoneys das Schlimmste, was sich Holden Caulfield vorstellen kann. Authentizität ist das Wichtigste. Robert Lipsyte, der übrigens mehrere Bücher über junge Boxer schrieb, sieht das offensichtlich anders - und es gab und gibt irgendwelche kranken Geister, die ihn für solche Aussagen auch noch abfeiern?

Measure of a Man (Jim Loach)

© 2019 Kinostar Filmverleih GmbH

Der Film endet mit einer Szene, wo Bobby endlich vom Drei-Meter-Brett springt, ohne Angst davor, dass jemand seinen nicht perfekten Körper sehen kann. Im Buch wird diese Szene nur vorbereitet, Bobby weiß noch nicht genau, wann er dazu bereit sein wird. Aber kurz davor gibt er noch mal folgendes Statement ab:

»I had a dream that night. I was standing on the highboard. [...] Everybody was yelling for me to jump [...] I was scared, I didn't want to jump, but they kept screaming for me to jump, to show I was a man; if I didn't jump, I couldn't be a man, I'd be a fag all my life.«

Tut mir leid, aber das soll jetzt das vielgepriesene Lebensziel sein, das »measure of a man«? Da wirkt ja fast noch der unsympathische closet-Schwule Willie Rumson, der im Buch Bobby sogar mal mit einem Gewehr auflauert, vernünftiger.

Wie gesagt, das Wort »fag« wird im Buch eher wie »Weichei«, »Schattenparker« usw. benutzt (und ein Reisigbündel oder das Rohmaerial für eine Frikadelle heißen auf Englisch auch »faggot«), aber derart gequirlte schwulenfeindliche Scheiße sollte man mal aus den Büchereien entfernen, und nicht noch mit einer durch den bully-Vergleich ähnlich ärgerlichen Verfilmung beschenken.

Übrigens gibt es zwischen Buch und Film noch so einige Unterschiede (die Beziehung zwischen Bobby und seiner besten Freundin Joanie entwickelt sich im Buch weitaus weniger hollywoodtauglich) und der konkrete Vergleich ist durchaus oft interessant. Leider gewinnen dabei aber beide Werke nicht wirklich an Wert. Man sieht, wo der Drehbuchautor eine gute Idee hatte (wenn die beiden Kids sich immer mit vollem Namen ansprechen, wirkt dies sehr speziell und dadurch authentisch) oder wo eine gute Idee des Buchs verschenkt wurde (die finale Konfrontation und welche Rolle Pete Marino dabei spielt), aber dies würde einfach zu weit führen, weil ich davon ausgehen muss, dass vermutlich deutschlandweit vielleicht noch drei Personen existieren, die Buch und Film kennen - und ob eine(r) von denen ausgerechnet meinen Text liest, ist doch recht fraglich.